Russische Nationale
Einheit - Neonazis
Themenwechsel: Zum Jahresende 1998 tauchten wieder vermehrt Symbole der um
1990 von Alexander Barkaschow gegründeten Bewegung RNE (Russische
Nationale Einheit) auf, die an Mauerwerken zum "Boykott gegen jüdische
Schieber" aufriefen, denn "Patrioten kaufen russische Produkte bei
Russen". Die Gruppe - laut eigenen Angaben zwischen 1.000 und 3.000 Mann -
wurden in den frühen 90er Jahren mit ihren SA-ähnlichen Uniformen und
ihrem überaus militanten Auftreten rasch bekannt. Diese braune
Brüderschaft trieb ihr Unwesen mit Knüppel und Fäusten und wartete
förmlich darauf, ihren "bedrängten Landsleuten im Baltikum, Moldavien,
Tschetschenien oder anderswo" beistehen zu können. De facto aber kamen
ihre Hilfsangebote nicht weiter als in eine nahe dem Moskauer Pawelezker
Bahnhof gelegene Schießhalle, in der mit Schießscheiben trainiert wurde,
die die Aufschrift "Jelzin" trugen. Jedoch die verbal losgetretenen
"Schüsse" trafen, wenn sie in Flugblättern gegen das "Komplott der Juden
Jelzin und Schirinowski" aufriefen. "Wir dürfen kein Mitleid zeigen, sonst
werden wir den Kampf ums Überleben der weißen Rasse verlieren", war ihre
Motivation, die Kampfparole "Russia dlja Russkich" (Russland den Russen)
und Forderungen, dass die "jüdischen Volksschädlinge nach Israel, die
kaukasischen in die Türkei deportiert" werden sollten, bilden Eckpfeiler
der Politik der RNE.
Die Gruppe konnte ihren Aktionsradius bis in die Regionen Stawropol und
Krasnodar ausweiten, dort werden einige RNJ-Mitglieder bereits als
Hilfs-Polizeitruppe eingesetzt. Die von ihnen geschaffenen Wehrsportklubs werden
dabei ausgerechnet auf Beschluss von Regionalversammlungs-Ausschüssen für
Nationalitätenpolitik finanziert.
Ende 1998 erschienen in der Stadt Krasnodar Flugblätter, auf denen die
Bevölkerung zu Pogromen aufgerufen wurde: "Die Zeit ist gekommen, dass sich
unser heiliges Kuban-Gebiet endlich von den verfluchten Juden befreit. Helfen
wir bei dieser nicht leichten Aufgabe unserem geliebten Führer, Gouverneur
Nikolaj Kondratenko. Plündert die Wohnungen der Juden, steckt ihre Häuser an."
Wie vielerorts schwiegen die jüdischen Gemeinden über die tagtäglichen
Bedrohungen, so auch in Krasnodar und es wurden bisher jegliche Stellungnahmen
zu den faschistoiden Umtrieben vermieden. Einige Mitglieder fürchten den Verlust
ihres Arbeitsplatzes, die Vorstände der Gemeinden haben ihrerseits Angst, dass
der Gouverneur einer "aufmüpfigen" Gemeinde mit Mietkündigung drohen könne, vor
allem für Räume, die ihnen bisher für religiöse Festlichkeiten dienten.
Anfang Januar 1999 berichtete Elke Windisch unter anderem: "Die vierteljährlich
erscheinende Zeitung der russischen Neonazis, "Russkij Porjadok" (Russische
Ordnung), steigerte ihre Auflage anno 1998 von 43.000 Exemplaren auf angeblich
500.000. Nach den Angaben der Wochenzeitung "Moskovskije Novosti" zählt die
Neonazi-Bewegung zwischen 150.000 und 200.000 eingeschriebene Mitglieder. Allein
in Moskau kämen täglich 70 bis 80 Menschen dazu. Das Gros der Anhänger
rekrutiert sich aus dem radikalen Rand der Linken, der Sjuganow wegen dessen
"Opportunismus" heftig attackiert. Die orthodoxen Kommunisten von Viktor
Ampilows "Werktätiges Moskau" wechselten bereits in hellen Scharen die Front.
