"... ein Fehler der Weltgeschichte"? -
Judentum, Zionismus und Antisemitismus aus der Sicht
Rudolf Steiners
Von Ralf Sonnenberg
Begegnungen mit dem Wiener Antisemitismus – Die
"Homunkulus"-Rezension von 1888
Die politische Prägung seiner Wiener
Lehrjahre charakterisierte Steiner rückblickend 1901 und 1925 als
"liberal" bzw. "deutschnational", wobei er sich explizit von dem
Antisemitismus der österreichischen Deutschnationalen und
Deutschliberalen distanzierte.(9)
Der Herausgeber und Redakteur
des "Magazins für Literatur" versicherte 1900 durchaus glaubwürdig,
dass "damals, als ein Teil der nationalen Studentenschaft
Österreichs antisemitisch wurde, mir das als eine Verhöhnung aller
Bildungserrungenschaften der neuen Zeit erschien."(10)
Schon in seiner Universitätszeit, so bekannte Steiner in einem 1901
erschienenen Aufsatz, habe er in der damaligen Studentenschaft eine
Zunahme antijüdischer Gesinnungen unter dem Einfluss der Propaganda
des "Alldeutschen" Georg von Schönerer (1842-1921) beobachten
können. Die brodelnde Atmosphäre in der habsburgischen
Vielvölkermetropole des Fin de siècle bot neben von Schönerer
bekanntlich auch Agitatoren wie Karl Lueger, Karl Hermann Wolf und
Franz Stein eine geeignete Plattform zur Entfaltung ihrer
politischen Demagogie.(11)
In dem erwähnten Beitrag setzte sich Steiner kritisch mit der
gesellschaftlichen Genese des Wiener Antisemitismus auseinander.
Seine diesbezüglichen Erfahrungen bilanzierte er wie folgt: "Ich sah
jeden Tag unzählige Beispiele von Korrumpierung des logischen
Denkens durch dumpfe Gefühle."(12)
Bereits 1881 äußerte sich der
20-Jährige in einem Brief an den Publizisten Rudolf Ronsperger über
den rassistisch motivierten Antisemitismus des Ex-Sozialisten,
Philosophen und Nationalökonomen Eugen Dühring (1833-1921), dessen
judeophoben Sentenzen er als "barbarischen Unsinn", als "ärgsten
Ausbund aller philosophischen Rückläufigkeiten" apostrophierte.(13)
Dührings "Schriften über die Juden" erschienen dem Schreiber als
"die strengsten Konsequenzen seiner beschränkten egoistischen
Philosophie".(14)
Die Kritik Steiners galt vor allem dem im selben Jahr in Berlin
erschienenen Pamphlet "Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und
Kulturfrage", in dem Dühring einen unversöhnlichen Gegensatz von
semitischer und arischer Rasse postulierte und programmatisch die
Re-Ghettoisierung der europäischen Juden verlangte.(15)
Das früheste Zeugnis aus der Feder
Steiners, das dem Thema Judentum ausführlicher gewidmet ist, stammt
jedoch aus dem Jahr 1888. Es handelt sich hierbei um eine Rezension
des Buches "Homunkulus. Modernes Epos in 10 Gesängen" des
österreichischen Lyrikers und Dramatikers Robert Hamerling
(1830-1889).(16)
Die Besprechung erschien in der "Deutschen Wochenschrift", welche
fünf Jahre zuvor von dem jüdischen Historiker und Publizisten
Heinrich Friedjung (1851-1920) begründet worden war und deren
Redaktion Steiner zwischen Januar und Juli 1888 innehatte.
