Das Schtetl
Wirtschaftliche und soziale Strukturen
der ostjüdischen Lebensweise
Andrea Ehrlich
Teil III
-
Einleitung
-
Zur Bedeutung des
Begriffs "Ostjude"
-
Der historische
Hintergrund
-
Das Schtetl
- 4.1.
Definition
- 4.2.
Das äußere Bild des
Schtetlech -
4.3.
Die wirtschaftliche
Situation - 4.4.
Soziale Strukturen im
Schtetl - 4.5.
Der Chassidismus
als religiöses Empfinden im
Schtetl
-
Kriminalität der Ostjuden
-
Schlußgedanke
-
Verwendete Literatur
Was genau ist diese Lebensform, "die untergegangene
Welt der osteuropäischen Juden" ? Ein Schtetl war eine Kleinstadt in
Osteuropa mit jüdischer Bevölkerung, ein jüdisches Zentrum in einer
nichtjüdischen, oft ländlichen Umgebung mit einem eigenständigen,
geschlossenen Sozialsystem. In der Literatur habe ich keine Größendefinition
eines Schtetlech gefunden, keiner der Autoren gibt genau an, ob er von
Dörfern, Kleinstädten oder Stadtvierteln spricht. Es ist anzunehmen, daß die
Juden selbst jede dieser Formen liebevoll als ihr Schtetl bezeichneten, so
daß wir also von Dörfern auf dem Lande genauso wie von Kleinstädten
sprechen. In vielen kleinen Schtetlech stellten die Juden wohl den größten
Bevölkerungsanteil, wogegen sie sich in Großstädten in eigenen Stadtteilen
sammelten und nur dort die Majorität stellten. Allen diesen verschiedenen
Schtetl-Arten ist gemeinsam, daß sie keine Ghettos waren. Die Juden waren in
ihren Schtetlech nicht nur geduldet, sondern akzeptiert. Die Tatsache, daß
es trotzdem immer wieder zu grausamen Pogromen kam, hat darauf keinen
Einfluß. Auch die jüdischen Autoren, die noch selbst im Schtetl aufwuchsen,
betonen immer wieder, daß sich die Juden hier Zuhause und nicht nur als Gast
fühlen konnten. Ilex Beller schreibt in seinem Bilderbuchwerk, daß sich die
Juden in ihrem Schtetl "wie in der heiligen Stadt Jerusalem"
fühlen konnten. So auch Manes Sperber in seiner Schrift über seine
Heimatstadt Zablotow: "Dennoch waren diese Städtchen keine Ghettos,
sondern wesensgemäß ebenso wie definitionsgemäß das Gegenteil. Ein Städtel
war nicht das Anhängsel einer christlichen Gemeinde innerhalb einer
Bannmeile, nicht ein diskriminierter Fremdkörper innerhalb einer höheren
Zivilisation..."
. Diese Erklärung Sperbers ließe uns allerdings vermuten, daß ein
Schtetl kein Stadtteil einer Großstadt gewesen sein kann, denn dort gab es
ja bereits im 19. Jahrhundert definitionsgemäß die ersten Ghettos, wie etwa
in Warschau seit 1809. Andererseits untertitelt Leon Brandt ein Foto vom
Eingang zum Lubliner Ghetto mit "Das Tor zum Lubliner Stätel".
Das wirkliche Schtetlleben, wie ich es im folgendem beschreiben möchte,
konnte sich aber gewiß deutlicher in Kleinstädten herausbilden.
Genauso schwierig wie die Definition der Größe eines
Schtetlech ist folglich die Bestimmung der Anzahl der Juden, die in solchen
Schtetlech lebten. Eindeutig ist nur der Trend zur Urbanisierung. 1897
lebten 50,5% aller russischen Juden in Orten mit städtischer Verwaltung,
wogegen nur 11,8% der nichtjüdischen Bevölkerung in Städten wohnten. Von 100
Juden lebten in Polen um 1900 durchschnittlich 64 in der Stadt. Besonders
deutlich sind die Zahlen von Kongreßpolen, das durch die großen
Industriezentren Warschau, Lodz und Bialystok, große Anziehungskraft
ausübte. Während 1816 noch 32,3% der Gesamtzahl der Juden Kongreßpolens in
Landgemeinden lebten, waren es 1856 noch 14,1% und 1893 nur noch 13,5%,
entsprechend stieg der Anteil der Juden in Städten und Marktflecken. Es
bleibt das Problem, daß auch bei diesen Angaben nicht definiert ist, was
genau eine Stadt ist.
Am aufschlußreichsten sind die Zahlen aus der Sondernummer
der Süddeutschen Monatshefte. Danach gab es in Polen 288 Städte, in denen
der jüdische Bevölkerungsanteil über 25% ausmachte, in 195 Städten stellten
die Juden über 50%, in 39 über 75% und in 9 Städten sogar über 90%. Leider
wurde auch hier zu den Größen der Städte keine Aussage gemacht.
