Nationalismus und Antisemitismus
Der Zusammenhang zwischen der Entstehung
antisemitischer Strukturen und nationalistischer Ideologien in der
arabischen Welt unter besonderer Berücksichtigung des ägyptischen
Nationalismus bis 1920
Von Jens Heibach
5. Nationalismus und aufkeimender
Antisemitismus in Ägypten bis 1920
Der Stand der
Antisemitismusforschung für die arabische Welt lässt sich in zwei
Grundthesen unterteilen. Küntzel (2003) und Wistrich (2002) sehen
den Grund für die Zuspitzung des Nahostkonflikt in den
antisemitischen Einstellungen der arabisch-islamischen Welt.
Speziell die Untersuchung Küntzels wurde jedoch wegen ihrer
mangelhaften Vorgehensweise, des fehlenden Kontexts, und ihrer
Voreingenommenheit kritisiert. "Küntzels Darstellung der Genese des
Problems und seine Erklärung sind dagegen wenig überzeugend. Sie
folgen einer fixen Idee (...)." (Flores 2004:49)
Die zweite, verbreitetere
These hingegen geht davon aus, dass die Verbreitung des
Antisemitismus in der arabischen Bevölkerung als Reaktion auf den
Konflikt zwischen Arabern und Israelis zu verstehen ist. Die
Grundlage hierzu wurde durch importierte antisemitische Klischees
aus Europa geschaffen, mit denen die arabische Bevölkerung etwa über
ausländische Diplomaten oder orientalische Christen seit dem 19.
Jahrhundert vertraut gemacht wurde (vgl. Haim 1955; Lewis 1987a,
1987b; Kiefer 2002). Besonders Sylvia G. Haim hat in einem Aufsatz
über antisemitische arabische Literatur auf die Rolle der "Eastern
Christians" hingewiesen. "Consequently, this [anti-Semitic, J.H.]
doctrine at first was to be found only in writings of Eastern
Christians." (Haim 1955:308). Die Verschärfung des
Palästina-Konflikts führt dann dazu, dass diese Einstellungen von
der arabischen Seite übernommen und in den Folgejahren verbreitet
werden (vgl. Lewis 1987a:168).
Der arabisch-israelische
Konflikt ab 1948 ist demzufolge Ausgangsbasis des Erstarkens des
arabischen Antisemitismus, aber auch des arabischen Nationalismus,
da er den entscheidenden Impuls zur Etablierung eines nationalen
Bewusstseins in der arabischen Bevölkerung liefert (vgl. Kiefer
2002:91) (10). Obwohl die heutigen Ausmaße antisemitischen Denkens
in der arabischen Bevölkerung erst infolge des ersten
israelisch-arabischen Krieges erreicht werden und ein nennenswerter
Anstieg in der Veröffentlichung antisemitischer Schriften im Nahen
Osten erst in den 1920ern zu verzeichnen ist (vgl. Pfahl-Traughber
2004:1261), sind – wie nachfolgend am Beispiel des ägyptischen
Nationalismus gezeigt wird – Nationalismus und Antisemitismus
bereits in der Entstehungsphase miteinander verknüpft. (11)
Die Lebensumstände der
jüdischen Minderheit in Ägypten bis ins 19. Jahrhundert werden als
weitgehend positiv beschrieben, d.h. dass die Juden in Ägypten unter
den gleichen Umständen leben wie die Juden im gesamten Nahen Osten
mit Ausnahme Marokkos und des Jemen (12). Es herrscht "toleration
within the framework of discrimination" (Landshut 1950:23). Dann
beginnt aufgrund von Migrationbewegungen und der sich abzeichnenden
Auseinandersetzung mit zionistischen Siedlern in Palästina ein
langsamer Wandel der Situation. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts
werden Juden gleich welcher Herkunft vornehmlich als "Westernized
immigrants" wahrgenommen. "That there was also a sizeable number of
indigenous, that is, truly Egyptian Jews, was widely ignored."
(Krämer 1989:223) Vergleichbar mit den anderen Regionen des Nahen
Osten bleiben die christlichen Minderheiten, d.h. hauptsächlich
koptische, neben griechischen, syrischen und armenischen Christen,
Hauptquelle von Ritualmordanklagen (vgl. Krämer 1989:228).
Antijüdische Einstellungen
sind aber nicht nur ein religiöses, sondern auch ein soziales
Phänomen. Und so stammen die Hauptträger der Judenfeindlichkeit
vornehmlich aus der koptischen und muslimischen Mittelklasse (vgl.
Krämer 1989:229), und damit eben aus jener Schicht, in welcher der
ägyptische Nationalismus die meisten Anhänger findet. Antisemitismus
hingegen ist zu jener Zeit keineswegs ein weitverbreitete
Einstellung, sondern geht nur von vereinzelten Islamisten und
Nationalisten aus (vgl. Krämer 1989:234f.)
