UNGARN
Der Antisemitismus in Ungarn. Nur Polit - Folklore?
Von Magdalena Marsovszky
Da dem Hass erfüllten ungarischen Kulturkampf ein massiver Antisemitismus
zugrunde liegt, der jedes Mal wächst, wenn eine konservative Koalition das
Land regiert, muss ihm in dieser Arbeit auch breiter Raum gewährt werden.
In einen historischen Kontext gestellt kann das äußerst komplizierte
Gefüge des Antisemitismus von der Jahrhundertwende bis heute abgeleitet
werden.
Im halbfeudalen Agrarland Ungarn wurden zur Zeit der Monarchie die
traditionell schreibkundigen Juden als Modernisierer gebraucht, so dass
die Modernisierung zur gemeinsamen Aufgabe von Juden und Ungarn wurde. Die
Juden wiederum teilten das Nationalismusbestreben der Ungarn gegen die
Monarchie und assimilierten sich gerne, da ihnen die Assimilation eine Art
Gleichberechtigung bot und ihr Anderssein, besonders in den Städten,
weniger auffiel. So wurde die Assimilation der Juden und deren Teilnahme
an der Modernisierung nirgends in Europa so vorangetrieben wie in Ungarn.
Nach dem Ersten Weltkrieg änderte sich diese Situation. Wichtigster
Meilenstein, und für die kulturelle Entwicklung des Landes bis zum
heutigen Tag von grundlegender Bedeutung ist der erwähnte Friedensvertrag
von Trianon. Seit dieser Zeit wurde die wichtigste Frage der Politik, der
Kultur und des alltäglichen Lebens die Wiederherstellung des 'status quo
ante Trianon', die Revision der Grenzen von 1914. Auch der ungarische
Faschismus war bis zuletzt von der Ideologie des Revanchismus geleitet.
Da der Friedensvertrag von Trianon die Quelle einer allgemeinen Verstörung
wurde, nahm auch die irrationale Angst vor dem 'Tode der Nation' riesige
Ausmasse an. Es entwickelte sich eine Konzeption, in der die "reinrassige"
Kultur der Ungarn durch die Juden als gefährdet betrachtet wurde. Wegen
der Teilnahme von vielen Juden an der Revolution 1918/19 hat sich auch der
Begriff 'Judeobolschewik' in die konservative Denkweise eingeschlichen.
Nach dem Zerfall der Monarchie verschwand der liberale, eher tolerante
Nationalismus, und an seine Stelle trat ein radikaler und autoritärer, aus
Antisemitismus, Nationalismus, Revanchismus und aggressiver Christlichkeit
bestehender Konservativismus. Das Bild des Nationalstaates wurde von der
Konzeption des Volksnationalen abgelöst, die den authentischen,
ungarischen Charakter betonte. Gleichzeitig wurde der Liberalismus als
etwas Fremdes und Ursache allen Übels abgelehnt, die Konzeption des
ethnischen Nationalismus aufgestellt und der aufgrund einer geographischen
Eigenständigkeit entstandene und aus der spezifischen Geschichte des
Landes stammende, im Volk immanente spezifische Charakter betont. Zwischen
den volksnationalen Konservativen und den westlich orientierten
'Modernisierern' (bei denen ja traditionell viele Juden zu finden waren)
entwickelte sich bis in die 30er Jahre der bereits erwähnte 'Streit
zwischen Volksnationalen und Urbanen', an dem vor allem Literaten
teilnahmen. Die 'Urbanen' vertraten die Prinzipien der westlichen
Demokratien und des Kosmopolitismus, Prinzipien also, die jüdischen
Vorstellungen ähnlich sind. Man kann sie als intellektuell und nach den
europäischen Strömungen ausgerichtet bezeichnen, sie waren eher zu
Abstraktionen geneigt und am Individuum interessiert. Besonders viele
Juden mit bürgerlicher Bildung gehörten in diese Gruppe.
Intellektuell konnte der Streit jedoch nicht ausgetragen werden. Erstens
kam der Zweite Weltkrieg dazwischen, zweitens die realsozialistische
Diktatur, in der der gemeinsame Hass auf die fremden Besatzer die
Literaten in eine - wenn auch oberflächliche - Einheit, in eine gemeinsame
Opposition zwang. Nach dem Holocaust waren zwar im realsozialistischen
Ungarn sowohl der Nationalismus als auch der Antisemitismus offiziell
verpönt, so dass weder über den Antisemitismus noch über die Schuldfrage
gesprochen wurde, doch in der realsozialistischen Ideologie lebte der
Antisemitismus als Antikapitalismus weiter, die Kontinuität blieb also
erhalten.
So brach der Streit nach 1989, nachdem der gemeinsame Feind, die
Sowjetunion nicht mehr existierte, mit elementarer Kraft wieder auf.
Da der neue ungarische Konservatismus unterentwickelt war, nährte er sich
zu einem großen Teil von den Wertvorstellungen der dreißiger Jahre, was
den Aufschwung volksnationaler Ideen begünstigte und den damals zum Wesen
des Konservativismus' gehörenden Antisemitismus jetzt wieder aufnahm.
Wesentliches Moment des ungarischen Antisemitismus ist die These von der
so genannten "umgekehrten Assimilation", die besagt: Die Ungarn seien in
der eigenen Heimat inzwischen in der Minderheit, weil der Versuch der
jüdischen Liberalen, die ungarische Nation ihrem Stil und Denken
anzugleichen, weit gehend gelungen sei
.