4.2) Das
äußere Bild des Schtetlech
Ein Schtetl bestand mindestens aus einem Friedhof, einem
Gebetshaus und einer mikwe, dem rituelle Badehaus. Falls das Schtetl zu
klein dafür war, bedeutete das für die Bewohner enorme Strapazen, da sie
jeden Sabbat ins Nachbarschtetl zum Rabbi mußten, die Toten mußten dorthin
getragen werden. Die größeren Schtetlech hatten sogar mehrere Synagogen und
Betstuben für die verschiedenen Handwerker, für die Händler, für die
Gelehrten und schließlich für die unterschiedlichen chassidischen Gruppen.
Das Herz des Schtetlech war der Marktplatz, der von den
großen Häusern der reichen Juden umgeben war. Hier herrschte wochentags
unvorstellbarer Trubel, denn der Markt war zugleich auch
Hauptberührungspunkt zwischen Juden und Nichtjuden, und die Bauern der
Umgebung brachten ihre Waren zum Verkauf. In den weniger wohlhabenden
Straßen des Schtetlech waren die Häuser häßlich und schmutzig, oft direkt
aneinander gebaut, um eine Wand zu sparen, dadurch aber schief und krumm. Im
Sommer wie im Winter versank man im Schlamm der Straßen. Oft mußten sich
mehrere Familien eine einzige Stube teilen. Die Armut war im äußeren
Anschein des Schtetlech nicht zu übersehen. Für die Bewohner des Schtetlech
waren solche Äußerlichkeiten nicht wichtig, denn: "Mein Schtetl, das sind
die Leute , die darin wohnen, nicht der Ort, die Gebäude oder die Straße."
Diese Einstellung ist wohl durch die lange Geschichte des Exils
geprägt worden. Immer wieder mußten Juden ihr Heim und ihre Habe
zurücklassen, um sich selbst vor Verfolgung zu retten. Andererseits läßt
sich diese Gleichgültigkeit auch religiös erklären. Denn das Leben ist nach
Ansicht der Juden, die hier in Osteuropa oft streng orthodox lebten, nur
eine Passage zum Himmel, es ist nur die Möglichkeit, gute Taten zu sammeln,
die dann im Himmel aufgewogen werden. So erklärt auch Heschel: "Die Juden
Osteuropas lebten mehr in der Zeit als im Raum. Es war, als sei ihre Seele
immer unterwegs, als ob ihr innerstes Herz keine Beziehung zu den Dingen
hätte."
Die Juden waren sich allerdings dieser Häßlichkeit
bestimmt nicht bewußt, die wenigsten von ihnen bekamen in ihrem Leben andere
Schtetl oder gar eine Großstadt zu sehen.
4.3) Die
wirtschaftliche Situation
Mit der Wende zum 19. Jahrhundert verschlimmerte sich die
wirtschaftliche Situation in Polen drastisch. Neben einer europäischen
Getreidekrise verschlechterten die langandauernden Kriege und die
Kontinentalsperre die Absatzmöglichkeiten des polnischen Getreides. Die
langsam einsetzende Industrialisierung bot dagegen wieder neue
Möglichkeiten. Es kam zu einer vollständigen Strukturumwandlung infolge der
Ausbildung des kapitalistischen Wirtschaftssystem. Das Getreide wurde häufig
für die Alkoholproduktion verwendet, die Reste wurden für eine Verbesserung
der Viehzucht eingesetzt. Durch den Aufschwung der Schafzucht wurde wiederum
die Textilindustrie angekurbelt. Die Juden lebten in günstigen Gebieten, so
lag beispielsweise das Ansiedlungsrayon wie ein Transitgebiet zwischen
Rußland und Mitteleuropa. Gerade in dieser Zeit kam es jedoch auch zur
Proletarisierung großer Teile der jüdischen Kleinhändler und Handwerker. Mit
dem Übergang zu kapitalistischen Produktionsweise wurden die Juden ihrer
traditionellen Aufgabe enthoben und gerieten in Konkurrenz mit sich neu
herausbildenden Schichten.
Zu dieser Verelendung trug in großem Maße auch die rasante
demographische Entwicklung der Juden während des 19. Jahrhunderts bei. In
Kongreßpolen erhöhte sich beispielsweise die Zahl der Juden von 400.000 im
Jahre 1825 über 575.000 im Jahre 1850 auf 1.005.000 im Jahre 1880. Das
entspricht einer jährlichen Wachstumsrate von etwa 3%, wohingegen die
Zunahme der übrigen polnischen Bevölkerung für diese Jahre nur etwa 1,45%
ausmachte.
Ausgelöst wurde diese Entwicklung aber vor allem durch die
Verdrängung der Juden aus den ländlichen Erwerbsquellen. Mit dem Einsetzen
der Industrialisierung leiteten immer mehr Gutsbesitzer ihre
wirtschaftlichen Angelegenheiten selbst und verdrängten dadurch die Juden
aus ihren Pächter- und Verwalterstellungen. Die Durchsetzung einer gezielten
Vertreibung der Juden vom Lande, kam nicht einer Initiative der Regierung
nach, vielmehr wurde dadurch dem Druck der christlichen Kaufleute,
Handwerker und Bauern nachgegeben, man fürchtete die jüdische Konkurrenz.