Hamerling war als Autor von Zeit- und
Sittengemälden in Erscheinung getreten, von denen vor allem das 1866
erschienene Versepos "Ahasver in Rom" einige Berühmtheit erlangte.(17)
In der Gestalt des Nero versinnbildlichte der Dichter den
prometheischen Leidensweg des Menschen, der aus seiner kreatürlichen
Beschränkung ausbrechen will und dem "ewigen Juden Ahasver" die
unbesiegbare Gattung Mensch entgegensetzt. Das Motiv des sich den
Göttern widersetzenden, den prüfungs- und entsagungsreichen Weg der
Individuation einschlagenden Titanen dürfte Steiner in dieser Phase,
die durch eine intensive Rezeption der Schriften Goethes, Schellings
und Fichtes gekennzeichnet war, besonders fasziniert haben.(18)
Die Veröffentlichung der Rezension des "Homunkulus" trug dem
Selbstzeugnis Steiners nach zu einer vorübergehenden Entfremdung von
seinem Arbeitgeber Ladislaus Specht bei, einem Baumwollspediteur
jüdischer Abstammung, dessen vier Söhne er als Privatlehrer zu
unterrichten hatte.
(19)
Nach Darstellung des Rezensenten
beabsichtigte Hamerling in seinem Roman den seelenlosen,
entindividualisierten Menschen als den Repräsentanten des modernen
Zeitgenossen zu porträtieren. Hamerlings Zivilisationskritik war
somit auch ein Produkt der Ende der 19. Jahrhunderts in zahlreichen
literarischen Gattungen dominierenden kulturpessimistischen und
antimodernistischen Haltung. Der Retortenmensch Hamerlings
durchläuft "alle Stadien modernen Lebens. Bei ihm scheinen alle
Verkehrtheiten desselben auf die Spitze getrieben und dadurch in
ihrer inneren Hohlheit".(20)
Homunkulus wird Journalist, Billionär, verbindet sich mit Lurlei,
der lasziven Nixe, dem "Typus echter, moderner weiblicher Unnatur"
(Steiner), gründet einen Staat seelenloser Affen, in dem alle
Begriffe des Natürlichen auf den Kopf gestellt erscheinen und
predigt schließlich den Juden die Auswanderung nach Palästina. Damit
ist ihm zunächst sogar Erfolg beschieden. Da die Juden sich aber als
unfähig erweisen, einen eigenen Staat zu führen, kehren sie schon
bald enttäuscht nach Europa zurück. Homunkulus, der als König des
Volkes Israel von dessen Angehörigen ans Kreuz genagelt wird,
verbündet sich mit seinem Retter Ahasverus, dem ewigen Juden. Er ist
fortan wie dieser zu ruheloser Vagabondage verdammt: "Er kann nicht
sterben, er wird ein Spiel der Elemente, aus denen er maschinenartig
zusammengesetzt ist. Der seelenlose Mensch kann nicht glücklich
werden. Nur aus dem eigenen Selbst kommt unser Glück. Ein tiefes,
gehaltvolles Inneres allein vermag Befriedigung zu geben. Wer ein
solches nicht hat, ist im höheren menschlichen Sinne nicht wahrhaft
entstanden. Wo dieser Urquell fehlt, erscheint das Leben als eine
Irrfahrt ohne Ziel und Zweck."
(21)
Steiner bekannte sich in seiner
Besprechung ausdrücklich zu dem Wahrheitsgehalt der satirischen
Bildkollage Hamerlings. Dessen "Homunkulus" sei es gelungen, der
Zeit ihre Verirrungen vorzuhalten. Von einer antisemitischen
Instrumentalisierung einzelner Aussagen des Dichters distanzierte
sich der Rezensent ausdrücklich und verwies demgegenüber auf die
realitätsgetreue Schilderung der Persiflage, die weder
judenfeindlich noch philosemitisch sei:
"Was aber hat die Kritik aus
diesem ‹Homunkulus› gemacht? Sie hat ihn herabgezerrt in den
Streit der Parteien, und zwar in die widerlichste Form
desselben, in den Rassenkampf."
