Nationalismus und Antisemitismus
Der Zusammenhang zwischen der Entstehung
antisemitischer Strukturen und nationalistischer Ideologien in der
arabischen Welt unter besonderer Berücksichtigung des ägyptischen
Nationalismus bis 1920
Von Jens Heibach
3. Die verschiedenen Gesichter des Nationalismus
Nationalismus wird definiert als eine
"Ideologie und/oder soziale Bewegung,
die territorial und werteorientiert auf die Nation bzw. den
Nationalstaat ausgerichtet ist und eine bewusste Identifikation und
Solidarisierung mit der nationalen Gemeinschaft voraussetzt."
(Riescher 2001:314)
Diese allgemein gehaltene Definition
lässt freilich nicht erahnen, welche verschiedenen Qualitäten der
Nationalismus aufweisen kann. Aufgrund der Vielzahl
unterschiedlicher Herleitungsmöglichkeiten des "nationalen Wesens"
(Wertesystem, Sprache, Rasse etc. – vgl. hierzu Göhler/Klein
2000:611ff.) werden heute inklusiver und exklusiver Nationalismus
voneinander unterschieden (vgl. Riescher 2001: 314). Im Gegensatz
zum inklusiven Nationalismus, der sich durch eine moderate Form von
Nationalbewusstsein und Patriotismus auszeichnet und in integrativer
Manier andere politisch-kulturellen Gruppen einzuschließen weiß,
wartet der exklusive Nationalismus mit einem übersteigerten
nationalen Wertgefühl auf, das sich bewusst von anderen Staaten und
Nationen abgrenzt, die eigene Nation als höherwertig betrachtet, die
Ausgrenzung anderer Ethnien fordert und "Fremdherrschaft" radikal
ablehnt.
Es ist aufschlussreich, den Wesens-
und Konstituierungsmerkmalen des Nationsbildungsprozess in Europa
größere Aufmerksamkeit zu schenken, um diese im Nachhinein auf die
Verhältnisse im Vorderen Orient zu übertragen und zu vergleichen.
Das geistige Konstrukt der Nation ist letztendlich Produkt des
Zerfalls des christlich-mittelalterlichen Universalismus, aus dem
zunächst jedoch eine Vielzahl dynastischer, zentralistischer Staaten
erwachsen. Die europäischen Königtümer bilden eine Vorstufe auf dem
Weg zum Nationalstaat (vgl. Kohn 1962:180). Wichtige weitere
Elemente sind das Voranschreiten des kapitalistischen
Produktionsprozess, der einhergeht mit dem Aufstieg des Bürgertums
(vgl. Habermas 1965:28), sowie die Entfaltung und Pflege nationaler
Sprachen und die Abfassung nationaler Historiographien (vgl. Shafer
1955:92f.). Liberale Freiheitsrechte werden als Bürgerrechte
institutionalisiert und besitzen in gleichem Maße wie die
politischen Rechte konstituierenden Charakter.
Von der hier beschriebenen
ursprünglichen, progressiv-liberalem Form des Nationalismus kann
allerdings erst nach Abwicklung der dynastischen Souveränität
gesprochen werden, an deren Stelle das Prinzip der Volkssouveränität
tritt (vgl. Ziegler 1931:64). Letztendlich ist eine weiteres Kind
der Aufklärung von elementarer Bedeutung bei der Formung des
progressiv-liberale Nationalstaat, nämlich der rationalistische
Säkularismus:
"Das Jahrhundert der Aufklärung, des
rationalistischen Säkularismus, brachte auch seine eigene, moderne
Dunkelheit mit sich. Mit dem Verfall der Religiosität verschwand das
Leid, in das der Glaube eine Ordnung gebracht hatte, keineswegs.
(...) Notwendig wurde somit eine Umwandlung des Unausweichlichen in
Kontinuität, der Kontingenz zum Sinn. (...) [Hierzu] waren (und
sind) nur wenige Dinge geeigneter als die Idee der Nation."
(Anderson 2000:20)
Mit der Französischen Revolution von
1789 kommt es zu einer ersten, wenngleich kurzen Verwirklichung des
Nationalstaats, der in dieser Phase der modernen Vorstellung eines
liberalen Rechtsstaats ziemlich nahe kommt. Gleichzeitig bedingt die
hierauf folgende Expansion Napoleons, der vorgibt, für das
Selbstbestimmungsrecht der Völker zu kämpfen, die Schaffung eines
neuen Typus des Nationalismus, der sich fundamental von seinem
Vorläufer unterscheidet. Aus der Französischen Revolution und den
Napoleonischen Kriegen gehen der deutsche, spanische und russische
Nationalismus hervor, der sich nicht nur gegen Frankreich, sondern
auch gegen die Ideale und Errungenschaften der Revolution richtet.
Diesem "Konternationalismus" (Hayes 1950) liegt ein überwiegend
reaktionäres und retardierendes Wesen zugrunde. Speziell der
"deutsche Nationalismus war
romantisch, irrational und antiliberal. Er verwarf die Aufklärung
und verurteilte ihre Ideale als importierte. Er flüchtete in die
Vergangenheit, glorifizierte sie und verklärte sie metaphysisch.
Dieser Konternationalismus ist der ideologische Ausdruck der
politischen Rückständigkeit Deutschlands. Er ist eine irrationale
Antwort auf eine rationale Herausforderung." (Tibi 1971:22)
Der deutsche Nationalismus zeichnet
sich zusätzlich durch die Erhebung des "Deutschtum" über anderen
"Volkstümern" aus und hat eine deutlich xenonphobe, insbesondere
frankophobe Stoßrichtung. Die ohnehin latenten antisemitischen
Strömungen in der Bevölkerung des späteren deutschen Kaiserreichs
können sich vor diesem Hintergrund entsprechend voll entwickeln (5).
Zwar wurden schon die tiefsitzenden Motive der
christlich-abendländischen Judenfeindschaft von Fichte, Arndt und
Jahn zur Konturierung des "deutschen Wesens" und nationaler
Zusammengehörigkeit benutzt. Spätestens der Antisemitismus des
deutschen Kaiserreichs demonstriert jedoch
"einen neuen Typ von
Judenfeindlichkeit, der nicht mehr in erster Linie religiös
motiviert war, der sich politisch organisierte und schon bald
überwiegend rassistisch begründet war" (Rürup 1985:94).
Das Gegenstück zum frühen
progressiv-liberalen Nationalismus, der Konternationalismus (6), hat
also wesentlich zur Verfestigung antisemitischer Denkstrukturen im
Europa des 19. und 20. Jahrhundert beigetragen. Die Frage, der im
Folgenden nachgegangen werden soll, ist, ob der Zusammenhang
zwischen Nationalismus und Antisemitismus sich ohne weiteres auf den
arabisch-islamischen Raum übertragen lässt.
4. Ägyptischer und
arabischer Nationalismus bis 1920
5. Nationalismus und aufkeimender
Antisemitismus in Ägypten bis 1920
6. Nationaler Antisemitismus in Ägypten und
in der arabischen Welt?
7. Zusammenfassung
8. Literaturverzeichnis
Anmerkungen:
(5) Zur Entwicklung des deutschen und europäischen Antisemitismus
vgl. Fenske (2000:802ff.).
(6) Zur Kritik an dieser Zweiteilung in einen "guten" (inklusiven)
und "bösen" (exklusiven) Nationalismus, auch für den Bereich des
arabischen Nationalismus vgl. Eisele (1996:120).
hagalil.com
01-11-2005
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