Mit der Schaffung des Ansiedlungsrayon wurde der Wirkungsbereich der Juden
stark eingeschränkt. Schließlich erließ das Herzogtum Warschau 1814 ein
Dekret, das den Juden Produktion und Verkauf von Alkohol untersagte, was
Zehntausende von Juden ihren Arbeitsplatz gekostet hat, ohne für
entsprechenden Ersatz zu sorgen. Zu der Zeit stellten die Juden etwa 61% der
Erwerbstätigen in Schankwirtschaft und Brennereien. Die Durchsetzung erwies
sich durch die russische Okkupation als schwierig, und so konnten viele ihre
Pacht noch einige Jahre halten, doch es wurde auf jeden Fall deutlich, daß
die Juden aus der adligen Wirtschaft verschwinden sollten. Aber auch die
Aufhebung der Leibeigenschaft in Polen und Rußland brachte einen Abzug der
Juden vom Land nach sich. Nach den Aufständen von 1830 und 1863 flohen große
Teile des polnischen Adels, der Grundbesitz wurde entweder beschlagnahmt
oder man ließ ihn verkommen. Auch mit dem Ruin der Güter verloren viele
jüdische Pächter ihre Stellung.
Damit wurde die klassische Rolle der Juden gestört, ihre
Funktion als Mittler zwischen Stadt und Land. Diese Stellung kam ihnen zwar
in ganz Europa zu, doch in Polen hatten die Juden fast eine Monopolstellung.
Dabei waren sie oft als Pächter oder Verwalter von Adelsgütern tätig,
wodurch sie auch in Kontakt mir nichtjüdischen Bauern kamen. Jüdische
Kleinhändler und Hausierer belieferten die Bauern mit Waren und Neuigkeiten
aus der Stadt und nahmen ihnen die ländlichen Erzeugnisse für den
Wiederverkauf auf einem großen Markt ab. Die Juden schlossen somit einen
ökonomischen Kreislauf zwischen Stadt und Land, zwischen Adel und Bauern.
Diese wirtschaftliche Mittlerstellung brachte allerdings auch Konflikte mit
sich. Den Juden wurde von der bäuerlichen Bevölkerung oft vorgeworfen, als
Werkzeug des Adels zu handeln, der Schutz der Feudalherren war ihnen jedoch
durch den steigenden Antisemitismus in der öffentlichen Meinung keineswegs
sicher. "Die Mittlerfunktion", so bei Haumann, "bedeutete demnach
zugleich, Träger sozialer Gegensätze zu sein."
Allgemeine Polarisierungstendenzen zeigten sich auch immer
deutlicher innerhalb der Judenschaft. Die reiche Oberschicht wich weiter von
den Massen der armen jüdischen Bevölkerung ab, nicht nur in ökonomischen
Sinne, auch in religiös-kultureller Hinsicht. Die wenigen Finanziers,
Großlieferanten und Bankdynastien assimilierten sich schnell und gaben oft
auch ihre Religion und damit ihre Herkunft auf. Die Masse der Juden lebte
zwar weiterhin traditionell und orthodox, sprach nur jiddisch und
widersetzte sich hartnäckig jeder Annäherung an das Wirtsvolk, doch dafür
wuchs die Zahl der Bettler und Kriminellen. Es kam schließlich zu einer
totalen Überbesetzung der Erwerbstellen.
Haumann weist darauf hin, daß die Juden weiterhin ein
Bindeglied im Wirtschaftskreislauf darstellten,
"Juden vermittelten im vorkapitalistischen wie im kapitalistischen Sektor
der Wirtschaft Produktion und Absatz (...). Aber: sie besaßen darauf kein
Monopol mehr."
Für die Situation im Schtetl bedeutete all das konkret:
unerträgliche Armut. Das Handwerk erlebte im 19. Jahrhundert eine enorme
Zunahme, da den Juden ja andere Erwerbsquellen entzogen wurden. So kam es zu
einer krassen Überbesetzung der Stellen. Zudem war ein großer Teil der
Handwerker nicht ausreichend qualifiziert, da der neue Beruf eher eine
Notlösung war. Durch die schlechte Ausrüstung kamen die Juden zwar nicht in
Konkurrenz mit den nichtjüdischen Handwerkern, von deren Zünften sie sowieso
ausgeschlossen blieben, aber dafür war die Konkurrenz innerhalb der
jüdischen Gemeinschaft um so schärfer. Teile der Handwerker machten sich auf
den Weg in die Großstädte, um dort in der aufkommenden Industrie Anstellung
zu finden, beispielsweise in der Textilverarbeitung in Lodz. Aber es gab
auch die Tradition der gegenseitigen Unterstützung in Form von jüdischen
Handwerksinnungen. So hatten die größeren Schtetl eigene Synagogen für die
verschiedenen Innungen, wie auch aus der literarischen Beschreibung von
Pinhas Kahanowitsch hervorgeht: "Danach kommen die Synagogen der
verschiedenen Berufsgruppen, der verschiedenen Handelszweige, (...)