Der erste, der die These der umgekehrten Assimilation nach der Wende
beschrieb, war der Dichter und Schriftsteller Sándor Csoóri, bis 2000
Präsident des Weltverbandes der Ungarn. Sein 1990 veröffentlichter Artikel
war der Anfang des Bruches im Kulturverständnis des Landes und der eines
trotzigen und verbitterten Schweigens zwischen dem rechten und dem linken
Flügel der ungarischen Intellektuellen. Csoóri schrieb 1990: "... Ich
müsste mich dafür schämen, dass ich ein Ungar bin. Ich müsste mich
schämen, aber nicht weil ich selbst so fühle, /.../ sondern aufgrund von
Außen aufgedrängten Einflüssen: "Was bedeutet, ein Ungar zu sein?" - hörte
ich die hochnäsige Frage selbst bei gebildeten Akademikern. "Und was
bedeutet Patriotismus? Was bedeuten Tränen? Was bedeutet die Hymne? /.../
Es leben viele im Lande /.../, die die ewigen ungarischen Klagelieder satt
haben: /.../ Trianon und die anderen Tausend Schläge. /.../ Es ist
sonderbar, doch solange man mit dem Ungartum auf natürlicher Weise eins
werden konnte - entweder durch Assimilation oder durch geistige
Angleichung -, hatten diese vererbten Wehwehchen nicht gestört /.../. Das
Judentum hatte z.B. nicht nur die Sprache, sondern auch die in der Sprache
verborgenen Schmerzen gelernt. Mit der Räterepublik, mit der Horthy-Ära
aber vor allem mit dem Holocaust wurde die Möglichkeit der
geistig-seelischen Verschmelzung aufgekündigt. /.../ Heutzutage ist es
immer deutlicher zu spüren, dass sich im Lande die Tendenzen einer
umgekehrten Assimilation zeigen: Das liberale Prinzipien repräsentierende
ungarische Judentum wünscht sich, das Ungartum im Stil und im Geiste zu
sich zu assimilieren"
.
1992 spricht István Csurka, damals noch Vizevorsitzender der
rechtskonservativen Partei der MDF (Magyar Demokrata Fórum - Ungarisches
Demokratisches Forum) in einem weiteren Grundsatzartikel das erste Mal
nach der Wende im Zusammenhang mit dem Antisemitismus bereits mit
nazistischem und faschistischem Vokabular vom "Lebensraum" für das
ungarische Volk und greift besonders die Juden an, die im Verbund mit der
alten Nomenklatur und der internationalen Finanz- und Bankenwelt zu den
ewigen Verschwörern gegen das Ungartum gehörten .
Dass Juden im eigenen Land schon kurz nach der Wende auch offiziell als
Fremde betrachtet werden, beschreibt z.B. Imre Kertész in seinem Buch
"Ich-ein anderer". Er schildert einen Vorfall in einer Konferenz der
Evangelischen Akademie Tutzing/ bei München "Deutsche und ungarische
Intellektuelle im Gespräch" im November 1993: "Eine verstörte Dame
empfängt mich mit seltsamen Nachrichten. Von zuständiger ungarischer Seite
sei verlautet, man halte die Liste der ungarischen Geladenen für
einseitig. Gegen mich wurde vorgebracht, ich schriebe nur über ein
einziges Thema (nämlich Auschwitz) und sei somit nicht repräsentativ für
das Land (nämlich Ungarn)."
.
Bis etwa 1996 hatten sich bereits von jedermann entzifferbare
antisemitische Codes wie "liberalbolschewik"
,
fest eingebürgert und wurden vom rechten Lager, zwischen 1994 und 1998 in
der Opposition, zielgerichtet eingesetzt
.
Die Stimmung war zwar zwischen 1994 und 1998 weniger explosiv, da damals
viele von jener urbanen Intelligenz an der Macht waren, die Sozialisten
und die Liberalen
,
die mit dem Problem eindeutig sensibler umzugehen wussten, und zudem
stellte den Kultusminister die liberale Partei der SZDSZ. Trotzdem wurde
inzwischen die Meinung, dass die Errichtung einer liberalen Demokratie in
Ungarn gleichzusetzen sei mit dem Versuch der jüdischen Liberalen, die
ungarische Nation ihrem Stil und Denken anzugleichen, fester Bestandteil
der Auseinandersetzungen.
Dass vor allem die Liberalen zum denunzierten Kreis der jüdischen
Nichtungarn gehören, sprach seit 1989 am deutlichsten der Leiter der
Partei der Kleinlandwirte, späterer Landwirtschaftsminister der
rechtskonservativen Orbán-Regierung und zeitweiliger Kandidat für das Amt
des Präsidenten Ungarns, Dr. Torgyán, unmissverständlich aus. Anlässlich
einer Demonstration im März 1996 nannte er vor Hunderttausenden das damals
als Koalitionspartner der Sozialisten regierende linksliberale, etwas grün
angehauchte Bündnis der Freien Demokraten, in dem besonders viele jüdische
Intellektuelle zu finden sind, "liberalbolschewik" und brachte sie in die
Nähe von "Ungeziefer", die beim Großputz im Frühjahr "zu vernichten" seien
.
Er sagte: "Scheinliberale, ekelhaftes Ungeziefer und Aasgeier plagen
unsere Heimat. /.../ Während das Ungeziefer dieses von Trianon
verstümmelte und aus tausend Wunden blutende Land von Innen zerfressen,
zerreißen und zerfetzen die Aasgeier von Außen den edlen Corpus unseres
süßen Landes. /.../ Ungarn gehört nicht den Liberalen, sondern den Ungarn.
