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Die NZZ Heute!

Neuer Blick auf die Reichskristallnacht:
Ungereimtheiten in der Vorgeschichte und bei den Folgen

Von Vincent C. Frank*

Das Attentat auf den deutschen Botschaftsrat Ernst Vom Rath am 7. November 1938 in Paris gilt als Auslöser der Ereignisse der Kristallnacht zwei Tage später. Der folgende Beitrag zählt Tatsachen auf, die Zweifel an dieser so plausiblen Ursachenkette belegen, und beweist dadurch, dass die Kristallnacht lange vor ihrer sogenannten Ursache geplant wurde. Weitere Zweifel werden geäussert, ob die Schüsse von Herschel Felber Grynszpan, die den Tod Vom Raths zur Folge hatten, wirklich ohne deutsches Zutun abgegeben wurden.

Das Pogrom in der Kristallnacht vom 9. auf den 10. November 1938 hat laut damaligen Berichten 267 Synagogen erfasst, an die Zivilisten Feuer gelegt hätten. 25 000 Juden seien verhaftet und in Konzentrationslager gebracht worden. 7500 jüdische Geschäfte sowie unzählige jüdische Wohnungen seien verwüstet worden. Die Zahl der ermordeten Juden wurde mit 35 angegeben. Diese Zahlen sind Untertreibungen. Die wirklichen Zahlen konnten bis heute nicht ermittelt werden, liegen jedoch mit Sicherheit höher: Vor 1938 gab es über 1000 Synagogen in Deutschland; heute nur wenige. Die Differenz wurde grösstenteils in jener Nacht zerstört. Die Zahl der Toten beträgt über 100.

Grynszpan und Vom Rath

Hermann Grünspan, ein eher verwahrloster Jüngling aus Hannover, lebte seit 1936 bei Verwandten zuerst in Brüssel, dann in Paris. Seine Eltern polnisch-jüdischer Herkunft in Hannover waren soeben über die deutsche Grenze ins Niemandsland nach Polen getrieben worden. Am Morgen des 7. November 1938 erschien Grynszpan in der Deutschen Botschaft in Paris. Vom Rath empfing den «unbekannten Besucher», der auf ihn fünf Schüsse abgab. Zwei davon trafen. Vom Rath wurde ins Spital gebracht; sein Zustand wurde als «ernst, nicht zu unmittelbarer Besorgnis Anlass gebend» bezeichnet.

Professor Georg Magnus aus Münster und Hitlers Leibarzt Karl Brandt wurden nach Paris geflogen mit dem Auftrag, «medizinische Hilfe zu leisten». Hitler beförderte Vom Rath um drei Stufen zum Botschaftssekretär 1. Klasse; die Mutter Vom Raths wurde nach Paris geflogen. Die deutschen Ärzte befahlen ihr, keinesfalls mit ihrem Sohn zu sprechen. Sollte dieser wohl sein Geheimnis mit ins Grab nehmen? Vom Rath starb am 9. November kurz nach 16 Uhr. Staatssekretär Ernst von Weizsäcker flog nach Paris, um die Überführung der Leiche zu regeln. In Berlin fand dann ein Schaubegräbnis statt, bei dem Hitler sprach.

Konzentrationslager vorbereitet

Beim alljährlichen Kameradentreff im Hotel Vier Jahreszeiten in München am 9. November 1938 traf die Nachricht vom Tode Vom Raths ein. Hitler gab Goebbels und Heydrich grünes Licht für die Kristallnacht. Was dann geschah, war mit Sicherheit nicht die Reaktion des aufgebrachten Volkes über das Attentat auf einen Diplomaten niedrigen Ranges und niedrigen Adels. Allgemein akzeptiert ist heute, dass SA, Polizei und andere Organisationen koordiniert wurden durch die Sicherheitspolizei der SS, das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) unter Heydrich. Die Vorbereitung für das Pogrom muss über viele Monate hinweg höchst sorgfältig erfolgt sein, denn es erfasste gleichzeitig und gleichartig alle Orte Deutschlands, wo Juden lebten. Nur jüdische Geschäfte wurden zerstört, auch solche ausländischer Juden, aber kein nichtjüdisches Geschäft. Nur solche Synagogen wurden angezündet, bei denen keine Gefahr bestand, dass Nachbargebäude in Flammen aufgehen konnten. Einige Synagogen wurden eigenartigerweise schon eine Nacht früher abgebrannt. Nichtjüdische Häuser und Wohnungen blieben verschont. Derartige Planung konnte nicht in Stunden oder selbst in Tagen geschehen.