Auch Sylvia G. Haim
bestätigt, dass antisemitische Schriften zu Beginn des 20.
Jahrhunderts im gesamten Nahen Osten nicht sehr verbreitet sind.
Zudem, so Haim, seien alle antisemitischen Schriften ausschließlich
von Christen verfasst worden:
"In contrast to the Eastern
Christians, Moslem writings at the beginning of the twentieth
century were unaffected by anti-Semitic polemics engendered by the
Dreyfus Affair." (Haim 55:309)
Aber kann dieser Befund
einer genaueren Analyse nationalistischer und modernistischer
Publikationen standhalten? (13) In dem gleichen Aufsatz liefert sie
einen Hinweis, der die These, wonach antisemitische Inhalte
ausschließlich von Christen verbreitet werden, fragwürdig erscheinen
lässt, indem sie Rashid Rida (Kiefer 63) Beiträge in der Zeitung
al-Manar untersucht. Rida, ein der bedeutendsten ägyptischen
Vertreter des islamischen Modernismus und – wie später zu zeigen
sein wird – selbst keineswegs gefeit vor antisemitischen Denkweisen,
kritisiert im Zusammenhang mit der sich gerade in Frankreich
anbahnenden Dreyfus-Affäre, dass das Verfahren gegen Dreyfus
rassisch begründet wäre. Weiter schreibt er, dass diese "Krankheit"
bereits einige ägyptische Zeitungen erreicht hätte, die es
eigentlich besser wissen müssten (vgl. Haim 1955:309). Ob es sich
bei diesen ausschließlich um christliche Zeitungen handelt, darf
zumindest bezweifelt werden.
Antijüdische und
antisemitische Inhalte tauchen auch in Zeitungen außerhalb Ägyptens
auf, die auch für die Untersuchung der ägyptischen Verhältnisse
nicht unerheblich sind, da eines der heraus stechenden Merkmale der
jungen arabischen nationalen Bewegung die journalistische Vernetzung
der "neuen Inteligentsia" in den Metropolen des Osmanischen Reichs
respektive Kairo ist (vgl. Khalidi 1981:40ff.). So ist einer der
wichtigsten Schreiber der syrischen arabisch-nationalen Zeitung
al-Mufid Haqqi al-'Azm, der später Sekretär der al-La-Markaziyya,
"one of the most prolific
pre-1914 Arab nationalist journalists (...) [and] a close
collaborator of al-‘Uraisi and Hantas [Redakteure der al-Mufid,
J.H.] (...) [who] wrote regular columns for their paper" (Khalidi
1981:44).
Die beherrschenden Themen
der al-Mufid in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg sind dabei der
arabische Nationalismus sowie die Vereinbarkeit von arabischem
Nationalismus und Islam. In diesem Zusammenhang wird zur
Diskreditierung der CUP mehrmals auf dessen jüdische Unterwanderung
verwiesen (vgl. Khalidi 1981:48).
Verschwörungstheorien
dieser Art tauchen dann vor allem wieder in Zusammenhang mit der
Verschärfung des Palästina-Konflikts auf und haben dabei eine
vereinigende Wirkung für den ägyptischen und arabischen
Nationalismus. Obwohl die Arabisierung der Ägypter in vollen Zügen
erst mit dem Palästinenseraufstand 1936 einsetzt, bringt das
Palästinaproblem viele ägyptische Intellektuelle schon vorher dazu,
in arabischen Kategorien zu denken, wie am Beispiel 'Azzam Pashas
ersichtlich wird (vgl. Coury 1998:443f.).
Die Person 'Azzam Pashas
verdeutlicht allerdings auch, wie schwer antisemitische Inhalte
konkret nachzuweisen sind. Er lehnt den Zionismus unter anderem
deswegen ab, weil dieser aufgrund der jüdischen Finanzströme und
jüdischen Verbindungen die ökonomische Vorreiterrolle Ägyptens
gefährde (vgl. ebenda). Nun ist diese Aussage, ebenso wie der
Vorwurf der jüdischen Kontrolle des CUPs zwar grenzwertig, kann
jedoch trotzdem nicht als direkt antisemitisch eingestuft werden.
Allerdings muss man davon ausgehen, dass solche Andeutungen von dem
gebildeteren, d.h. dem des Lesens mächtigen Teil der damaligen
Bevölkerung bereits verstanden werden, da solche Vorwürfe an anderer
Stelle in Verbindung mit anderen antisemitischen Äußerungen zu lesen
oder zu hören sind.