/.../ Schwören Sie mit mir, dass wir das Ungartum verteidigen /und/ das
Ungartum wieder zusammenführen. /.../ Der Frühling naht. /.../ Um diese
Zeit geht ein Ungar immer an das Vernichten der Ungezieferplage."
"Liberalbolschewik", "liberal" oder auch nur der Begriff "Großputz im
Frühjahr" sind seitdem für jedermann geläufige antisemitische Codes in
Ungarn. Der Schriftsteller
Mihály Kornis zählt 1996 eine ganze Reihe antisemitischer Codes auf: "Uns
('die nationfeindlichen Kräfte', die 'Urbanen', die 'Liberalbolschewiken',
die 'Kosmopoliten', die 'Enkel Aczéls'
,
den 'harten Kern der Judeo-Plutokraten', die 'das Land ausverkaufen', die
'Standesamt-Günstlinge: Schein-Ungarn', 'den harten, in den nationalen
Corpus eingedrungenen Kern der internationalen Maffia', die 'infolge einer
Wahlkatastrophe die Schlüsselpositionen des wirtschaftlichen und
kulturellen Lebens besetzten') müsste man kaltstellen (siehe 'von der
Ungezieferplage befreien'), 'hinausfegen', zuerst von der
'Macht-Struktur', und dann ... dann werden wir weitersehen. /.../ Die
ganze Art, wie man unter dem Vorwand des Ausdrucks des 'Nationalen'
Sündenböcke macht, das in einer leicht decodierbaren Geheimsprache
erfolgte 'Kosmo-Politisieren' ist, inmitten von Europa, gewürzt mit
Anschlägen auf Synagogen und auf jüdische Friedhöfe, ein Weltskandal."
1997 definiert Imre Kertész, was es nach seiner Meinung heißt, ein Ungar
zu sein: "Die an einem Vaterkomplex leidende, sadomasochistisch perverse
osteuropäische Kleinstaatenseele kann, wie es scheint, nicht ohne den
großen Unterdrücker leben, auf den sie ihr historisches Missgeschick
abwälzt, und nicht ohne Sündenbock der Minderheiten, an dem sie all den
Hass und all das Ressentiment, das der tagtägliche Frust erzeugt,
abreagiert. Wie soll einer, der permanent mit seiner spezifisch
ungarischen Identität beschäftigt ist, ohne Antisemitismus zu einer
Identität gelangen? Was aber ist das ungarische Spezifikum? Zugespitzt
formuliert, lässt es sich nur durch negative Charakteristika bestimmen,
deren einfachstes - redet man nicht um die Sache herum - so lautet:
Ungarisch ist, was nicht jüdisch ist. Nun gut, was aber ist jüdisch? Das
ist doch klar: was nicht ungarisch ist. Jude ist der, über den man in der
Mehrzahl reden kann, der ist, wie die Juden im allgemeinen sind, dessen
Kennzeichen sich in einem Kompendium zusammenfassen lassen wie die einer
nicht allzu komplizierten Tierrasse (dabei denke ich natürlich an ein
schädliches Tier, das - schiere Irreführung - ein seidiges Fell hat) usw.;
und da "Jude" im Ungarischen zum Schimpfwort geworden ist, macht der als
Kollaborateur ehrenhaft ergraute politische Redner und schnell gebackene
Ungar einen Bogen um den heißen Brei und benutzt das Wort "Fremder" - doch
weiß jedermann, wer gegebenenfalls seiner Rechte beraubt, gebrandmarkt,
geplündert und totgeschlagen wird."
Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass im Jahr 1998,
nachdem Viktor Orbán und seine rechtskonservative Regierung an die Macht
kamen, die bis dahin geleisteten Vorbereitungen für die Frankfurter
Buchmesse "überprüft" und die "einseitige Auswahl" der Literaten, die in
Frankfurt Ungarn und die ungarische Literatur vertreten sollten,
korrigiert und ergänzt wurde
.
Die Auswahl der Autoren für die Buchmesse sei deshalb "zu einseitig" und
"nicht wirklich ungarisch", weil die entsandten Kräfte der
Auslandskulturinstitutionen, die in der Anfangsphase die Buchmesse noch im
Auftrag der sozialistisch-liberalen Regierungskoalition organisierten, nur
den "einseitigen Budapester liberalen Geist"
und
ihm nahe stehenden Schriftsteller bevorzugt hätten. Auf den Punkt bringt
es der Chef der rechtsradikalen ‚Partei für Ungarische Gerechtigkeit und
Leben', seit 1998 das erste Mal im Parlament vertreten, István Csurka: "Im
Namen Ungarns erscheint in Frankfurt die Budapester jüdische Literatur"
.
In dem Jahr, in dem die Vorbereitungen zur Frankfurter Buchmesse
stattfanden, schlugen die Wellen der antisemitischen Hetzkampagne
besonders hoch.
Der in Berlin lebende ungarische Schriftsteller György Dalos, Initiator
und Hauptorganisator des Schwerpunktthemas und bis zum Sommer 1999 Leiter
des Hauses Ungarn in Berlin, äußerte sich folgendermaßen zum Konflikt:
"Es war die Fortsetzung der früheren Auseinandersetzung mit anderen
Mitteln. Es gab die eigentlich fast in jedem Land normale
Auseinandersetzung, ob die Auswahl wirklich gut ist, und diejenigen, die
nicht in der Auswahl waren, die fanden natürlich diese Auswahl schlechter
als diejenigen denen es gelungen ist, ausgewählt zu werden. Das ist aber
eine Jurybanalität. Nun, das große Problem begann dann, als die Fehler der
früheren Kulturregierung und die chaotischen Zustände in der Organisation
dazu führten, dass die neue Regierung begann - wie immer - Ordnung zu
machen. Und in diese Ordnungsmacherei kamen bestimmte ideologische
Akzente, die nicht direkt mit der Frankfurter Buchmesse zusammenhingen,
sondern mit Ungarn. /.../ Das ist ein eher atmosphärischer Umstand. Diese
Atmosphäre führte dann dazu, dass all die Energien, die Enttäuschungen und
Frustrationen angesichts der bereits schon damals absehbaren Proporzen in
Frankfurt sichtbar waren, dass diese Unzufriedenheit politische Formen zu
erhalten schien.