… um dann fortzufahren:
"Es ist gewiss nicht zu leugnen,
dass heute das Judentum noch immer als geschlossenes Ganzes
auftritt und als solches in die Entwicklung unserer
gegenwärtigen Zustände vielfach eingegriffen hat, und das in
einer Weise, die den abendländischen Kulturideen nichts weniger
als günstig war. Das Judentum als solches hat sich aber längst
ausgelebt, hat keine Berechtigung innerhalb des modernen
Völkerlebens, und dass es sich dennoch erhalten hat, ist ein
Fehler der Weltgeschichte, dessen Folgen nicht ausbleiben
konnten. Wir meinen hier nicht die Formen der jüdischen Religion
allein, wir meinen vorzüglich den Geist des Judentums, die
jüdische Denkweise. … Juden, die sich in den abendländischen
Kulturprozess eingelebt haben, sollten doch am besten die Fehler
einsehen, die ein aus dem grauen Altertum in die Neuzeit
hereinverpflanztes und hier ganz unbrauchbares sittliches Ideal
hat. Den Juden selbst muss ja zuallererst die Erkenntnis
aufleuchten, dass alle ihre Sonderbestrebungen aufgesogen werden
müssen durch den Geist der modernen Zeit."
(22)
Steiners Bezugnahme auf die
Schattenseiten des zivilisatorischen Prozesses gerät in der
Darstellung von 1888 zu einem pauschalen Verdikt über die
Erscheinungsformen zeitgenössischer jüdischer Kultur und Religion,
dessen oszillierende Semantik einen Raum für Assoziationen
aufschließt, die der Leser nach Gutdünken an den Text herantragen
konnte. Das genuin "Jüdische" wird als antiquiert und somit
historisch überholt abgetan – zugleich aber auch im Kontext moderner
zivilisatorischer "Dekadenzerscheinungen" wie Materialismus,
Utilitarismus und Hedonismus situiert. Die antimodernistischen
Attributszuschreibungen dienen Steiner als kritische
Bestandsaufnahme des zeitgenössischen kulturellen und
gesellschaftlichen Lebens, für dessen Charakterisierung er die
"jüdische Denkweise" offenbar als Prototyp zivilisatorischer
Entartung in Rechnung stellt. Dazu steht nicht im Widerspruch, dass
der Verfasser des "Homunkulus"-Aufsatzes die judenfeindliche
Agitation seiner Zeit scharf kritisiert, den "Rassenkampf" gar als
die widerlichste Form" des "Streites der Parteien" inkriminiert.
Denn die Verwendung antijudaistischer Klischees und Vorurteile, wie
sie zum "kulturellen Code" (Shulamit Volkov) auch des liberalen
Bildungsbürgertums im ausgehenden 19. und beginnenden 20.
Jahrhunderts gehörten, blieb selbst von solchen Zeitgenossen
vielfach unbemerkt, die sich wie Steiner öffentlich gegen die
politische Propaganda der Rassenantisemiten wandten.(23)
Trotz massiver Vorbehalte gegenüber
dem nicht näher charakterisierten "Geist des Judentums", der sich
nach Meinung des Rezensenten nachteilig auf die abendländische
Kultur und Gesellschaft ausgewirkt habe, nahm dieser in der
"Judenfrage" eine assimilatorische Position ein. Denn: "… die Juden
brauchen Europa und Europa braucht die Juden."(24)
Steiner plädierte für das gesellschaftliche Zusammenleben von Juden
und Nichtjuden, jedoch keinesfalls für eine europäisch-jüdische
"Symbiose", die den wechselseitigen kulturellen Transfer unter
Ebenbürtigen zur Voraussetzung hätte haben müssen.(25)
Das "Judentum als solches" und die
"abendländischen Kulturideen" bilden vielmehr aus seiner Perspektive
einen unvereinbaren Gegensatz, obwohl das Diasporajudentum ein
genuiner Bestandteil des europäischen Kulturraums war und gerade im
letzten Quartal des 19. Jahrhunderts Angehörige des Reformjudentums
in der liberal-bürgerlichen Gesellschaft Österreichs zunehmend an
Bedeutung gewannen. Das Fortbestehen des Judentums erschien dem
27-Jährigen als Anachronismus, als ein "Fehler der Weltgeschichte",
dessen "Folgen" – gemeint war wohl die Entstehung des modernen
Antisemitismus – "nicht ausbleiben konnten" – ein subtiler, aber
gleichwohl seine Wirkung nicht verfehlender Vorwurf, der zum
Standardrepertoire der antijudaistischen Propaganda jener Zeit
gehörte und bisweilen auch von assimilierten Juden erhoben wurde.