Synagogen der Schuhmacher, Schneider, Schmiede, Stellmacher und Schlachter."
Ebenso wie die Handwerker stieg auch die Zahl der
Erwerbstätigen im Handelswesen Dabei blieb nur die Figur des Großhändlers
wichtig, die kleineren Händler verarmten durch die große Konkurrenz. Die
Mehrheit im Schtetl handelte weiterhin mit Lebensmitteln und
landwirtschaftlichen Produkten, auch im Alkoholhandel konnten sich die Juden
noch eine Zeit behaupten. Während in Deutschland längst Kaufhäuser mit einem
großen Warenangebot entstanden waren, prägte das Bild des Schtetlech die
typische Erscheinung der Kleinst- und Detailhändler.
Über die heillose Überbesetzung der Erwerbsstellen
berichtet Manes Sperber aus seiner Geburtsstadt Zablotow: "Die
dreitausend Einwohner waren zu neunzig Prozent Juden: Handwerker, viel mehr
als man je brauchen konnte, Händler mehr als Käufer - Händler ohne Kapital,
welche die Waren, die sie anboten, zumeist selbst noch nicht bezahlt
hatten."
Im Schtetl gab es auch viele, die kein festes Einkommen
nachweisen konnten, sie lebten von Gelegenheitshandel und, wie die Leute
sagten, von der Luft. So nannte man sie auch `Luftmenschen´. Besonders
anschaulich wird dieser Charakter in einer Geschichte von Jizchok-Lejb Perez
beschrieben, die die Erlebnisse eines jüdischen Statistikers schildert:
"`Und was habt Ihr jetzt für ein Geschäft?´ -`Wer hat ein Geschäft?´ -`Wovon
lebt Ihr?´-`Ach, das meint Ihr? Man lebt so.´-`Aber wovon?´-`Von Gott,
gelobt sei er! Wenn er gibt, so hat man.´-`Er wirft´s doch nicht vom Himmel
herunter!´-`Doch, er wirft wirklich! Weiß ich, wovon ich leb´?´ (...) `Ihr
seid also ein Makler?´-`Weiß ichs? Mitunter fällt´s mir ein, dann kauf´ ich
ein Maß Getreide.´-`Mitunter?´-`Was mitunter heißt? Wenn ich den Rubel
hab´,kauf ich.´-`Und wenn nicht ?´-`Verschaff´ ich mir den Rubel!´-`Aber wie
?´-`Was heißt wie ?´ Und es dauert eine Stunde, bis ich erfahre, daß
Lewi-Jizchok Bärenpelz mitunter Dajan ist und in Schiedsgerichten sitzt, zum
Teil Makler, hin und wieder auch Händler ist, und so ganz klein wenig
Heiratsvermittler, und manchmal, wenn es ihm einfällt, besorgt er gar
Botengänge."
Für die Berufsaufteilung der Juden ergab sich somit gegen
Ende des 19. Jahrhunderts folgendes Bild: in Kongreßpolen waren 1898 nur
noch 1,8% der Juden in der Landwirtschaft, im Handel- und Kreditwesen
dagegen 40,3% und in Industrie und Handwerk 34,7% tätig. In Rußland waren es
noch 3,5% der Juden in der Landwirtschaft, in Handel- und Kreditwesen 38,7%
und in Industrie und Handwerk 35,4%. Die übrigen Erwerbstätigen setzten sich
aus Unternehmern, Bankiers, Beamten, Geistlichen, Tagelöhnern und
Angehöriger der freien Berufe zusammen.
Viele sahen die letzte Chance, der katastrophalen Lage
infolge der Stellenübersetzung zu entkommen, in der Auswanderung nach
Übersee, schon zwischen 1870 und 1880 waren es mehr als 40.000 Juden aus
Rußland und Polen. Besonders nach der Jahrhundertwende bekamen immer mehr
Schtetlbewohner Post und finanzielle Unterstützung aus Amerika.
Das Schtetl war die reinste Form der jüdischen Tradition,
das den verschiedenen Angriffen von außen, durch Antisemitismus und Pogrome,
und von innen, durch religiöse Differenzen und die Haskala, standhalten
konnte. Wie war es aber überhaupt möglich, daß das Schtetl so lange
überlebte, trotz der immensen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, von denen
gerade berichtet wurde, trotz der immer massiveren Verfolgung und
Diskriminierung der Juden ? Ein großer Teil der Antwort liegt sicherlich in
der religiösen Überzeugung des Judentums. Wie bereits weiter oben
angesprochen, wird das Leben nur als Übergang zum Paradies betrachtet, als
Passage zum Himmel. Die Leiden auf Erden werden im Himmel doppelt gelohnt.