Nun ideologisch wurde diese Geschichte aufgrund von ziemlich bewusst
gestarteten rechtsradikalen Propaganda in der Wochenschrift von István
Csurka, "Ungarisches Forum", und der anderen rechten Wochenschrift, der
nationalradikalen "Demokrata". Das sind Blätter, die sich darauf
spezialisieren, wöchentlich die so genannten kosmopolitischen Medien und
Autoren anzugreifen, und in diesen Angriffen gibt es absolut
unmissverständliche antisemitische Töne. Manchmal nicht einmal kaschierte,
manchmal in der Art des feigen Nach-Holocaust-Antisemitismus'. Und dann
kam eine parlamentarische Interpellation, in diesem Falle gegen mich, weil
ich der einzige war, der aus dem ursprünglichen Team geblieben war. Man
forderte meine Absetzung, weil ich angeblich das staatliche Geld mit der
liberalen Partei und mit mir aufgeteilt habe. /.../ Es war einfach eine
Insinuation, mit dem politischen Hintergrund, dass also die so genannten
richtigen nationalen Autoren ausgegrenzt werden. Und wie der neue
Antisemitismus sich bei diesen Menschen, bei diesen Abgeordneten äußert,
er verglich die Tatsache, dass manche Autoren nicht in Frankfurt mit
Büchern erscheinen können, mit der Bücherverbrennung der Nazis."
Am 21. März 1999 wurde dann im öffentlich-rechtlichen Kossuth Rádió in der
Hetzsendung "Sonntagsmagazin", nach eigener Aussage die Lieblingssendung
von Viktor Orbán
,
ein Interview mit István Csurka ausgestrahlt, das in die Reihe der
Grundsatzdefinitionen gehört, weil hier das erste Mal sichtbar wird, dass
das Ziel der Hetzkampagne nicht nur die Juden selbst sind:
"Die aus der Exekutive herausgefallene Ungarische Sozialistische Partei
besteht aus Leuten, die in gerader Linie von den Sowjetkumpanen, den
Henkern, den die Menschen niedermetzelnden Schlächtern, also von denen
abstammen, die das Ungartum zerstören. Ich forderte am 15. März das
feiernde Publikum auf, mit uns zusammen dafür zu sorgen, dass die
Sozialisten nie mehr an die Macht zurückkehren können /.../. Aus dem Buch
'Gegen das Schicksal' von Dezsö Szabó
zitierte
ich die Passage, in der über den internationalen Menschen gesprochen wird,
über den Menschen, der weder ein Franzose, noch ein Ungar, weder ein
Deutscher noch ein Engländer ist, der ein nichts ist. /.../ Der
internationale Mensch ist der verlängerte Arm der Globalisierung, und es
ist /.../ sein Bedürfnis, die Nation zu zerstören. Doch diese Definition
als einen Angriff gegen eine Gruppe von Menschen zu deuten, wäre natürlich
ein riesiges Missverständnis /.../, denn ich sage: Es ist keine Frage der
Abstammung, wie man zum internationalen Menschen wird, es ist eine Frage
der Entartung. Der Rundfunk wird heute leider vom Geist Peter Agárdis
beherrscht. /.../ Dieser verehrte Herr /.../ war über Jahrzehnte hindurch
eine Figur der Parteizentrale /.../, und jetzt ist er der Präsident des
Rundfunkkuratoriums, natürlich in den Farben der Ungarischen
Sozialistischen Partei. Er setzt seine Arbeit dort fort, wo er aufgehört
hat, mit Demoralisierung und Zerstörung. Als internationaler Mensch will
er aus dem ungarischen Rundfunk einen internationalen Rundfunk
machen./.../ Dies kann dem Ungartum nur Schaden zufügen ..."
Zum Gesamtkunstwerk abgerundet wurde das Interview mit der symphonischen
Dichtung 'Les Preludes' von Franz Liszt, einer Musik, die bekanntlich im
Zweiten Weltkrieg als musikalisches Signal der Sonderberichte des
Oberkommandos der Wehrmacht in den Kinos gespielt wurde.
Neues Element im Interview ist die namentliche Nennung der angegriffenen
Person, man spricht nicht mehr "durch die Blume", sondern wird konkret.
Der Begriff 'internationaler Mensch' kann heute als 'Fremder allgemein'
und als 'Jude' decodiert werden, da sie der von Csurka zitierte Autor auch
in diesem Sinne benutzt
.
