Nationalismus und Antisemitismus
Der Zusammenhang zwischen der Entstehung
antisemitischer Strukturen und nationalistischer Ideologien in der
arabischen Welt unter besonderer Berücksichtigung des ägyptischen
Nationalismus bis 1920
Von Jens Heibach
4. Ägyptischer und arabischer Nationalismus bis
1920
Wenngleich der ausschlaggebende
Anlass zur Entstehung des arabischen Nationalismus in der Literatur
weiterhin umstritten bleibt, herrscht weitgehend Einigkeit über die
Hintergründe des Aufkeimens des arabischen und des diesem
vorangehenden ägyptischen Nationalismus. So führt die europäische
Expansion und das Unvermögen der islamischen Welt, sich gegenüber
dieser zu behaupten, dazu, die eigene Stellung gegenüber dem Westen
zum wesentlichen Bestandteil des eigenen Denkens zu machen (vgl.
Peters 1984:105). Gemeinhin wird die Entstehung nationalistischer
Ideen gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den Rahmen des Modernismus
(Salafiyya)(7) gestellt (vgl. Elger 2001:223f.). Unumstritten ist
ferner, dass sich der arabische Nationalismus unter Einfluss
europäischen Gedankenguts entwickelt hat. Allerdings ist es zu kurz
gegriffen, die Entstehung des arabischen Nationalismus
ausschließlich unter Hinzuziehung eines akkulturations-theoretischen
Ansatzes zu erklären. Zwar ist es selbstverständlich, dass
"der arabische Orient in dieser Frage
[des Nationalismus] wie fast in jeder anderen modernen von
abendländischem Denken berührt [ist]. Aber Einflüsse werden immer
nur wirksam, wenn die Bedingungen zu ihrer Aufnahme und Verarbeitung
gegeben sind." (Walther Braune, zit. nach Tibi 1971:60)
Schenkt man der Mehrheit der
Forschung Glauben, entwickelt sich der arabische Nationalismus
hauptsächlich aufgrund der Auseinandersetzung mit der türkischen
Oberherrschaft über die arabischen Provinzen des Osmanischen
Reiches, die sich nach der Revolution der Jungtürken im Jahre 1908
zusätzlich verschärft (vgl. etwa Tibawi 1969; Tibi 1971; Sharabi
1972; Zeine 1973; Khalidi 1991). Während das Osmanische Reich bis
1908 dezentral organisiert ist und die einzelnen Provinzen in
relativer Selbstständigkeit belässt, kommt es unter den Jungtürken
zu einer Zentralisierung der Herrschaft, die den Widerstand der
Araber hervorruft. Unter dem Einfluss westlicher Ideen und
westlicher Bildung entsteht ein gegen die Türken und den (von den
Jungtürken forcierten) türkischen Nationalismus des CUP (Committee
of Union and Progress) gerichteter arabischer Nationalismus. Das
Ziel der arabischen nationalistischen Bewegung ist ein nach
westlichem Vorbild errichteten arabischer Nationalstaat mit
liberalen Freiheiten und einer bürgerlichen Demokratie. Deren
wichtigsten Vertreter sind größtenteils arabische Christen (vgl.
Sharabi 1972:2f; 115), aber auch einige Juden (vgl. Schmidinger
2003), für die als religiöse Minderheiten die Idee einer säkular
ausgerichteten arabischen Nation attraktiv erscheint.
Einer anderen These zufolge
entwickelt sich der arabische Nationalismus weniger in
Auseinandersetzung mit der Politik des CUP, sondern leitet sich
vielmehr direkt aus dem Modernismus ab und entsteht als
Auseinandersetzung privilegierter und nicht-privilegierter Schichten
innerhalb der arabischen Elite des Osmanischen Reichs (vgl. Dawn
1991). Um diese zwei gegensätzlichen Grundthesen miteinander
vereinbaren zu können, sehen neuere Ansätze den arabischen
Nationalismus als multidimensionale Bewegung: „Clarity in this
debate can only be achieved through distinguishing among cultural,
social and political concerns.“ (Haddad 1994:201) Entscheidend für
diese Untersuchung ist jedoch, dass mit Ausnahme Khalidis (1991) der
Auseinandersetzung mit dem Zionismus keine entscheidende Rolle in
der Entstehung des arabischen Nationalismus beigemessen wird.