(26)
Eine Würdigung des Diasporajudentums
und seines Beitrags für die "abendländischen Kulturideen" etwa in
der Herausbildung und Schaffung einer eigenständigen Theologie oder
Mystik sucht man in dem Artikel von 1888 vergebens.
Signifikanterweise fehlt in Steiners früher Charakterisierung des
zeitgenössischen Judentums jeder Versuch einer Konkretisierung oder
Differenzierung. Stattdessen erschöpft sich dessen Beurteilung des
zeitgenössischen jüdischen Lebens in einer Aneinanderreihung von
Negativ-Stereotypen, die in der Unterstellung kulminiert, dass das
"Judentum als geschlossenes Ganzes", dessen Fortbestehen ein
historischer Irrtum sei, in die "Entwicklung unserer gegenwärtigen
Zustände vielfach eingegriffen" habe. Was aber von der "jüdischen
Denkweise" infolge dieses "Eingreifens" in die Zivilisation der
Gegenwart hinein wirke, sei – so der zum sprachlichen Mittel der
gesteigerten Negation greifende "Homunkulus"-Rezensent – "nichts
weniger als günstig" für die "abendländischen Kulturideen".
Steiners Jonglieren mit mehrdeutigen
Anspielungen und Bildern im Kontext der "Judenfrage" erwies sich
realpolitisch als ein nicht unriskantes Unterfangen: Die "Deutsche
Wochenschrift" war Sprachrohr des "Deutschen Clubs", einer
radikaleren Abspaltung der österreichischen "Verfassungspartei",
deren deutschnationalistische und zum Teil offen antisemitische
Mitgliederschaft in zahlreiche Richtungsfehden verstrickt war, wovon
eine um das 1885 judenfeindlich zugespitzte Linzer Programm Georg
von Schönerers kreiste. Steiners Inferiorisierung des jüdischen
Geistes und dessen Ausstrahlung auf die europäische Kulturlandschaft
dürfte auf die Schönerer-Sympathisanten unter den
"Wochenschrift"-Lesern wie eine ideologische Nachreichung zur
politischen Forderung gewirkt haben, wonach eine "Beseitigung des
jüdischen Einflusses auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens
unerlässlich" sei (12. Punkt des Linzer Programms, 1885).
Prekär auch: Der Gründer der
"Wochenschrift", der bereits erwähnte Journalist Heinrich Friedjung,
ein assimilierter Jude und Antizionist, war 1886 von der Herausgabe
der Zeitschrift zurückgetreten. Zuvor war es zwischen Friedjung, der
an der ersten Fassung des Linzer Programms maßgeblich beteiligt war,
und von Schönerer über die "Judenfrage" zum Eklat gekommen – und es
ist nicht auszuschließen, dass auch interne Auseinandersetzungen mit
Anhängern der Schönerer-Fraktion Friedjung zu dem Schritt bewogen
hatten, die Edition der "Wochenschrift" niederzulegen.(27)
Der Affront Steiners zielte zu einem
Teil auf die politischen Forderungen zionistischer Akteure, welche
die vornehmlich in den westeuropäischen Staaten in Auflösung
begriffenen jüdischen Identitäten unter nationalistisch-religiösen
Vorzeichen zu revitalisieren trachteten. In seinem Buch parodierte
Robert Hamerling das Ansinnen des Homunkulus, in Palästina den
Judenstaat auszurufen. Sämtliche jüdische "Sonderbestrebungen"
sollten, so die Auffassung des "Wochenschrift"-Redakteurs, "durch
den Geist der modernen Zeit" absorbiert werden – eine
Erwartungshaltung, die neben den meist separatistischen
Zielsetzungen der sich eben erst formierenden zionistischen Bewegung
wohl in erster Linie religiös-orthodoxen Denkweisen des Judentums
galt. Doch Steiners Ablehnung des "Jüdischen" erschöpfte sich nicht
in der Zurückweisung bestimmter religiöser oder politischer
Ausdrucksformen. Seine Deklassierung des "Judentums als solchem"
lief vielmehr auf eine Negation desselben hinaus.