Neu in Csurkas Rede ist weiterhin der Begriff "Entartung", das ihm
einerseits erlaubt, über die Juden als über eine Menschenrasse zu sprechen
und andererseits den Kreis derjenigen zu erweitern, gegen die er vorgehen
will: er meint nicht nur die Liberalen (Juden) selbst, sondern auch deren
politischen Kreis, nämlich vor allem die Sozialisten. Sie werden
beschuldigt, von den "Sowjetkumpanen" abzustammen, mit dem jüdischen Geist
den ungarischen Geist zu demoralisieren und zu zerstören, aus dem
ungarischen einen internationalen, d.h. einen jüdisch-globalisierten
Rundfunk bzw. Kultur zu machen und so dem Ungartum Schaden zufügen zu
wollen. Dem Begriff
"Entartung" entsprechend ist es heute letzten Endes vollkommen egal, ob
Juden (codiert: Liberale) in der Kultur, Kulturpolitik oder in den Medien
überrepräsentiert sind, wie dies von konservativer Seite immer wieder
behauptet wird. Als ‚jüdisch' (oder ‚liberal') beschimpft wird im
Allgemeinen die Intelligenz, die mit dem linken Parteienspektrum
sympathisiert, auch wenn sie bekanntlich nicht jüdisch ist, so z.B. der
Schriftsteller Péter Esterházy oder der ehemalige Staatspräsident und
Schriftsteller Árpád Göncz. Die heutige - in Ungarn durchaus lebendige -
assoziative Nähe der Begriffe ‚liberale Intelligenz', d.h. ‚gebildet' und
‚jüdisch' geht auf die historische Tatsache zurück, dass in der Monarchie
des 19. Jahrhunderts die ‚Veredelung der Israeliten', bzw. die ‚Bildung'
Voraussetzung für die kulturelle Assimilation, für die Verbürgerlichung
und somit für die Emanzipation der Juden war
Mit dem heutigen Begriff "Globalisierung" spannt Csurka in seinem
Interview den Bogen in die Gegenwart. Er ist wie die Konservativen im
Lande der Meinung, die Sozialisten und die Liberalen hätten die Tore für
den westlichen Markt in der Kultur geöffnet. Sie seien internationale
Menschen, die den Weg in Ungarn für die Globalisierung frei machten und so
die Nation bzw. das Ungartum zerstörten. Denn im Gegensatz zur Diktatur
ginge heute die größte Gefahr vom westlichen Kapital aus. Die heutige
Macht von Coca-Cola, - Sinnbild des "alles vom Tisch fegenden Terrors aus
der Kraft des Kapitals" - wird mit der früheren Macht von Stalin
verglichen
,
und es wird beklagt, dass zusammen mit dem Einzug der Marktwirtschaft auch
eine Art Kulturkolonialismus durch den Westen stattfände
,
zumal die neuen, mit westlichem Kapital errichteten Einkaufszentren im
Umland von Budapest die Hauptstadt heute genauso belagerten wie vor
zweiundvierzig Jahren die sowjetischen Panzer
.
Es hätte noch immer kein richtiger Systemwechsel stattgefunden und alle
wichtigen Positionen würden eigentlich noch immer die sog.
Postkommunisten, d.h. die Sozialisten besetzt halten (die ja nach Csurkas
Deutung selbst den jüdischen Geist verkörpern). Die Ungarn seien von einer
Unterdrückung in die andere gefallen und auf die sozialistische
Internationalisierung würde die kapitalistische Internationalisierung
folgen. So sei Ungarn praktisch eine Kolonie geblieben, nur mit anderem
Vorzeichen. Die sozialistische Kulturglobalisierung würde von der
kapitalistischen abgelöst, und als Folge würden die Ungarn nach und nach
verschwinden, die Ungarn blieben eine Minderheit im eigenen Land.
Ausdruck dieses - es muss so formuliert werden - ‚nationalen Narzissmus'
ist auch der Begriff "Nationalsozialismus", der jedoch mit einem
umgekehrten Vorzeichen die Ausgrenzung der Ungarn aus der eigenen Kultur
meint
,
oder der Begriff "heutiger ungarischer Genozid"
,
für das auch die eigenen Journalisten und Schriftsteller mitverantwortlich
seien, weil sie die eigene Heimat im Ausland als antisemitisch
denunzierten.
Dahinter verbirgt sich die - durchaus verständliche - ungarische Neurose,
die aus der Lage eines Landes resultiert, das auf der "Verliererseite der
Geschichte" noch immer mit dem Fiebertraum des Verschwindens seiner
nationalen Existenz kämpft. Infolge der permanenten Unterdrückung durch
die Osmanen, das Habsburgerreich und die Sowjetunion hatte die ungarische
Nation bis heute kaum Zeit, zu sich zu finden. Und jetzt soll sie sogar
bald in Europa aufgehen. Dass
das sog. Trianon-Syndrom auch heute allgegenwärtig ist, zeigen
Formulierungen wie z.B. "Ungarn sei das einzige Land der Welt, dessen
Grenzen seine eigenen Gebiete sind" vom ehemaligen
Landwirtschaftsminister, Dr. Torgyán, die auch von anderen führenden
Politikern der rechtskonservativen Parteien übernommen wird
.
Und dass das Trianon-Syndrom auch heute mit dem Antisemitismus
zusammenhängt, zeigt ein geistvoll-schmerzlicher Satz in einer Zeitung,
bezogen auf das jüdisches Ritual der Beschneidung: "In Trianon wurde
unsere Heimat regelrecht beschnitten"
Die gegenwärtig in einer rechtskonservativen Koalition regierenden
Parteien achten dabei selbst peinlich darauf, nicht als Antisemiten
abgestempelt werden zu können, doch die Codierungen übernehmen auch sie
.
Vor allem aber grenzen sie sich den Rechtsextremen gegenüber überhaupt
nicht ab .
So erscheint immer wieder ein Minister,
erscheinen regelmäßig Staatssekretäre auf Titelfotos von Zeitschriften
oder als Schirmherren von Konferenzen, in denen unmissverständlich
antisemitische Codierungen vorkommen
,
oder es werden z.B. Programmvorhaben für die Millenniumsfeierlichkeiten
finanziert, die vom rechtsradikalen Führer, István Csurka stammen
.