Die pro-stalinistische "Russische Nationale Organisation" folgte dem Beispiel.
Deren Vorsitzender, Alexander Vdowin, bescheinigte den Barkaschow-Leuten schon
im Februar 1997 auf einem Kongress unter dem donnerndem Applaus der mehr als
tausend Delegierten, ihre Organisation sei derzeit die "alleinige Trägerin eines
deutlich akzentuierten nationalen Gedankens", der "bei den Massen Fuß fassen
könne". Zwar hat Justizminister Kraschinenikov den Neonazis bisher wegen
Formfehler die Neuregistrierung als Verein verweigert. Gegenüber den
antisemitischen Ausfällen führender KP-Mitglieder aber hebt er hilflos die
Hände: Wenn es sich bei Makaschov und Iljuchin um Privatmeinungen handle, könne
die KP dafür nicht verantwortlich gemacht werden. Vertreter des Jüdischen
Kongresses hingegen meinen, sowohl im Justizministerium als auch in der
Staatsanwaltschaft gebe es eine Menge Leute, die derartige Ansichten teilten.
Die Zeitung "Kommersant" kam gleichfalls zu dem Schluss, dass einschlägige
Verfahren durch hohe Beamte des Kreml bewusst gebremst würden. Auch
Geheimdienstchef Wladimir Putin würde das heiße Eisen am liebsten rechts liegen
lassen. Bevor Anklage erhoben werden könne, vertraute er der "Iswestija" an,
müssten "extrem komplizierte linguistische und psychologische Expertisen"
erstellt werden. Bei Makaschov müsse auch in Betracht gezogen werden, wie das
Publikum reagiert habe. Die Regierung will in der Duma ein Gesetz zum
politischem Extremismus durchsetzen, das es ermöglichen würde, die Parteien für
Äußerungen ihrer Mitglieder zur Rechenschaft zu ziehen. Die Chancen, dass der
Entwurf durchkommt, halten selbst Optimisten für 'sehr gering'. (© Die Presse,
Wien)"
Im Mai 1999 detonierten in unmittelbarer Nähe von zwei Synagogen einige
Sprengsätze. Der Innen-Geheimdienst (FSB) konnte oder wollte hierin keinen
antisemitischen Hintergrund feststellen und schob in seinen Ermittlungen das
ganze Geschehen in die Richtung eines "Rowdytums". Für Alexander Osowzow, dem
Vizepräsidenten der Russisch-Jüdischen Vereinigung, stand jedoch fest, dass hier
offensichtlich ein Bezug zu den zunehmenden antijüdischen Aktionen der
Kommunisten und Faschisten bestand.
Etwa zu dieser Zeit wurde ebenfalls bekannt, dass in verschiedenen Gegenden
Russlands jüdische Friedhöfe geschändet, aber auch Synagogen - wie die in
Nowosibirsk - verwüstet wurden: in Nowosibirsk zerschlugen örtliche Faschisten
das Mobiliar, die Thorarollen wurden unwiederbringlich zerstört.
Am 25. Juli 1999 konnte im letzten Augenblick ein Sprengsatz in der Moskauer
Ljubawitschewski-Synagoge an der Bolschaja Bronnaja-Straße entdeckt und
entschärft werden. Die Bombe wurde zufällig vom Sohn des Rabbiners beim
Aufräumen bemerkt, denn sie lag im Gebetsraum hinter Büchern versteckt. Die
sechs Synagogen Moskaus und auch andere jüdische Einrichtungen waren in den
vergangenen Jahren immer wieder Ziele von Anschlägen gewesen. Mitte Juli wurde
der Leiter des jüdischen Kulturzentrums in Moskau, Leopold Kaimovski, von einem
faschistischen Studenten niedergestochen und schwer verletzt. Nach seiner
Festnahme gab der Täter an, dass seine Tat ein politischer Akt gewesen sei, denn
sein Kampf gegen das Böse sei der Kampf gegen den Judaismus, bestritt aber, dass
er einer extremistischen Organisation angehöre.