Trotz der zu kritisierenden
schemenhaften Einteilungsphasen (8) ist der Nationalismus bis zu
Beginn des Ersten Weltkriegs ein demokratischer Nationalismus, wobei
bereits zu jener Zeit gemäß der Lehren der islamischen Modernisten
die Bedeutung der "frommen Altvorderen" für den Islam betont wird
(vgl. Hourani 1992: 417f; 379). Aus der Glorifizierung der Periode
der Salafiyya ergibt sich, dass bei der Überwindung der Schwäche des
Islams gegenüber den westlichen Kolonialmächten den Arabern
innerhalb der islamischen Welt wieder eine stärkere Rolle zukommen
muss (vgl. Milson 2004:3). Spätestens das Sykes-Picot-Abkommen
(3.1.1916), das entgegen den Versprechungen in der Mac Mahon-Hussain
Korrespondenz (24.10.1915) keine arabische Unabhängigkeit und
Souveränität vorsieht, sondern den Nahen Osten in den Grenzen der
späteren französischen und englischen Mandatsgebiete aufteilt,
bewirkt, dass sich der arabische Nationalismus zu einer
antiwestlichen und antikolonialen Ideologie konternationalistischer
Natur entwickelt. Der arabische Konternationalismus orientiert sich
von nun an vor allem am deutschen Vorbild und schlägt eine
apologetische, reaktionäre, völkische und zuweilen aggressiven
Richtung ein (vgl. Tibi 1971:104).(9) Dieser vermeintliche
Richtungswechsel und die arabische Affinität zum deutschen
Nationalismus lässt sich durch die vergleichbaren Umstände erklären.
Der deutschen Situation entsprechend kann sich der arabische
Nationalismus nicht primär über politische Grenzen und Souveränität
definieren, sondern muss auf ein Konglomerat aus Blut- und
Abstammungsmythen zurückgreifen (vgl. Kiefer 2002:75).
Im Gegensatz zum arabischen
Nationalismus setzt sich der als Antwort auf die britische Besetzung
Ägyptens 1882 entstehende ägyptische Nationalismus direkt mit der
europäischen Fremdherrschaft auseinander. Der ägyptische
Nationalismus ist der "Versuch, die britische Herrschaft zu
beschränken oder zu beenden, und er hatte spezifisch ägyptische und
weniger arabische oder osmanische Inhalte." (Hourani 1992:380)
Gleichwohl teilt der ägyptische Nationalismus mehrere Eigenschaften
mit seinem arabischen Pendant. So geht er einerseits eine enge
Verbindung mit dem islamischen Modernismus ein (vgl. Hourani
1970:194), und viele seiner prominentesten Vertreter wie
beispielsweise Sa'ad Zaghlul stammen aus dem Freundeskreis Muhammad
'Abduhs. Andererseits ist Europa nicht nur das politische Feindbild,
sondern dient gleichsam als Vorbild in Fragen des politischen
Systems und liberaler Freiheiten. Beispielhaft verkörpert wird diese
Ausrichtung durch Mustafa Kamil, einen der wichtigsten Vertreter des
ägyptischen Nationalismus mit großem politischen und
journalistischem Einfluss. Kamil sieht die Existenz der ägyptischen
Nation als Teil eines größeren Ganzen, das osmanisch, muslimisch und
östlich geprägt ist, bei gleichzeitiger Anlehnung an die westliche
Zivilisation und den Islam, der allerdings einer korrekten
Interpretation bedarf (vgl. Hourani 1970:202). Mustafa Kamil kann
als mustergültiges Beispiel eines "inklusiven" Nationalismus
betrachtet werden, da seiner Ansicht nach das
Dazugehörigkeitsmerkmal zur ägyptischen Nation ein geographisches
war. Seinem Leitspruch zufolge könne Ägypten alle, die auf
ägyptischem Boden leben, umschließen (vgl. Hourani 1970:206).
Wenngleich der ägyptische
Nationalismus vor alle in seiner Anfangsphase als liberaler
Nationalismus charakterisiert werden kann, finden sich auch in
dieser Zeit bereits Vertreter, welche die Dazugehörigkeit zur
ägyptischen Nation an anderen Merkmalen festmachen als an Geographie
und Wertesystem. Der Nationalismus des ersten populären ägyptischen
Nationalisten, 'Abdallah al-Nadim, wendet sich beispielsweise gegen
Ausländer (v.a. Syrer), "Werkzeuge der ausländischen Eroberer" sowie
gegen "exorbitante Geldleiher" (vgl. Hourani 1970:196), wobei
speziell in Hinblick auf geläufige antisemitische Klischees gefragt
werden darf, wer mit den "exorbitanten Geldleihern" gemeint ist.
Eine weitere Zuspitzung der Definitionskriterien in Fragen
ägyptischer Identität erfährt der ägyptische Nationalismus nach Ende
des Ersten Weltkriegs, als dieser unter Sa'ad Zaghlul nicht mehr nur
der Diskussion einzelner Intellektueller vorbehalten bleibt, sondern
zunehmend zum Projekt der Massen avanciert. Zwar gilt auch Zaghlul
als Vertreter eines liberalen Nationalismus. Nach 1918 vollzieht der
Gründer der Wafd-Partei und spätere Premierminister jedoch einen
leichten Wandel: "He became more exacting in his dealings and more
exclusive in his conceptions of the Egyptian nation." Einige seiner
neuen Überzeugungen widersprachen sogar den Maximen seines früheren
Weggefährten 'Abduhs "for his appeal had always been to social unity
(national as well as religious), to the harmony of all interests, to
an Egyptian nation which took no account of racial origins."