Insbesondere seine Formulierung "Wir meinen hier nicht die
Formen der jüdischen Religion allein, wir meinen vorzüglich
den Geist des Judentums, die jüdische Denkweise
…" (Hervorhebung R.S.) widerspricht der Interpretation, wonach der
Verfasser des "Homunkulus"-Artikels lediglich zionistische und/oder
traditionelle Erscheinungsformen des Diasporajudentums habe
kritisieren wollen, während er "in Wirklichkeit" sogar ein
"Bewunderer" jüdischer Kultur gewesen sei – eine apologetische
Entlastungsbehauptung, für deren Berechtigung es in dem fraglichen
Text nicht den geringsten Anhaltspunkt gibt.
(28)
In Steiners antijüdischer
Kulturkritik, vor allem im damals unter Nichtjuden und auch vielen
Assimilanten obligatorischen Vorwurf der jüdischen
Abgeschlossenheit, spiegelte sich der vorurteilsgeleitete Blick der
christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft auf eine Minderheit
wider, wie ihn Historiker der vergangenen Jahre anhand zahlreicher
Fallbeispiele nachgewiesen haben.(29)
Die Exponenten der jüdischen Orthodoxie verloren im Wiener
Gemeindeleben seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend
an Einfluss. Den weltanschaulich konkurrierenden Reformjuden aber
ließ sich schwerlich ein fundamentalistisches bzw.
antiaufklärerisches Religionsverständnis unterstellen, da ihre
herausragendsten Repräsentanten gerade zu den Gegnern eines solchen
zählten. Aufgrund der erfolgreich voranschreitenden Assimilation
sowie der wachsenden Fragmentierung jüdischen Lebens konnte zum
Zeitpunkt der Niederschrift des "Homunkulus"-Beitrags somit keine
Rede mehr davon sein, dass das Judentum "noch immer als
geschlossenes Ganzes" den Fortschrittstendenzen der Moderne
Widerstand entgegensetze. Der von Steiner erhobene Vorwurf der
Homogenität täuschte zudem über die Tatsache hinweg, dass es in der
zweitausendjährigen Geschichte der Diaspora weder eine kulturelle
noch ethnische Einheit der Juden gegeben hatte. Ihre Geschichte
zeichnete sich vielmehr seit der Antike durch religiöse Gegensätze
und Spannungen aus, zu denen sich seit dem 18. Jahrhundert noch der
Konflikt zwischen den Anhängern der "Haskala" und denen der
Orthodoxie hinzugesellte.
(30)
Die Anklänge zu der vor allem seit der
Aufklärung gebräuchlichen, oft fragwürdigen Polarisierung von
jüdischer Gesetzesethik und christlichem Freiheitsgedanken sind in
Steiners früher antijudaistischer Haltung unübersehbar.(31)
Seinem idealistisch geschulten Verständnis zufolge beschrieben
Termini wie "Geist des Judentums" oder "Geist der Neuzeit" offenbar
eine dem gewöhnlichen Bewusstsein unzugängliche höhere Realität.(32)
Es handelt sich bei den begrifflichen Konnotationen "Geist des
Judentums" und "jüdische Denkweise" folglich nicht nur um bloße
Metaphern für den Juden zugeschriebene kollektivmentale
Eigenschaften, sondern um idealistische Hypostasen vermeintlich
"jüdischer" Merkmale.