Zwar hatte der damalige russische Präsident Boris Jelzin dem israelischen
Premier Ehud Barak bei dessen Besuch in Moskau zugesagt, dass er nun
entschiedener gegen Antisemitismus und Gewalt gegen Juden vorgehen wolle und
dass die Schuldigen bestraft werden sollen. De facto wurde aber bis zum Ende
seiner Präsidentschaft fast nicht unternommen - weder die älteren noch die
neueren Fälle wurden tatsächlich untersucht - , was Jelzin immer wieder von
Jüdischen Organisationen, wie von Vladimir Gussinski, dem Medien-Mogul und
Leiter des Russisch-Jüdischen Kongresses, vorgeworfen wurde.
Die Synagogen werden heute hauptsächlich von (teuren) Privatfirmen bewacht.
Am 20. April (2001) erstachen in Moskau Rechtsextreme einen 18jährigen
Tschetschenen und etwa fünfhundert Schläger zerstörten einen am Rande der Stadt
gelegenen Gemüsemarkt. In St. Petersburg wurde es zu einer Art Mode ausländische
Studenten zu überfallen und niederzuschlagen. In den Provinzen sieht es dabei
gar nicht anders aus: beispielsweise in Tver sahen sich ausländische Studenten
gezwungen in einem offenen Brief an den Gouverneur wenden: "Schützen Sie uns vor
den chauvinistischen Jugendlichen", weil zuvor zehn Studenten nach einem
Skin-Überfall krankenhausreif geschlagen wurde. Vielerorts geht nicht die
Vernunft oder der Mut umher, sondern die pure Angst.
Im November 2001 war Moskau wieder einmal Schauplatz eines Aufmarsches von über
300 Skins, die mit Baseball- und Eisenschlägern "Russland den Russen" brüllend
durch den Stadtteil Zaryzino im Süden Moskaus zogen und auf Menschen Jagd
machten. Der Zaryzinoer Lebensmittelmarkt war ihr Angriffsziel, wo hauptsächlich
Kaukasier den Handel kontrollieren. Verkaufsstände wurden zertrümmert, auf
Menschen eingeschlagen. Die Miliz, die angeblich zu spät herbeigerufen wurde,
erschien erst als das gröbste bereits geschehen war. Die Bilanz: zwei Tote und
Dutzende schwerverletzte Menschen. Erst Stunden später nahm die Miliz 25
Skinheads fest.
In fast allen Fällen sieht die Exekutive niemals einen politischen Hintergrund,
sondern ein jugendliches Rowdytum oder bezeichnet die Schläger als Fußballfans,
obschon weithin sichtbar auf Jacken die Embleme der RNJ (Russische Nationale
Einheit) und stilisierte Hakenkreuze auf Armbinden zu erkennen sind. Trotz
unzähliger brutalster Übergriffe, von denen hier nur einige erwähnt wurden,
blieb bis heute das rechte Auge von Justiz und Miliz blind.
In den vergangen Jahrzehnt, vor allem nach der kurzen, hoffnungsvollen Periode
von Perestroika und Glasnost, gab es keine Sicherheit mehr für Minderheiten.
Antisemitismus und Rassismus traten dermaßen massiv in Erscheinung, dass sie
geradezu zum Alltag des Lebens gehören wie das tägliche Brot, über das man nicht
spricht - weil es jeder in seinem Haus besitzt.