Der ungarische Rechtskonservatismus richtet sich also nicht nur gegen den
"Osten" gegen die vermeintlichen Bolschewiken, sondern auch gegen den
Westen und Europa, von dem ja die Globalisierung und die kulturelle
Kolonisierung ausgehe und gegen die "inneren Feinde", die Liberalen und
die Sozialisten. Diese aber machen etwa die Hälfte des Landes aus, so dass
eigentlich die eine Hälfte des Landes mit der anderen Hälfte im geistigen
Krieg steht.
Trauriger Abschluss der Vorbereitungen für die Buchmesse bedeutete der
Artikel "Die Frankfurter Tyrannei" von István Csurka, der die Frankfurter
Buchmesse mit dem Ungarnschwerpunkt den "Holocaust der ungarischen
Literatur" nannte
.
Die rechtskonservative Regierungskoalition Viktor Orbáns zeigt vielfach
rechtsradikale Züge, ja eine der neuesten Relativierungen des Holocaust
stammt von der Regierungsberaterin Maria Schmidt:
"Im Zweiten Weltkrieg ging es nicht um das Judentum, um den Völkermord. So
leid es uns auch tut: Der Holocaust, die Ausrottung oder Rettung des
Judentums war ein nebensächlicher, sozusagen marginaler Gesichtspunkt, der
bei keinem der Gegner das Kriegsziel war. /.../ Es muss auch festgehalten
werden, dass die Alliierten Nazi-Deutschland auf keinen Fall deshalb den
Krieg erklärt hatten, um die geplante völkermörderische Politik gegen die
Juden zu verhindern. Sie hatten weder vor, die Vertriebenen aufzunehmen,
noch sie zu schützen. Daher ist für sie nichts Außergewöhnliches, mit
anderen Worten Unikates, passiert. In unserem Jahrhundert /.../ ist ja
eine ganze Reihe von Massenmorden und Genoziden passiert, wobei diese von
der Außenwelt mit oder ohne Anteilnahme aber bewusst wahrgenommen wurden.
Ebenso wusste die Welt - jedenfalls die Interessierten oder die
Betroffenen -, was seit der bolschewistischen Revolution in dem die Neue
Welt verheißenden sozialistischen Russland, Sowjet-Russland bzw. in der
Sowjetunion passierte. Die kommunistischen Regime haben im Interesse der
Festigung ihrer Herrschaft die Massenmorde zur wirklichen
Regierungsmethode erhoben."
Der bekannte Philosoph und Publizist Miklós Tamás Gáspár reagierte einige
Tage später folgendermaßen:
"Schmidt ist keine unabhängige Forscherin, sondern eine amtliche Person.
Ihr Vortrag war nicht etwa auf der Sitzung einer kompetenten,
wissenschaftlichen Gesellschaft zu hören, sondern an der nach einem
rassistischen Politiker benannten "politischen Akademie" einer in vieler
Hinsicht rechtsextremen Partei - einer Regierungspartei! Schmidt bemühte
sich in ihrer bisherigen wissenschaftlichen, publizistischen Tätigkeit,
für die Juden immer nachteilige Konsequenzen abzuleiten: darin hatte sie
teils Recht teils Unrecht, doch die Tendenz ist unverkennbar. Zahlreiche
Mitglieder im politischen Umfeld Schmidts /.../ betreiben eine
rechtsextremistische propagandistische Tätigkeit, ohne dass sie dafür von
ihren Vorgesetzten gerügt würden. Dieser Kreis um den Ministerpräsidenten
herum rehabilitiert regelmäßig /.../ solche Personen, die die Judengesetze
eingeführt und unterstützt hatten und Personen, die Initiatoren des mit
Hitler zusammen geführten Angriffskrieges waren (er tut dies parallel zu
den Kampagnen der offen rassistischen rechtsextremistischen Partei - heute
ein halboffizieller Regierungsverbündeter), /.../ er setzt Neonazis in die
sorgfältig entjudeten Schlüsselpositionen der öffentlich-rechtlichen
Medien, erteilt der neofaschistischen Wochenzeitschrift - durch einen
Ministerialerlass - eine staatliche Apanage usw. /.../ Im
mitteleuropäischen Judentum sind nur noch die ungarischen Juden unter uns,
vor allem in Budapest - das sind die Nachkommen des überlebenden
Sechstels, die durch einen militärstrategischen Zufall am Leben blieben,
plus einige der Überlebenden. Im Gegensatz zu Deutschland, Österreich,
Polen und Rumänien hat der Antisemitismus hierzulande eine konkrete,
aktuelle, politische Bedeutung /.../. Es ist nicht zu leugnen, dass die
offiziellen Elemente des Regierungslagers ununterbrochen judenfeindliche
Zeichen aussenden. /.../ Nicht nur das vorläufig externe
Regierungsmitglied, Parteichef Csurka, sondern auch Beamte des
Kanzleramtes /.../ reden und handeln so wie Jörg Haider. Ihr Reden und
Handeln übertrifft jedoch nicht nur, was Jörg Haider sagt, sondern auch,
was Jörg Haider nur denkt."
Das geistige Leben des Landes ist also bis 1999 bereits durch faschistoide
Ideologien durchwoben, wobei diese nicht am Stammtisch, sondern eben bei
einem Teil der Intelligenz entstehen, teilweise durch die Medien
verbreitet werden und auch im Parlament zu finden sind
.