Andererseits gab es im Ostjudentum die stete Hoffnung auf den Messias. Die
Schtetlbewohner rechneten "jeden Augenblick mit der Ankunft des Messias,
also mit der endgültigen Erlösung (...). In den zahlreichen Bet- und
Studierstuben, die es in jedem Städtchen gab, fanden sich immer welche, die
während der endlosen Gespräche zwischen dem Nachmittags- und dem Abendgebet
bewiesen, daß eben das Übermaß von Leid und Not der Beweis dafür wäre, daß
der Messias unaufhaltsam nahte." Die zunehmende Diskriminierung erwirkte
ein verstärktes Zusammenhalten der Juden, je mehr Hindernisse ihnen in den
Weg gelegt wurden, desto hartnäckiger versuchten sie, diese zu überwinden.
Diese These unterstützt auch eine Geschichte von Oskar Baum, in der ein
Rabbi über die Möglichkeit spricht, wie man den Juden beikommen könne:
"Der Jude ist dadurch nicht umzubringen, daß man ihm Heimat, Ruhe und
Wohlergehen nimmt. Je mehr man es versucht, desto zäher wird er. Den Juden
ist nur beizukommen, sie sind nur zu vernichten, wenn man dafür sorgt, daß
es ihnen gut geht, wenn man sie als Brüder behandelt. Je wohler sie sich
fühlen, desto schwächer wird ihr Judentum, desto leichteren Herzens
verlassen sie es."
Allerdings allein in der Religion wird die Antwort nicht
zu finden sein. Vielmehr liegt "ein großer Teil der möglichen Antwort
(...) im Schtetl selbst; es ist die Art zu leben, und vor allem die Art zu
denken."
Das Schtetl birgt sowohl Anpassungsfähigkeit an die
Umwelt, wie auch starres Festhalten an Traditionen in sich. Die Bewohner
paßten sich an die jeweilige Umgebung des Schtetlech an, nahmen die
spezifischen ökonomischen Verhältnisse an und integrierten Einflüsse der
Landesprache in ihr Jiddisch. Auf der anderen Seite lebten und dachten sie
in traditionell orthodoxer Weise, wie es für das späte 19. Jahrhundert in
keinem anderen europäischen Teil zu finden ist.
Die Menschen im Schtetl sahen das Universum als ein
geplantes Ganzes, worin alles seinen Platz, seine Funktion und seinen Sinn
hat. Wenn etwas heute unverständlich erschien, würde es sich morgen erklären
lassen, man verstand es als Teil eines Langzeitprozesses, dessen
Ungereimtheiten sich später auflösten. Diese Vorstellung, unter anderem,
machte es erst möglich die Armut zu ertragen. Aber die Schtetlmenschen
lebten deshalb nicht passiv in ihrem Elend, denn der Talmud sagt: Alles ist
vorbestimmt, aber die Wahl ist gegeben. Gott hat die Welt für den Menschen
erschaffen, das Wohlergehen der Menschen ist darin wichtig, deshalb wird
sich, auch wenn man heute arm ist, alles zum Guten wenden. Gott hat den
Sabbat geschenkt, und es ist eine mizvah, ihn zu feiern und zu genießen. Im
Judentum gibt es keine Askese, außer an einigen wenigen Fasttagen, es gibt
keine jüdischen Klöster, Genuß ist für den Menschen da. Die Sabbatfeier
brachte somit auch der ärmsten Familie im Schtetl ein wenig Freude und
Ablenkung vom harten Alltag.
Jeder mußte seine Bürde tragen. Aber im Schtetl bedeutete,
ein schweres Joch zu tragen, auch die Möglichkeit, soziales Ansehen zu
erlangen, ein Mechanismus, der die Schtetlbewohner wohl vor dem Untergang
und der Kapitulation vor der Armut gerettet hat. Es war eine Genugtuung,
viel Arbeit zu haben, und die Hausfrau brüstete sich stolz damit.
Trotzdem gab es natürlich auch Menschen, die in so großer
Armut lebten, daß sie von Almosen und Unterstützung abhängig waren. Bettler
erfüllten im Schtetl eine ganz besondere Bedeutung. Das Geben war ein
zentraler Mechanismus, der das Funktionieren der Gemeinschaft garantierte.
Freitag war Schnorrertag, denn kurz vor Beginn des Sabbats
machten die Bettler ihre Runde. Diese war genau festgelegt, und man sagte
aus Spaß, daß ein Bettler die Runde seiner Tochter als Mitgift vererben
würde. Die Schnorrer wußten, wieviel sie von wem zu erwarten hatten, und
wurde der Betrag einmal nicht eingehalten, fluchten und schimpften sie so
lange, bis der Geber noch etwas dazu legte. Die Kinder wurden an das Geben
gewöhnt, weil es ihre Aufgabe war, den Bettlern die Almosen zu überreichen.