Es ist anzunehmen, dass sich der
"Homunkulus"-Rezensent, dessen Lektüren idealistischer Denker aus
dieser Zeit überliefert sind, bereits frühzeitig die Position
aufgeklärt-christlicher Denker von Kant bis Hegel zu Eigen machte,
die dem Diasporajudentum seine Existenzberechtigung absprachen.(33)
An die Stelle der Ablösung des Judentums durch die christliche
Offenbarung trat in Steiners idealistischem Denken die Beerbung von
"Religion" und "Offenbarung" durch eine radikalindividualistische
Orientierung , die er in seinem 1894 erschienenen Hauptwerk "Die
Philosophie der Freiheit" als "ethischen Individualismus" bezeichnen
sollte.(34)
Steiners Inkriminierung der "jüdischen
Denkweise" kann somit nur vor dem Hintergrund seiner
idealistisch-"monistischen", tendenziell aber antinomistischen
Kritik an den zeitgenössischen Offenbarungsreligionen verstanden
werden. Dem die jüdische Religion und den jüdischen Geist in toto
verdammenden Verdikt von 1888 stehen gleich mehrere Äußerungen
Steiners aus den Jahren vor der Jahrhundertwende gegenüber, deren
argumentative Stoßrichtung gegen die normative Ethik und den
Jenseitsglauben der christlichen Religion verläuft.(35)
Vor allem aus der überwiegend enthusiastischen Haeckel-, Stirner-
und Nietzsche-Rezeption in der Periode vor 1900 lässt sich ersehen,
dass der damals einen "individualistischen Anarchismus" (36)
favorisierende Steiner ein vehementer Gegner des konfessionellen
Dogmas war. Die dualistische Ausrichtung des kirchenchristlichen
Bekenntnisses, nicht selten gepaart mit einem militanten
Ressentiment gegenüber den Erkenntnissen der naturwissenschaftlichen
Deszendenztheorie sowie den Autonomie- und Liberalitätsidealen der
Moderne, veranlasste bereits den 26-Jährigen in den "Einleitungen zu
Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften" zu einer harschen
Zurückweisung des theologischen Offenbarungsglaubens.(37)
Steiners ablehnende Haltung gegenüber
dem "Geist des Judentums" basierte zu einem erheblichen Teil also
darauf, dass der Bekenner einer "monistischen" Weltsicht in der
dualistischen, agnostischen und antiindividualistischen Haltung –
wie sie neben den christlichen Konfessionen auch das orthodoxe
Judentum über weite Strecken hin auszeichnete – den Stein des
Anstoßes erblickte. Die im "Homunkulus"-Beitrag von 1888 polemisch
zugespitzte Wendung "aus dem grauen Altertum in die Neuzeit
hereinverpflanztes und hier ganz unbrauchbares sittliches Ideal"
verweist in ihrer Quintessenz auf ein Denken im Sinne des "ethischen
Individualismus", das nicht bereit ist, sich dem Einfluss religiöser
Dogmen bzw. moralischer Imperative zu unterwerfen.
Die
Dreyfus-Affäre
Kritik des Zionismus und des
Antisemitismus – Herausgeber des "Magazins" und Autor der
"Mitteilungen" des Berliner Abwehr-Vereins
Das Judentum als Katalysator und
kulturelles "Zersetzungsferment"
"Die Bedeutung des semitischen
Impulses in der Welt"
War Rudolf Steiner ein "völkischer
Antisemit"? Kritische Kurzbibliografie und Resümee
Anmerkungen:
(9)
Siehe Rudolf Steiner: Verschämter Antisemitismus,
in: "Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus" 46
(1901), in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Kultur- und
Zeitgeschichte 1887-1901 (GA 31), Dornach 1966, S. 398-414,
sowie ders.: Mein Lebensgang (GA 28), Dornach 1986, S.
144 f.
(10)
Siehe Rudolf Steiner: Ahasver, in: "Magazin
für Literatur" 35 (1900), in: ders.: Gesammelte Aufsätze,
S. 378-381, hier 379.
(11)
Vgl. Brigitte Hamann: Hitlers Wien. Lehrjahre
eines Diktators, München 1998, S. 337-435.
(12)
Steiner: Verschämter Antisemitismus, hier S.
405.