Tatsächlich wird auch der Versuch unternommen, einige historisch belastete
Personen der ungarischen Geschichte zu rehabilitieren
,
wie es im zitierten Artikel der Regierungsberaterin vorgeworfen wird, doch
noch grundlegender scheint die Zielrichtung der politischen und
kulturpolitischen Handlungen der Orbán-Regierung zu sein, die durch die
Frage bestimmt werden, wie durch die Kultur das innerhalb und außerhalb
der ungarischen Gebiete lebenden Ungarn miteinander vereint werden können
und wie eine gemeinsame Identität geschaffen werden kann. Viele sehen
daher die kulturelle Zukunft des Landes in der geistigen Erneuerung aller
Ungarn, also auch derer, die in den vortrianonischen Gebieten leben. Das
ist so etwas wie ein geistiger Revanchismus für das angestrebte Ideal des
ehemaligen großen Nationalstaates Ungarn, den es eigentlich seit dem
Mittelalter nicht mehr gegeben hat. Das von der Orbán-Regierung
geschaffene und im Kanzleramt eingerichtete neue Amt, die
"Landesimagezentrale"
wird auch nicht müde, die
Zusammengehörigkeit und die Größe des ungarischen Volkes zu betonen und
diese in Slogans in den Medien zu verbreiten
.
Das Ergebnis der Bemühungen mündet in eine Art säkularisierter Religion,
in einem Kulturnationalismus mit faschistoiden Zügen.
Wurde in den letzten Jahrzehnten die Identität durch die Opferhaltung,
also durch den über die Jahrhunderte entstandenen Mechanismus der
Identifikation über Feindbildkonstruktionen und über den verhassten
fremden Unterdrücker definiert, gegen den man sich "wehren muss", so ist
ab 1999 ein leichter Wandel zu beobachten. Mit der Konzeption des
ethnischen Kulturnationalismus der "reinen" ungarischen Kultur wird immer
mehr auch der dem Volk immanente organische, spezifische Charakter, die
Einzigartigkeit, ja sogar die Auserwähltheit des ungarischen Volkes
betont.
Diese Tendenz unterstützt eine um die Jahreswende 1999/2000
veröffentlichte Artikelreihe eines Rechtsanwalts, in dem u.a. Folgendes
steht:
"Während die DNS der menschlichen Rasse innerhalb einer gegebenen Länge
zwei bis drei Drehungen aufweist, weist die der ungarischen Rasse neun
Drehungen auf /.../, was wiederum mit der Drehzahl des vom Planet Sirius
auf die Erde kommenden Lichtes identisch ist. Aus dieser Tatsache
resultiert der kosmische Ursprung der ungarischen Intelligenz, der
ungarischen Seele und des ungarischen Geistes und darauf geht die
Auserwählung des ungarischen Volkes zurück".
Dr. László Grespik betonte zwar, er hätte seine Thesen zur neuesten
ungarischen Kulturgeschichte sozusagen als Hobbyforscher, ausschließlich
als Privatmann verfasst, doch immerhin erschienen sie in einer der
Regierung nahe stehenden rechtsradikalen Zeitschrift namens "Ungarischer
Demokrat"
,
und er ist vier Monate später als Staatssekretär zum Chef der obersten
Stadtverwaltungsbehörde ernannt worden. In seiner Funktion ist er befugt,
die Immobilien-Kaufverträge von Ausländern in Budapest zu überprüfen und
notfalls ihre Genehmigung zurückzuziehen, wenn sie nach seiner Meinung für
die Allgemeinheit schädlich sind
.
Diese Maßnahmen richten sich eindeutig gegen eventuelle Einwanderer oder
Kaufinteressenten aus dem Westen und aus Israel und sind als Teil der
rechtsradikalen Antiglobalisierungsbewegung zu betrachten, die meistens
mit dem Code "Tel-Aviv - New York - Brüssel Achse", als Synonym für die
jüdisch-westlich-globalisierte Weltverschwörung gegen Ungarn abgedeckt
wird
.
Dieses Kürzel gibt die schon beschriebene weit verbreitete konservative
Auffassung wieder, wonach die sozialistische Kulturglobalisierung von der
kapitalistischen abgelöst worden sei, der ungarische Geist werde
demoralisiert und zerstört, und aus der ungarischen werde mit Hilfe der
"inneren Verräter", den "Liberalbolschewiken" (d.h. Juden) - eine
internationale, d.h. eine "jüdisch-globalisierte" Kultur. So wie "Trianon"
ein alltägliches Thema in den Medien ist, so wird auch die allgemeine
Angst geschürt, fremde Mächte würden versuchen, die ungarische Kultur und
damit die Ungarn ihrem Stil und Denken anzugleichen, weshalb sie
verteidigt werden müsse. Dabei ähnelt die Rhetorik der der dreißiger Jahre
gespenstisch. Die eindeutig antiwestliche Stimmung verleitete auch den
Ministerpräsidenten Orbán im Sommer 2001 zu folgender Aussage: "Dieser
österreichischen Wirtschaft, die hier läuft, muss ein Ende gesetzt werden.
Jeder österreichische Bauer, der in Ungarn Grundstücke gekauft hat, soll
sich freuen, wenn er dies heil übersteht"
.
Hier ist ein Prozess zu beobachten, wie der antisemitische
Kulturnationalismus über die Betonung der Größe des ungarischen Volkes und
als Teil der Antiglobalisierungsbewegung gepaart mit allgemeinem
Fremdenhass Eingang in die Verwaltung bekommt. War der Antisemitismus bis
dahin vor allem Bestandteil des Bereiches der Kultur und der Medien, ist
er jetzt bereits auch in der Verwaltung institutionalisiert.