Als Beleg hierfür können
wiederum die Beiträge Rashid Ridas in al-Manar dienen, "perhaps in
its day the most widely read Arabic publication in Moslem lands"
(Haim 1955:309). Rida ist eine der wichtigsten theologischen
Autoritäten jener Zeit, dessen oberstes Ziel stets die Vorherrschaft
des Islams im Leben aller Muslime ist. Aus diesem Grund lässt er
sich in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg für die arabische
nationale Bewegung vereinnahmen, als er davon überzeugt ist, dass
das CUP und die Jungtürken Feinde des Islams sind. Die Interessen
der Araber und des Islams betrachtet er als identisch (vgl. Haim
1984:229f.). Zu Juden hat Rida vor allem in der Anfangsphase von
al-Manar ein zwiespältiges Verhältnis. Einerseits hegt er Juden
gegenüber eine gewisse Bewunderung aufgrund des Erhalts ihrer
religiösen Identität und Sprache in der Diaspora sowie wegen ihrer
vermeintlichen Macht und ihres Einflusses. Dieses Bild "jüdischer
Macht" basiert hingegen auf typisch antisemitischen Vorstellungen,
nach denen die Juden die Finanzen Europas und somit gleichzeitig die
europäischen Großmächte kontrollieren – was er wiederum als
nachahmungswert für die Araber empfindet (vgl. Haim 1984: 302f.).
Bei Rashid Rida lässt sich also eine merkwürdige Kombination aus
Bewunderung und antisemitischen Klischees ausmachen. In al-Manar
spricht er in Bezug auf die Juden von
"communal solidarity,
racial identification, exploitation of other nations and their
resources. Had they not believed their religion to be particular to
themselves and that it should not be propagated, they would have
also tired to convert all resources to their own advantage." (zit.
nach Haim 1984:305)
Den Grund für die
Verfolgung der Juden in Europa sieht Rida eben in diesen jüdischen
Eigenschaften, die sich die anderen Nationen nun nicht mehr gefallen
ließen (vgl. Haim 1984:305; Haim 1955:309). Als sich nach dem Ende
des Ersten Weltkriegs die Auseinandersetzung mit den jüdischen
Siedlern in Palästina weiter zuspitzt, schlägt die ursprüngliche
Bewunderung um in eine durchweg negative Beurteilung der Juden, die
er von nun an als "jealous, envious, possesive, vain"
charakterisiert. Ab diesem Zeitpunkt findet man in Berichten über
Juden in al-Manar vor allem mit Koransuren begründete
Verunglimpfungen von Juden (vgl. ebenda).
Weitere Beispiele
prominenter ägyptischer Nationalisten legen nahe, dass der
Verbindung zwischen Nationalismus und Antisemitismus in der
Frühphase der nationalen Bewegungen im Nahen Osten bislang zu wenig
wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteil wurde. Der Ägypter 'Aziz
al-Masri beispielweise ist als Gründungsmitglied der
arabisch-nationalistischen Geheimorganisationen al-Fatat (vgl.
Hourani 1970:285) und als Gründer und Führer der al-'Ahd (vgl.
Tauber 1993:83) eine wichtige Persönlichkeiten des arabischen
Nationalismus vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Gleichzeitig ist
al-Masri für seine öffentlichen antisemitischen Agitationen bekannt
(vgl. Lewis 1987b:177). Einen weiteren Hinweis auf
national-antisemitische Literatur liefert Perlmann (1955:314), der
in seinem Kommentar auf Sylvia G. Haims (1955) Artikel die Liste
antisemitischer arabischer Literatur um ein Buch mit dem
programmatischen Titel "Young Egypt" des zu jener Zeit führenden
Autors Fu'ad Sarruf (1852-1927) ergänzt.
Als letzter Beleg des im
folgenden Kapitel auch theoretisch zu begründenden Zusammenhangs
zwischen Nationalismus und Antisemitismus soll an dieser Stelle
Neguib Azoury gelten. Azoury ist ein syrischer Christ, der aber bis
zu seinem Tod (1904-1916) in Kairo lebt und dort wirksam ist (vgl.