Die drei grössten Konzentrationslager, Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen, waren auf Oktober 1938 hin stark erweitert worden, um einige zehntausend zusätzliche jüdische Gefangene aufzunehmen. Am 25. Oktober 1938 erhielt der SS-Oberscharführer Weber im KZ Dachau den Auftrag, Judensterne auf 5000 Drillichgarnituren nähen zu lassen - dabei war kein einziger Jude im Lager. In diesen Tagen wurde Stroh angeliefert; auch stellte man zusätzliche Matratzen bereit. Eines der aufschlussreichsten Indizien der langfristigen Planung für die Kristallnacht hat Richter Berthold Löwenstein aus Leipzig festgehalten: 1933 verlor er seine Richterstelle, doch hielt er weiterhin enge Kontakte zu seinem früheren Vorgesetzten Inspektor Egelke, der im Amt verblieben und wie er Freimaurer war. Entgegen seinem bisherigen Rat empfahl Egelke im Januar 1938, Deutschland nun doch im kommenden Jahr besser zu verlassen - es eile aber nicht. Am 29. Oktober 1938 kam Egelke von einer Sitzung im Wirtschaftsministerium in Berlin und informierte aufgeregt seinen Freund Löwenstein, dass nach allem, was er gehört habe, schreckliche Dinge mit den deutschen Juden noch vor Mitte November gemacht würden. Mehr konnte oder wollte er nicht sagen, doch drängte er Löwenstein, innert dreier Tage abzureisen, und als sich dies als unmöglich erwies, bestand er auf einer Abreise vor dem 5. November 1938.

Der entlassene jüdische Polizeidirektor Konrad Kaiser unterhielt ebenfalls enge Kontakte zu seinen früheren Kollegen; er sagte aus, im Juni 1938 hätten die Kriminalpolizei, die Geheimpolizei, die Ortspolizei und die Steuerbehörden dem RSHA Listen von Juden einreichen müssen, deren Einweisung ins KZ vorzusehen sei. Die SS- Wochenzeitung «Schwarzes Korps» vom 3. November 1938 enthält einen Artikel, der die Sprachregelungen für die Ereignisse der kommenden Woche ihren Lesern vermittelt.

Robert Kempner wirft die Frage auf, ob Grynszpan nicht durch deutsche Agenten in Paris gesteuert worden sei, denn die offizielle Version, die sich ausschliesslich auf einen Bericht des deutschen Botschafters stützt, erschien ihm unglaubwürdig. Er hatte Meldungen von deutschen Geheimdienstlern, die in Restaurants und Bars von Homosexuellen in Paris verkehrten. Leider hat dieser erfahrene Staatsanwalt und Ankläger in Nürnberg den letzten Artikel seines Lebens nicht mit Fussnoten versehen. Er schrieb über seinen Verdacht, doch selbst er tappte im dunkeln, was wirklich geschehen war. Seinen und den zusätzlich hier gegebenen Indizien sei beigefügt, dass Reinhardt Heydrich im Oktober 1938 in Paris war - bis heute wissen wir nicht, was er dort trieb.

In Gefangenschaft

Nach dem Attentat auf Vom Rath wurde Grynszpan verhaftet. Die französische Polizei lieferte ihn ins Jugendgefängnis Fresnes bei Paris ein. Sein Verteidiger wurde der bekannte Antifaschist Vincent Moro-Giafferi. Deutschland schickte Professor Friedrich Grimm. der den Prozess zu beschleunigen und auf deutsche Interessen zu trimmen hatte und dabei erstaunliche Unterstützung durch den französischen Aussenminister erhielt. Doch die französisch-deutschen Beziehungen verschlechterten sich rapide. Damit nahmen auch die Chancen für prodeutsche Propaganda während eines Grynszpan-Prozesses ab. Grimm stellte seine Taktik auf Verzögerung um.