Unterstützt wird die Regierung von der rechtsradikalen Partei MIÉP, seit
1998 das erste Mal - offiziell als Opposition, doch nach eigener Aussage
als "Opposition der Opposition"
-
im Parlament vertreten. Böse Zungen werfen der Regierung vor, in der
rechtsradikalen Partei ein ideales Sprachrohr gefunden zu haben, denn
diese würde alles aussprechen, was sich die Regierung - die sich EU-Regeln
verpflichtet fühle - nicht leisten könne.
Antisemitische Hetze ist inzwischen überall möglich, angefangen vom
Fußballplatz, wo die vermeintliche ‚jüdische' Fußballmannschaft als
"dreckige Juden" beschimpft und im Stadion "der Zug startet nach
Auschwitz" bzw. "Wohin startet der Zug?"
skandiert werden kann , ohne
dass das Spiel abgebrochen wird, und die Justizministerin hinterher die
Geschehnisse mit dem Satz abtut, sie verstehe nichts vom Fußball
,
über die Herausgabe und den Vertrieb antisemitischer Literatur
,
bis hin zum Vertrieb revisionistischer Lieder mit finanzieller
Unterstützung des Jugendministeriums
und bis hin zum kirchlichen
Rundbrief, in dem im Hinblick auf die Wahlen im Frühjahr 2002 folgende
Gebetsformulierung steht:
"Rette unsere Nation vom egoistischen, nur auf sich selbst bauende
ultraliberale Denkweise und gib uns Dir ergebene und auf Deine Hilfe
bauende Führer".
Gegen die für jedermann entzifferbare Bedeutung des Wortes 'christlich'
als 'nicht Jude' setzen weder die Regierung noch die Kirche ein
eindeutiges Zeichen, im Gegenteil. Ein Teil der Kirche unterstützt sogar
vorbehaltlos die rechtsradikale Partei für Ungarische Gerechtigkeit und
Leben, MIÈP .
Der heutige ungarische Nationalismus richtet sich zu einem großen Teil
gegen die linksliberale Hauptstadt Budapest und wird als Gegensatz
'Provinz contra Stadt' ausgespielt .
Wichtiger Aspekt des Kulturkampfes ist also der Kampf des übrigen Landes
gegen die Hauptstadt Budapest. So wie die Schriftsteller der völkischen
Richtung in den 30er Jahren mit den Mitteln der völkischen Ideologie die
Stadt angriffen und sie als die Quelle jeglicher Korruption in der edlen
Agrargesellschaft Ungarns verurteilten
,
so ist auch der heutige ungarische Nationalismus mit einer Art
Bauernromantik und Stadtfeindlichkeit verbunden. Der Antisemitismus wird
deshalb hier am offensichtlichsten, weil in Budapest tatsächlich
Ostmitteleuropas größte - übrigens weitestgehend assimilierte - jüdische
Bevölkerung lebt, die von der Vernichtungsmaschinerie im Zweiten Weltkrieg
nicht mehr richtig erreicht wurde
.
Solange sich die Regierung nach rechts offen zeigt, spielt dieser Aspekt -
wenn auch unausgesprochen - in ihren Attacken gegen Budapest weiterhin
eine Rolle.
Da Budapest eine linksliberale kommunale Administration hat, fällt der
Kampf der rechtskonservativen Regierung gegen die linksliberale Hauptstadt
Budapest
hier am deutlichsten mit dem Kampf der Volksnationalen gegen die Juden
zusammen.
Auch die öffentlich-rechtlichen Medien fallen mit ihrer antisemitischen
Hetze auf
.
Der Widerstand regt sich zwar ,
doch er wird immer schwieriger. "Das hier kann man durchaus Weimar
nennen", schrieb Ende 2000 der bereits erwähnte Philosoph Miklos Tamás
Gáspár
.
Kritische Meinungen werden vom Tisch gefegt, und oppositionelle Kritiker -
meistens codiert, mit den Synonymen für "jüdisch" - als
'Liberalbolschewiken', 'Kosmopoliten', ‚Schein-Ungarn' oder einfach als
‚seelisch fremd' beschimpft und als Verräter in den Medien namentlich
genannt
.
Versuchen sich diese gegen die "öffentlich-rechtliche Judenhetze"
zu wehren, wird ihnen von Regierungsseite Hypersensibilität vorgeworfen
.
Während die Linksliberalen inzwischen von einem "verbalen Kosovo" sprechen ,
und die Stimmung immer explosiver wird
,
werfen ihnen die Konservativen den Ball zurück: Sie beschuldigen die
Linken, den Antisemitismus zu instrumentalisieren, mit ihm zu spielen, ja
zu hetzen und statt einer echten Kritik nach dem Motto "wer nicht für uns
ist, ist ein Antisemit" alles abzulehnen, was konservativ ist. Die
Historikerin, die diese These aufstellte, ist ebenfalls die erste
Beraterin des ungarischen Ministerpräsidenten. Selbst Ministerpräsident
Orbán behauptet: "Es ist ein Teil der ungarischen Polit-Folklore, dass die
Linke jeden Nichtlinken zum Antisemiten erklärt"
.
Dies sagte er in einem Interview anlässlich der Verleihung des
Franz-Josef-Strauß-Preises der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung durch den
bayrischen Ministerpräsidenten, Edmund Stoiber. Orbán wurde dabei als
"mutiger, junger und herausragender Politiker und Repräsentant einer
modernen Volkspartei", als ein "aufrichtiger Freund" Bayerns und ein
"überzeugter Europäer" gewürdigt, der mit seiner Politik "entscheidende
Impulse" für das Zusammenwachsen in Europa gesetzt habe.
Anmerkungen
hagalil.com
20-04-2002
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