Nazi–Deutschland überzog Europa bis 1945 mit Mord und Terror. Nach
Gründung der Bundesrepublik wurden nur wenige Täter des NS-Regimes
strafrechtlich verurteilt. Juristische Taschenspieler-Tricks der Gerichte,
versteckte und verdeckte Gesetzesänderungen spielten bei dem offensichtlichen
Unwillen der jungen Bundesrepublik, die NS–Verbrechen aufzudecken und die
Täter der Verurteilung zuzuführen, eine entscheidende Rolle.
In den 50er Jahren suchte und fand die Strafjustiz mit großteils
abenteuerlichen Konstruktionen den Weg, den Mörder zum bloßen Mordgehilfen
zu erklären, damit dieser mit einer geringeren Strafe, wenn überhaupt,
belegt werden konnte. Das Landgericht in Hannover verurteilte z.B. einen
NS–Täter, der etliche Morde begangen hatte, als "Mord–Gehilfen". Die oben in
der Hierarchie Vorgesetzten, die die entsprechenden Befehle erteilt hatten,
verurteilte das Gericht als Anstifter. Ein absurdes Novum in der
Rechtsgeschichte: Es gab Ermordete, es gab Mordanstifter, und es gab
Mordgehilfen. Mörder jedoch gab es nach Auffassung dieses Gerichtes nicht.
In den Folgejahren setzte sich in der Urteilspraxis der Nachkriegsjustiz
fest, daß Täter regelmäßig nur die nicht mehr zu belangenden Herren Hitler,
Himmler & Co. seien. Die noch zu belangenden lebenden NS–Schergen seien
lediglich deren Gehilfen gewesen, da sie regelmäßig nicht mit eigenem
Täterwillen gehandelt hätten. Mit dieser ständigen Spruchpraxis (es
verbietet sich, hierfür den Begriff Rechtsprechung zu verwenden) war die
Bühne bereitet für die endgültige "kalte Amnestie" eines Großteils der
Mord–Schergen des NS–Regimes:
Im Jahre 1968 wurde dem Deutschen Bundestag ein Gesetzesentwurf der
Bundesregierung unterbreitet, der – wie üblich – bis ins Kleinste von der
entsprechenden Ministerialbürokratie vorbereitet worden war.
Es handelte sich um den Entwurf des Einführungsgesetzes zum
Ordnungswidrigkeitsgesetz. So mancher Abgeordnete des Deutschen Bundestages
mag tatsächlich der Meinung gewesen sein, hier würden ausschließlich
Rechtsgebiete der klassischen Ordnungswidrigkeiten wie
Geschwindigkeitsüberschreitungen und Falschparken behandelt. Weit gefehlt!
Versteckt in Art. 1 Nr. 6 des genannten Gesetzes war eine Änderung des
Strafgesetzbuches enthalten, die zu einer völligen und rückwirkenden
Straffreiheit eines Großteils der NS–Mordschergen führte. Das
Einführungsgesetz passierte ohne längere Debatte den Deutschen Bundestag und
trat am 1. Oktober 1968 in Kraft. Der besagte Art. 1 Nr. 6 fügte in das
Strafgesetzbuch den § 50 Abs. 2 ein. Danach war im Gegensatz zum vorherigen
Recht die Strafe zwingend zu mildern, wenn beim Teilnehmer bzw. Gehilfen
einer Straftat besondere persönliche Merkmale, die die Strafbarkeit beim
Täter begründen, fehlten.
Beim vorherigen Recht war zwar auch die Möglichkeit gegeben, die Strafe
des Gehilfen zu mindern. Dies war aber nicht zwingend. Die Strafdrohung war
für Mörder und Mordgehilfen gleich, nämlich lebenslänglich. Ab dem 1.
Oktober 1968 betrug nun die Höchststrafe für den Mordgehilfen, wenn dieser
nicht selbst aus niederen Beweggründen handelte, lediglich 15 Jahre. Dadurch
waren alle Taten der NS–Mordschergen, die nach der bisherigen ständigen
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes als lediglich Mordgehilfen galten,
rückwirkend ab dem 8. Mai 1960 verjährt. Kaum einem dieser Schergen war
nachzuweisen, daß er selbst aus niedrigen Beweggründen gehandelt hatte.
Verfolgbar blieben praktisch lediglich die Taten, bei denen die tatbezogenen
Mordmerkmale heimtückisch, grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln
vorlagen [Hierzu auch das SoundFile 'SS
in der Nachbarschaft', relevant ist die zweite Hälfte].
Verurteilt werden konnten mithin nur noch die letzten Glieder der
Befehlskette, die mit eigener Hand heimtückisch, grausam oder mit
gemeingefährlichen Mitteln getötet hatten als "Gehilfen" der Herren Hitler,
Himmler & Co. Die Planer und Strategen des Massenmordes konnten regelmäßig
nicht mehr verfolgt werden. Der Bundesgerichtshof schrieb dies bei der
Aufhebung eines Urteils des Schwurgerichtes in Kiel vom März 1968 fest. Das
Kieler Schwurgericht hatte einen Beamten des Judenreferats beim Kommandeur
der Polizei in Krakau verurteilt. Der Bundesgerichtshof führte zur
Begründung seiner Entscheidung, die die Verurteilung des Täters aufhob aus:
"Wie das Schwurgericht feststellt ...., wußte (der Angeklagte), daß die
Opfer allein aus Rassenhaß umgebracht wurden. Er hatte jedoch selbst nicht
diesen niedrigen Beweggrund, sondern gehorchte als Polizeibeamter und
SS-Angehöriger nur den Befehlen, obwohl er sie als verbrecherisch erkannt
hatte. Solche Beihilfe zum Mord ist nach der neuen Fassung des § 50 Abs. 2
StGB ... nur noch mit Zuchthaus von 3 bis 15 Jahren bedroht. Ihre Verfolgung
verjährt daher nach § 67 Abs. 1 StGB in 15 Jahren. Diese Frist war schon
verstrichen, als es wegen dieser Taten zu einer richterlichen Handlung gegen
den Angeklagten kam ... Das Verfahren ist daher einzustellen."
Joachim Kügler, Oberstaatsanwalt und Ankläger im Frankfurter
Auschwitz–Prozeß, brachte es auf den Punkt: "Es scheint als schütze der
Bundesgerichtshof einen Teil der Mörder".