Im Mai 1940 marschierten deutsche Truppen in Frankreich ein. Die Insassen des Gefängnisses Fresnes wurden nach Bourges evakuiert; Grynszpan wurde dort gestattet zu fliehen. In Toulouse holte ihn ein auf ihn angesetzter SS-Trupp ein, verhaftete ihn, brachte ihn zurück ins besetzte Frankreich und von dort ins Konzentrationslager Sachsenhausen in Deutschland. Grynszpan wurde dort besser behandelt als die anderen Insassen. Er wurde nie geschlagen oder gefoltert. Er sollte stets vorzeigbar bleiben für den Fall eines Prozesses. Auch wurde Sorge getragen, dass er keine Misshandlungen anderer Gefangener sah. Verschiedentlich wurde er zum Verhör nach Berlin ins Gefängnis Alt-Moabit übergeführt. Das Propagandaministerium von Goebbels und das Aussenministerium bereiteten mit Sorgfalt einen Schauprozess vor dem Reichsgericht in Leipzig vor. Darüber sind die Akten erhalten. Es sollte bewiesen werden, dass Grynszpans Mord an Vom Rath, ebenso wie die Schüsse von David Frankfurter auf Wilhelm Gustloff in Davos 1936, Teile einer Verschwörung des internationalen Judentums waren. Dieses sollte auch schuld sein am Krieg Frankreichs gegen Deutschland. Protokolle der Besprechungen auf hohem Niveau, meist unter Vorsitz von Georg Freisler, geben Einblicke, wie Schauprozesse vorbereitet wurden. Sie bleiben aber schwierig zu interpretieren.

Hitlers Rolle

Eindeutig ist, dass die Ministerien für Propaganda und Äusseres unbedingt den Prozess durchführen wollten, während die SS und das Justizministerium mehr als zurückhaltend waren. Zum zentralen Hindernis wurde, dass der Staatsanwalt in der Anklage einen kurzen Hinweis auf mögliche homosexuelle Beziehungen zwischen Opfer und Täter gemacht hatte und gemäss Gesetz dem Angeklagten eine Kopie der Klageschrift hatte zukommen lassen. Dadurch hatte dieser einen Hinweis bekommen, wie er sich erfolgreich verteidigen könnte. Niemand wollte einen Milieufall schaffen, der an den Röhm-Putsch erinnert hätte. Der Ankläger, ein hoher SS-Offizier, war über jeglichen Verdacht der Sabotage erhaben, doch wurde schon damals festgestellt, dass er dem Angeklagten eigentlich in die Hände gespielt hatte. Tat er dies unbeabsichtigt oder auf höheren Befehl? Ein anderer Schwachpunkt des Verfahrens war die illegale Überführung von Grynszpan aus dem unbesetzten Frankreich in die von Deutschland besetzte Zone.

Der Richter, ebenfalls ein Mitglied der SS, erklärte, dass er den Prozess nur dann durchführe, wenn Hitler in Kenntnis dieser zwei Schwachpunkte ihn ausdrücklich anordne. Allgemein einig war man sich bei diesen Vorbereitungen, dass Fehler wie beim Prozess um den Reichstagsbrand zu vermeiden seien. So wurde der Fall Hitler vorgetragen, der vorerst keine Einwände gegen die Durchführung des Prozesses hatte, doch wenige Tage später seine Zustimmung zurückzog - wodurch alles in der Schwebe blieb. Der Prozess konnte nicht stattfinden.

Kempner schrieb in seinem Aufsatz, dass Professor Grimm ausgesagt habe, Leopold Gutterer, Staatssekretär im Propagandaministerium, habe ihm gesagt: «Wir würden in einem Prozess uns furchtbar blamieren, wenn dabei die Wahrheit herauskäme.» Sofern dies richtig berichtet ist, so hätte Goebbels' Ministerium, das anfänglich so eifrig auf einen Schauprozess hingearbeitet hatte, schliesslich doch erfahren, was in Paris in den Tagen vor dem 9. November 1938 wirklich geschehen ist. Daraus hätte es dann die richtige Schlussfolgerung gezogen, dass die Wahrheit ein zu hohes Risiko war! Wir kennen bis heute diese Wahrheit nicht. Auch Grynszpans weiteres Schicksal ist unbekannt; es gibt aber ein hartnäckiges Gerücht, wonach er überlebt habe und von Frankreichs Geheimdienst mit einer neuen Identität ausgestattet worden sei.

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* Vincent C. Frank war beruflich tätig in der Rheinschiffahrt, Beamter in der Handelsabteilung des EVD Bern und im Finanzdepartement des Kantons Basel-Stadt. Als engagierter Zeitgeschichtler tritt er sporadisch mit Beiträgen zu ausgewählten Themen an die Öffentlichkeit.

Neue Zürcher Zeitung - (Mittwoch, den 04.11.1998)

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