Hourani 1970:277ff.). Durch einen längeren Aufenthalt in Europa
lernt er ein liberales Gesellschaftsmodell kennen, das er in seine
Vorstellungen vom arabischen Nationalismus integriert. Azoury ist
derjenige, der in seinem 1905 in Paris erscheinenden Buch "Le Revéil
de la Nation Arabe" zum ersten Mal die Juden als wahre Gegner der
Araber benennt (vgl. Hourani 1970:278). Ob sein Antisemitismus
bereits vor seinem Aufenthalt in Europa so ausgeprägt war, wie er
sich in "Le Revéil de la Nation Arabe" präsentiert, ist nicht
geklärt. Fest steht, dass der Dreyfus-Prozess in Frankreich einen
bleibenden Eindruck bei Azoury hinterlassen hat. So gründet er wenig
später die "Ligue de la Patrie arabe". Diese "Ligue de la Patrie
arabe clearly echoes (...) the anti-Dreyfusard Ligue de la Patrie
française"(Hourani 1970:277). Auf politischer Ebene sind Azourys
Tätigkeiten zwar nur von geringem Erfolg gekrönt, auf
intellektueller Ebene hingegen ist er einflussreich:
"Le Revéil de la Nation
Arabe has become a minor classic in Arab Nationalist literature
(...) Thus, beyond its significance as an Arab nationalist work,
Azoury`s book represents a departure from other writings by Arabs at
this time: Le Revéil de la Nation Arabe is permeated by European
anti-Semitism." (Mandel 1976:50f).
Obwohl letzteres Beispiel
nochmals vor Augen führt, dass Antisemitismus im Nahen Osten auch
und vor allem von christlichen Minderheiten ausging (wobei Azoury,
der seinem eigenen Bekunden nach keinen Unterschied zwischen den
Religionen macht (vgl. Hourani 1970:278), sich in erster Linie als
arabischen Nationalisten versteht), haben die aufgeführten Beispiele
gezeigt, dass der arabische Antisemitismus, der seinen Ausdruck in
Presse, Literatur und durch die Äußerungen einzelner Intellektueller
findet (vgl. zusammenfassend Mandel 1976:228), allein anhand der
These des Antisemitismusimport durch christliche Minderheiten nicht
ausreichend erklärt werden kann. Denn die Importthese erklärt zwar,
wie und unter welchen Umständen die arabische Bevölkerung mit
antisemitischen Stereotypen in Berührung gekommen ist und warum der
Antisemitismus nach 1948 mehrheitsfähig wird. Sie kann jedoch nicht
ausreichend erklären, warum bereits vor der Zuspitzung des
Palästinakonflikts zahlreiche nicht-christliche Ägypter oder Araber
antisemitisch dachten – und warum diese in der Regel einem
nationalistischen oder islamisch-modernistischen Spektrum
entstammten. Aus diesem Grund soll im Folgenden die These des
nationalen Antisemitismus erklärt und mit den vorangegangenen Fakten
in Verbindung gebracht werden.
6. Nationaler
Antisemitismus in Ägypten und in der arabischen Welt?
7. Zusammenfassung
8. Literaturverzeichnis
Anmerkungen:
(10) Anwar al-Sadat schrieb rückblickend, die Niederlage von 1948
habe "eine geistige und politische Renaissance der arabischen
Bevölkerung" hervorgerufen (al-Sadat 1970:121).
(11) Hier sind allerdings folgende Anmerkungen hinzuzufügen. Zum
einen hat Porath (1988) versucht aufzuzeigen, dass es in der
muslimischen Haltung gegenüber der zionistischen Bewegung keine
antisemitischen Inhalte nachweisbar sind (vgl. Porath 1988:219).
Dies ist jedoch neben der Auswahl der Quellen vor allem eine Frage
der Definition von Antisemitismus. Zum zweiten handelt es sich auch
bei der ägyptischen nationalen Bewegung selbstverständlich um kein
homogenes Gebilde. Peter Mandel schreibt hierzu: "The Arab
nationalists were by no means of one mind about the Zionists."
(Mandel l976:227) Die ägyptische Dezentralisationspartei
(al-La-Markaziya) zieht beispielsweise noch zwischen 1913 und 1914
ein Bündnis mit den Zionisten in Erwägung. Gleichzeitig agiert sie
aber gegen Juden, indem sie von einer jüdischen Unterwanderung der
CUP spricht (vgl. Mandel 1976:227f.) und sich somit eines gängigen
antisemitischen Klischees bedient. Für weitere, Juden zugeschriebene
Merkmale bzw. Abstrakta vgl. Holz (2001:157ff.). Zum dritten ist es
für die im nächsten Kapitel erfolgende Überprüfung der These des
nationalen Antisemitismus in Ägypten zweitrangig, ob es sich bei
antisemitischen Äußerungen um die eines Vertreter des ägyptischen
Nationalismus oder eines arabischen Nationalisten aus Ägypten
handelt.
(12) Vgl. Kapitel 3.
(13) In Bezug auf die später vorzustellende These des nationalen
Antisemitismus ist es eigentlich gleichgültig, welcher Religion der
Verfasser antisemitischer Schriften angehört. Da die religiöse
Zugehörigkeit jedoch in Verbindung mit der Import-These eine Rolle
spielt und die These des nationalen Antisemitismus verzerren könnte,
werden im folgenden hauptsächlich Beispiele muslimischen
Antisemitismus vorgestellt.
hagalil.com
03-07-2005
|