(13)
Brief Steiners vom 27. Juli 1881 an Rudolf
Ronsperger, in: Rudolf Steiner: Briefe 1 (GA 38), Dornach
1985, S. 21.
(14) Ebenda.
(15)
Eugen Dühring: Die Judenfrage als Racen-, Sitten
und Culturfrage, Berlin 1881.
(16)
Rudolf Steiner: Robert Hamerling: "Homunkulus".
Modernes Epos in 10 Gesängen, in: "Deutsche Wochenschrift" 16
/17 (1888), in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Literatur 1884 -
1902 (GA 32), Dornach 1971, S. 145- 155. Zu Steiners
philosophisch-literarisch orientierter Hamerling-Rezeption siehe
Thomas Kracht: Robert Hamerling. Sein Leben – sein Denken zum
Geist, Dornach 1989, S. 139-148.
(17)
Robert Hamerling: Ahasver in Rom, 1866.
(18)
Vgl. Lindenberg: Rudolf Steiner, Bd. 1, S.
152- 260.
(19) Siehe Rudolf Steiner: Mein Lebensgang,
S. 143-145.
(20)
Steiner: Robert Hamerling, S. 147.
(21)
Ebenda, S. 149.
(22)
Ebenda, S. 152.
(23)
Die gesellschaftliche Akzeptanz antijüdischer
Stereotypen zeigte sich im Deutschen Reich einige Jahre zuvor
während des Berliner Antisemitismusstreits 1879/81: "Die Wahrnehmung
des Judentums … war in beiden Lagern, bei den deutschnational
patriotisch gesinnten Anhängern Treitschkes ebenso wie bei seinem
liberalen Kontrahenten Mommsen und denen, die diesem als dem
Vorkämpfer gegen reaktionären Antisemitismus Beifall spendeten,
weithin von den gleichen Bildern und Denkfiguren bestimmt."
Aus: Wolfgang Benz: Bilder vom Juden. Studien zum alltäglichen
Antisemitismus, München 2001, S. 59. Siehe ferner
Christhard Hoffmann: Geschichte und Ideologie: Der Berliner
Antisemitismusstreit 1879/81, in: Wolfgang Benz/ Werner Bergmann
(Hg.): Vorurteil und Völkermord. Entwicklungslinien des
Antisemitismus, Freiburg i.Br. 1997, S. 219-251.
(24)
Ebenda., S. 148.
(25)
Dazu Benz: Bilder vom Juden, S. 44-56.
(26) Zur Verbreitung judenfeindlicher Topoi
gerade unter assimilierten Juden siehe mittlerweile klassisch Sander
L. Gilman: Jüdischer Selbsthass. Antisemitismus und die
verborgene Sprache der Juden, Frankfurt a.M. 1993.
(27) Zu diesem Komplex vgl. Steven M. Lowenstein
(Hg. u.a.): Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, 4
Bde., hier: Umstrittene Integration 1871-1918 (Band 3),
München 1997, S. 184 f. sowie Brigitte Hamann: Hitlers Wien,
S. 344 ff.
(28)
"Den Einfluss des avantgardistischen Judentums auf
die abendländischen Kulturideen des 19. Jahrhunderts" habe der
"Homunkulus"-Rezensent "für überaus günstig" befunden, mutmaßt
beispielsweise Lorenzo Ravagli fernab jeder quellenkritischen
Analyse der in Rede stehenden Passage. Siehe Lorenzo Ravagli:
Unter Hammer und Hakenkreuz. Der völkisch-nationalsozialistische
Kampf gegen die Anthroposophie, Stuttgart 2004, S. 28 f.
(29)
Hierzu grundlegend Andreas Gotzmann: Eigenheit und
Einheit: Modernisierungsdiskurse des deutschen Judentums der
Emanzipationszeit, Leiden 2002.
(30) Vgl. Christoph Schulte: Die jüdische
Aufklärung. Philosophie, Religion, Geschichte, München 2002.