Auch unter Wladimir Putin, der zwar bei seinem Antritt zur russischen
Präsidentschaft zusagte, dass er in seiner Amtszeit Blutvergießen und Pogrome
nicht dulden werde, hat sich kaum spürbar etwas verändert. Von einer
tatsächlichen Bereitschaft - ob von Behörden oder Teilen der Bevölkerung - den
täglichen Exzessen Einhalt zu gebieten, ist nichts zu bemerken. Im Gegenteil:
Die "Russische Nationale Einheit" Alexander Barkaschows, die heute etwa 20.000
Mitglieder zählt, wirbt ungehindert auch via Internet um paramilitärischen
Nachwuchs. Und das Justizministerium hat bisher weder den Versuch unternommen,
die Bewegung der RNJ zu verbieten noch die faschistoid gesonnenen Politiker aus
der Duma zu vertreiben.
Zur Zeit leben noch einige Hunderttausend Juden in Russland, jährlich versuchen
einige Tausend in den Westen zu emigrieren. Seit dem Zusammenbruch der
Sowjetunion haben über eine Million russische Juden das Land verlassen, nach
Israel, Amerika, Westeuropa und selbst nach Deutschland.
Weiterführende Literatur:
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Osteuropa, in: Hausleitner, Mariana / Katz, Monika (Hrsg.); Juden und
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Der Antisemitismus und die Linke. Frankfurt/M..
Held, Thomas (1995): "Der Schatten des Antichrist..." - Kontinuität und
Wandel des sowjetisch-russischen Antisemitismus, in: Hentges, Gudrun / Kempfert,
Guy / Kühnl, Reinhard (Hrsg.): Antisemitismus. Geschichte, Interessenstruktur,
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Herbeck, Ulrich (1998): Antisemitismus in der frühen Sowjetunion.
Arbeitspapiere des Instituts für Internationale Politik und Regionalstudien Nr.
22, Freie Universität Berlin. Berlin. Institute for Jewish Policy Research /
American Jewish Committee (Hrsg.) (1997): Antisemitism World Report 1997,
London, New York. #damals neueste Ausgabe#
Juchneva, Natalja V. (1993): Der Antisemitismus in Rußland heute. Berichte
des BIOst Nr. 6/1993. Köln.
Keßler, Mario (1996): Sozialismus und Antisemitismus, in: analyse & kritik
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Koenen, Gerd / Hielscher, Karla (Hrsg.) (1991): Die schwarze Front. Der neue
Antisemitismus in der Sowjetunion. Reinbek.
Lustiger, Arno (1998): Rotbuch: Stalin und die Juden. Berlin
Messmer, Matthias (1998): Antisemitismus in Rußland, der Ukraine und Litauen
- eine vergleichende Studie. Berichte des BIOst Nr. 7/1998. Köln.
Poliakov, Léon (1992): Vom Antizionismus zum Antisemitismus. Freiburg.
Rapoport, Louis (1992): Hammer, Sichel, Davidstern. Berlin.
Sozialistisches Osteuropakomitee (Hrsg.) (1984): Juden und Antisemitismus in
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Umland, Andreas (1998): Rußlands postsowjetische extreme Rechte. Ein
Literaturbericht, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 7. Frankfurt/M., New
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Vetter, Matthias (1995): Antisemiten und Bolschewiki. Zum Verhältnis von
Sowjetsystem und Judenfeindschaft 1917 - 1939. Berlin.
"Moskau plant Plakat-Aktion gegen
Rechtsextreme
25.01.02 Moskau (rUFO/kp). Mit einer groß angelegten Plakat-Aktion wollen
Moskauer Werbeagenturen auf die Übergriffe russischer Skinheads reagieren.
Mit Plakaten und dem Slogan "Rasier Dich nicht - lass Deine Haare
wachsen!" wollen die Organisatoren den Rechtsextremen deren bedrohliche
Aura nehmen und sie statt dessen der Lächerlichkeit preisgeben, berichtete
die Online-Ausgabe der Tageszeitung "Iswestija". Die Antiwerbung soll in
Fußgängerunterführungen und an Bushaltestellen angebracht werden."
hagalil.com
20-04-2002
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