(Hourani 1970:216)
Mit dem ägyptischen Nationalismus
erhält folglich eine neue Ära identitärer Bezugssysteme Einzug in
den Nahen Osten:
"The idea of an Egyptian nation,
entitled to a separate political existence, involved not only the
denial of a single Islamic community, but also the assertion that
there could be a virtuous community based on something other than
common religion and a revealed law." (Hourani 1970:193)
Insofern ist der ägyptische
Nationalismus auch als Vorbild des nachfolgenden arabischen
Nationalismus zu verstehen. Entsprechend sind die Nähe zu den
islamischen Modernisten und die anfängliche Hinwendung zum liberalen
europäischen Nationalismus nicht die einzigen Verknüpfungen zwischen
arabischem und ägyptischem Nationalismus, obwohl Ägypten noch auf
dem arabisch-nationalen Kongress 1913 in Paris nicht als originärer
Teil der arabischen Welt angesehen wurde (vgl. Eisele 1996:98).
George Antoninus etwa verweist auf die Reziprozität der beiden
Bewegungen:
"Hitherto, the movement of ideas in
Egypt, so far as the Arabic cultural revival and the birth of the
Arab national consciousness went, had marched hand in hand with the
same process in Syria; and the lead given by the one evoked a ready
response in the other." (Antoninus 1938:99f.)
Darüber hinaus wird Kairo neben
Beirut eines der wichtigsten Zentren der jungen arabischen Bewegung
(vgl. ebenda). Die arabische Sprache ist dabei ein entscheidendes
Element, das auch dafür sorgt, dass die Verbindung zu den
benachbarten arabischen Gebieten erhalten bleibt und welche das
spätere Aufgehen des ägyptischen im arabischen Nationalismus
wesentlich erleichtert.
Ein arabisches Element war, deutlich
erkennbar oder nicht, in solchen Vorstellungen [ägyptischer
Nationalisten, J.H.] tief verwurzelt (...) die Wiederbelebung der
arabischen Sprache als Medium moderner Ausdruckskraft und als Band
der Einheit [war] ein zentrales Thema. (...) Aus demselben Grund
fand man im Nationalismus unweigerlich ein islamisches Element."
(Hourani 1991:417)
Dieses religiöse Moment ist ein
weiterer verbindender Punkt zwischen ägyptischem und arabischem
Nationalismus, die sich somit wesentlich von den säkularen
europäischen Nationalismen unterscheiden. Der Stellenwert des Islams
in der veränderten Situation zu Beginn des 19. Jahrhunderts stellt
viele Muslime vor ein grundlegendes Problem. Hieraus lässt sich auch
der große Zuspruch erklären, den die islamischen Modernisten zu
dieser Zeit erfahren. Die Idee, dass der Islam nicht nur nicht mit
Vernunft, Fortschritt und gesellschaftlicher Solidarität vereinbar
ist, sondern diese sogar vorschreibt, stellte vor allem für die
sogenannte "neue Intelligentsia", aus der sich die Nationalisten
später vornehmlich rekrutieren (vgl. Khoury 1990; Khalidi 1981),
eine große Faszination dar (Hourani 1991:376ff.) Wie bedeutsam der
Faktor Islam bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs bleibt, lässt
sich etwa daran ablesen, dass sich sowohl die osmanische als auch
die arabische Seite während des arabischen Aufstands unter Hussain
1916 einer islamischer Rhetorik und Rechtfertigung bedienen müssen.
"No matter what awareness of national differences might exist,
neither party could give primacy bonds other than Islam." (Cleveland
1986:98)
5. Nationalismus und
aufkeimender Antisemitismus in Ägypten bis 1920
6. Nationaler Antisemitismus in Ägypten und
in der arabischen Welt?
7. Zusammenfassung
8. Literaturverzeichnis
Anmerkungen:
(7) Strömung innerhalb der muslimischen intellektuellen
Auseinandersetzung, die im Zuge der beschriebenen europäischen
Herausforderung entsteht und die ihre Antwort auf dieselbe in
theoretischen Gesellschaftsentwürfen findet, in denen islamische und
europäische Vorstellungen gleichberechtigt nebeneinander stehen
(vgl. Conermann 2001:203f.).
(8) Vgl. Anm. 6.
(9) Allerdings scheint die Plötzlichkeit des radikalen Umschwungs
von einem Nationalismus progressiv-liberaler Art in einen
Konternationalismus die These des Nationalismusforschers Etienne
Balibars zu bestätigen, der Rassismus für eine notwendige Tendenz
bei der Herausbildung eines jeden Nationalismus hält (Ders.
1992:62).
hagalil.com
01-11-2005
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