Diese sonderbare Gewohnheit war für das Sozialleben äußerst wichtig. Geben
war gleichzeitig Pflicht und Vergnügen, denn es ist schön zu geben und nicht
aufs Nehmen angewiesen zu sein. Jedes Almosen zählt im Himmel als gute Tat,
der Kredit der guten Taten im Himmel kann erhöht werden, daher waren die
Schtetlbewohner auf die Schnorrer angewiesen. Durch große wohltätige Gaben
konnte man sogar sozial aufsteigen. So entstand eine wechselseitige
Beziehung, in der jeder den anderen brauchte, die Schnorrer, um zu
überleben, die Gebenden, um die mizvah zu erfüllen. Der Schnorrer "ist
Mittler zwischen Gott und den Menschen, die an ihm Mildtätigkeit üben
`dürfen´."
Derartige soziale Abhängigkeiten gab es im Schtetl viele,
angefangen in der kleinsten Einheit, der Familie. Die Eltern brauchten
einander, ihre Gegensätze ergänzten sich. Der Vater verkörpert den Verstand
und den Denker, die Mutter stand für emotionale Aufopferung. Beide wiederum
brauchten ihre Kinder, die natürlich von den Eltern durch Versorgung und
Erziehung abhängig waren, denn Kinder zu bekommen ist eine mizvah, genauso
wie diese traditionell und religiös aufzuziehen, und so konnten die Eltern
durch ihre Kinder ihre guten Taten für den Himmel erhöhen.
Soziales Ansehen war im Schtetl sehr wichtig. Status
konnte man durch Gelehrsamkeit, Vermögen, soziales Verhalten oder
Familienabstammung erlangen.
Am wichtigsten war das soziale Ansehen, das durch
Gelehrsamkeit erworben wurde. Im Ostjudentum war das Studium der Thora die
wichtigste mizvah für den Mann. Schon im frühesten Kindesalter wurden die
Söhne der Schtetlbewohner in den Cheder, die jüdische Schule geschickt, wo
sie im Alter von drei Jahren hebräisch lesen und beten lernten. Jeder Junge
erhielt von der Gemeinde die Möglichkeit, sein Leben ganz dem Studium der
Thora zu widmen, und stellte es sich heraus, daß er besonders begabt war,
trug die Gemeinde die Kosten seiner Ausbildung. So konnte ein Sohn armer
Eltern seiner Familie zu sozialem Aufschwung verhelfen. Für Töchter aus
reichem Hause suchte man sehr begabte Thorastudenten aus, und nach der
Hochzeit wurde nicht nur ihm Kost und Logie gewährt, sondern auch seine
Familie unterstützt. Vermögen zählte im Schtetl nur in Verbindung mit
Gelehrsamkeit oder sozialer Mildtätigkeit. Ein wohlhabender Mann im Schtetl,
der weder gelehrt war, noch gewillt, für verschiedene wohltätige Zwecke zu
spenden, wurde mit größter Verachtung gestraft. Es gab viele verschiedene
Möglichkeiten für eine Spende. Man konnte arme Familien, Witwen und Waisen
unterstützen, den verschiedenen Wohlfahrtseinrichtungen aushelfen oder einen
Beitrag zur Renovierung religiöser Institutionen leisten. Beliebt war es
auch, gegen eine hohe Spende einen wichtigen Thoraabschnitt in der Synagoge
vor der Gemeinde lesen zu dürfen.
Aber auch durch das richtige soziale Verhalten konnte
Prestige erworben werden. Besaß jemand weder Geld, noch jichus oder
Gelehrsamkeit, konnte er durch die strikte Einhaltung aller religiösen
Vorschriften und Wohltaten, die nicht materieller Art waren, Ansehen
gewinnen.
Am kompliziertesten ist die Bedeutung der Abstammung für
das soziale Prestige. Der jichus setzte sich aus der Abstammung von
verschiedenen gelehrten, wohlhabenden oder charismatischen Persönlichkeiten
zusammen. Je wichtiger die Vorfahren waren, desto größer war der jichus.
Gleichzeitig war damit aber auch das eigene Prestige bezeichnet, das durch
die vorherigen drei Komponenten erworben wurde, denn wer durch die Vorfahren
jichus besaß, mußte sich trotzdem behaupten. Ein Mädchen aus einer
bedeutenden Familie durfte auf keinen Fall unter ihrem jichus heiraten.
Das Ideal war eine Verbindung aller dieser Kriterien, also
ein vermögender Mann mit beachtlichem jichus, der sein Leben der Thora und
einem richtigen sozialen Verhalten widmete. Man nannte sie auch die
"schejne(n) jidn", und sie bildeten die Oberschicht im Schtetl. Darunter
waren Gelehrte, die Rabbiner und chassidischen Führer, Gemeindeangestellte,
wie zum Beispiel der Dajan, eine Art Richter, und vermögende
Gemeindemitglieder. Die Schejnen genossen das höchste soziale Ansehen im
Schtetl. Die Angehörigen der Mittelschicht wurden auch Balebatim bezeichnet.
Sie besaßen sehr wenig soziales Ansehen und waren meist größere Händler und
Pächter. Die Mittelschicht pflegte die traditionelle Lebensweise des
Ostjudentums nicht so streng, und so waren es auch deren Kinder, die als
erste staatliche Schulen besuchten. Die Mitglieder der Unterschicht,
Kleinsthändler, Tagelöhner, Bauern, Luftmenschen, Wasserträger und Bettler,
wurden geringschätzend "proste" genannt. Auch innerhalb dieser Schicht gab
es noch Abstufungen, so war ein Schneider beispielsweise sozial höher
gestellt als ein Wasserträger. Allen Prosten war gemein, daß sie das Lernen
als den höchsten Wert ansahen, auch wenn sie selbst aufgrund ihres Einkommen
nicht in der Lage waren, ihr Leben der Thora zu widmen. Der Charakter eines
Prosten ist in der Figur "Tewje der Milchmann" von Scholem Alejchem exakt
dargestellt.
Dieses System der Schichtung zeichnete sich durch große
soziale Mobilität aus. Ein Proster hatte die Möglichkeit über das Lernen
sozial aufzusteigen. Ein lernender Sohn konnte den jichus seiner Eltern
verbessern. Die Chancen im Schtetl waren viel größer als in christlichen
Gemeinschaften, den Juden war es lediglich unmöglich in den Adel
aufzusteigen.
4.5) Der
Chassidismus als religiöses Empfinden im Schtetl
Selten hat eine religiöse Bewegung wie der Chassidismus
innerhalb des Judentums eine so große Auswirkung gehabt. Bis heute ist seine
Anhängerschaft groß und verfügt auch über politischen Einfluß im Staat
Israel.
Der Chassidismus begann einstmals als innovative
Volksbewegung als Reaktion auf eine tiefe Krise innerer Selbstzweifel im
Judentum, einhergehend mit den politischen und ökonomischen Katastrophen des
17. Jahrhunderts, sowie dem jahrzehntelang anhaltenden Aufruhr, der durch
den falschen Messias Schabbtai Zwi ausgelöst wurde. Die in der Thora
verankerte Erwartung des Messias und die damit verbundene Erlösungshoffnung
schien endlich erfüllt zu werden. Zahlreiche Juden verfielen dem Scharlatan
und blieben ihm selbst nach seinem Übertritt zum Islam treu. Eine neue Blüte
erreichte diese Bewegung hundert Jahre später mit den sog. Frankisten unter
Jakob Frank, die mit einem Massenübertritt zur katholischen Kirche endete.
Als Folge darauf konzentrierte sich das klassische, rabbinische Judentum
noch strikter auf die rationale Einhaltung und das Studium der Schriften,
die Kluft zwischen der geistigen Elite und den einfachen Schtetlbewohnern
wurde unüberbrückbar. Der Chassidismus war eine Protestbewegung gegen diese
starren Formen, die den Juden wieder Hoffnung und spirituelles Erleben
ermöglichte.
Der Chassidismus stellte die Kabbala in die Mitte des
Lebens und machte sie zu einer aktiv gelebten Mystik. Der Zaddik, der
"Gerechte" und Führer einer chassidischen Gemeinschaft, lebte in einem
Paradox. Einerseits war er Mystiker, der in ständiger Verbindung zu Gott
stand und ständig, nicht nur während des Gebetes, mit ihm kommunizierte;
andererseits war er verpflichtet sich unter die Gemeinde zu begeben, um sie
zu inspirieren und an seiner Vision teilhaben zu lassen. Er wurde zum
Mittler zwischen Gott und den Menschen. Dieser ganz persönliche Umgang mit
dem Zaddik steht im Gegensatz zur Idee des rabbinischen Judentums.
Der Chassidismus bejaht Freude, Tanz und Gesang, das
zuckungsartige Hin- und Herschauckeln beim Gebet ist Ausdruck dieser
Lebensauffassung. Chassidismus bedeutet aus der Kraft tiefer Begeisterung
für Gott zu leben und auch der einfache Chassid kann mit seiner Ekstase und
Konzentration zur Erlösung beitragen. Jede religiöse Bekundung, egal wie
unorthodox, wird von Gott beachtet. Der Zaddik war für die menschliche Seite
des Schtetlech da, er predigte Hoffnung und freudige Liebe Gottes, und das
tat er in jiddisch. Er mischte sich aber nicht in die Angelegenheiten des
Schtetlech ein, das war Sache des Rabbiners, er verstand nichts von
Rechtsprechung, und böse Zungen behaupteten, daß die meisten Zaddikim totale
Ignoranten waren. Er war außerdem durch seine höchste Stellung , der
Kenntnis der Kabbala und des "geheimen" Namen Gottes fähig, Wunder zu
vollbringen uns so nannte man die Zaddikim auch Wunderrabbis.
Es ist leicht nachvollziehbar, daß die Lehre des
Baal-Schem-Tow bald von weiten Teilen der Juden, vor allem auch in der
Jugend begeistert aufgenommen wurde. Sie bot eine Alternative zu der streng
orthodoxen Form des klassischen Rabbinismus oder der Rätselsprache der rein
theoretischen Kabbala. Schon in der dritten Generation hatte sich der
Chassidismus über ganz Rußland, Polen, Galizien, Rumänien und Teilen Ungarns
und Tschechiens verbreitet. In Polen mußten an hohen jüdischen Feiertagen
Sonderzüge eingesetzt werden, um die Chassidim zu ihrem Zaddik zu bringen.
In der Spätphase wurden die anfängliche Protestbewegung
der Zaddikim zunehmend selbstherrlicher. Mit dem Übergang zu den Rebbe-Höfen
und Rebbe-Dynastien wurde die Führungskraft an den Sohn weitervererbt, falls
kein Sohn vorhanden war, dann schon auch mal auf den Schwiegersohn. So war
aber nicht garantiert, daß der Erbe tatsächlich auch über mystische
Fähigkeiten verfügte. Der Bescht selbst hatte seine Position gerade nicht
seinem Sohn übergeben, sondern ließ durch eine Prüfung den Besten ermitteln.
Tatsächlich stellte sich die Wirklichkeit der chassidischen Rebbe-Höfe
weniger idealistisch dar. Die Höfe waren über ganz Osteuropa verteilt. Sie
bestanden aus Wohnungen des Rebben, seiner Familie, der Dienstboten, einem
Badehaus, Lagerhäusern, Ställen und riesigen Küchen. Die meisten Zaddikim
hatten eigene Treibhäuser, einen eigenen Schlächter, Zimmerer und
Schuhmacher. Ein Schtetl, in dem ein berühmter Rebbe wohnte, lebte von dem
Rebbe, oder besser gesagt von all den Leuten, die ihn besuchten. Viele
Zaddikim wurden enorm reich: "Der Rebbe war sehr reich, und ich meine
sehr. Die Rebezen, die Frau des Rebbe hatte in ihrem Haus vierzehn Zimmer.
Das Haus war mit den teuersten Landschaftstapeten dekoriert, mit Bildern von
der Größe einer ganzen Wand." Am Hof herrschte eine Art ständiger
Sabbat, es fanden häufig Feiern statt, auf denen getanzt, gesungen und
getrunken wurde, wobei sich die Chassidim von der Zurückhaltung, die sie im
Schtetl wahren mußten, lösen konnten. Die meisten Tage verliefen allerdings
in ruhiger Monotonie. Denn auch hier war der Sabbat der Höhepunkt der Woche,
dabei vor allem das tojre sagen des Zaddik. Normalerweise sprach er in
jiddisch eine Interpretation auf mystisch-ethischer Basis des
Wochenabschnitts der Thora.
Von all dieser Freude und den Feiern waren allerdings
Frauen ausgeschlossen. Die Trennung von Männern und Frauen lief bei den
Chassidim strenger als normal im Schtetl. Sie waren immer ganz genau darauf
bedacht, keinen Blick auf Frauen zu werfen, obwohl manche behaupteten, die
Chassidim würden sehr Vieles sehen und auch recht gern. Es gibt aber auch
die Geschichte eines Zaddiks, der aufs Land fuhr, um seine Nichte zu
besuchen. Im Haus setzte er sich und forderte wie üblich: "Gib mir ein Glas
Tee" ohne die Augen auf die Frau gerichtet zu haben. Erst als er eine fremde
Stimme ihn fragen hörte: "Ist er stark genug?" bemerkte er, daß er im
falschen Haus gelandet war.
Der Zaddik empfing zwar Frauen, um sie zu beraten und um
ihnen zu helfen, aber sie durften nicht am Hofe weilen und an den Feiern
teilnehmen. Die Folge war, daß viele Chassidim ihre Frauen und Kinder an
Sabbat oder den Feiertagen alleine ließen, um den Zaddik zu besuchen und
dafür das letzte Geld ausgaben. Die Frauen waren dadurch oft auf Almosen
angewiesen, um überhaupt Sabbat feiern zu können.
Oft wurden Geschäfte oder Ehen am Hofe des Rebben
geschlossen, was den Vorteil hatte, daß der Segen des Zaddiken darüber
stand. Man konnte den Zaddik auch zum Teilhaber eines Geschäftes machen. Der
Chassid stellte das Kapital zur Verfügung, der Zaddik spendete den Segen und
der Gewinn wurde geteilt. Viele der Zaddikim haben so ihr großes Vermögen
erworben. Kritisiert wurde in der Spätphase ab 1870 auch, daß die Zaddikim
die religiös völlig fanatisierte Volksmassen ausbeuten würden, viele von
ihnen betonten so auch, daß sie auf bürgerliche Rechte verzichten würden,
wenn man sie nur ihr religiöses Leben führen ließe, was natürlich auf Kosten
der Armen ging.
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1996© Andrea Ehrlich
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