(31)
Gudrun Hentges: Schattenseiten der Aufklärung. Die
Darstellung von Juden und "Wilden" in philosophischen Schriften des
18. und 19. Jahrhunderts, Schwalbach/Ts. 1999, S. 90 ff.
(32)
Zu Steiners Hegel-Rezeption, von der vermutlich auch
sein späterer esoterischer Entwurf einer kosmopolitisch angelegten
"Völkerpsychologie" inspiriert war, siehe Günther Dellbrügger:
"Das Erkennen schlägt die Wunde und heilt sie". Hegels Kampf um die
menschliche Intelligenz, Stuttgart 2000, S. 55-95.
(33)
Zur kontroversen Diskussion um antisemitische
Positionen in den Werken herausragender Vertreter der Aufklärung,
der Romantik und des philosophischen Idealismus siehe etwa folgende
Literaturauswahl: Hans-Joachim Becker: Fichtes Idee der Nation
und das Judentum, Amsterdam 2000; Micha Brumlik:
Deutscher Geist und Judenhass. Das Verhältnis des philosophischen
Idealismus zum Judentum, München 2000; Horst Gronke/
Thomas Meyer/ Barbara Neißer (Hg.): Antisemitismus bei Kant und
anderen Denkern der Aufklärung, Würzburg 2001; Gudrun
Hentges: Schattenseiten der Aufklärung.
(34)
In der Philosophie der Freiheit bekannte sich
Steiner zu einer Ethik, deren Ziel es sei, gedankliche Intuitionen
hervorzubringen und diese auf die jeweiligen Lebenssituationen
anzuwenden. Siehe Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit.
Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode,
Berlin 1894. Dem Inhalt nach wird dieser "ethische Individualismus"
von ihm bereits in den Grundlinien einer Erkenntnistheorie der
Goetheschen Weltanschauung (1886) thematisiert.
(35)
Zu Steiners ablehnenden Haltung gegenüber den
christlichen Konfessionen, die erst nach 1900 einem deren
Teil-Verdienste betonenden, in der Schaffung einer
"christlich-rosenkreuzerischen Esoterik" kulminierenden Burgfrieden
weichen sollte, vgl. Christoph Lindenberg: Individualismus und
offenbare Religion. Rudolf Steiners Zugang zum Christentum,
Stuttgart 1995 sowie Lorenzo Ravagli/ Günter Röschert:
Kontinuietät und Wandel. Zur Geschichte der Anthroposophie im Werk
Rudolf Steiners, Stuttgart 2003, S. 36-73.
(36)
Den Begriff des "individualistischen Anarchismus"
prägte der Dichter und Stirner-Forscher John Henry Mackay
(1864-1933), zu dem Steiner vorübergehend freundschaftliche Kontakte
unterhielt. Der von Mackay intendierte gewaltfreie "theoretische
Anarchismus" fand Steiners Zustimmung, wie aus einem öffentlichen
Schreiben an diesen hervorgeht. Siehe Rudolf Steiner: Antwort an
John Henry Mackay, in: "Magazin für Literatur" 39 (1898), in:
ders.: Gesammelte Aufsätze (GA 31), S. 283-287, hier 264.
(37) Rudolf Steiner.: Einleitungen zu Goethes
Naturwissenschaftlichen Schriften. Zugleich eine Grundlegung der
Geisteswissenschaft (Anthroposophie), Dornach 1987, S. 176 f.
Auch in einer 1886 erschienenen propädeutischen Schrift wandte sich
Steiner ausdrücklich gegen den kategorischen Imperativ Kants
bzw. gegen von außen oktroyierte religiöse
Sittlichkeitsmaximen: "Der Mensch lässt sich nicht von einer äußeren
Macht Gesetze geben, er ist sein eigener Gesetzgeber. Wer sollte sie
ihm, nach unserer Weltsicht, auch geben? Der Weltengrund hat sich in
die Welt vollständig ausgegossen; er hat sich nicht von der Welt
zurückgezogen, um sie von außen zu lenken, er treibt sie von innen;
er hat sich ihr nicht vorenthalten. Die höchste Form, in der er
innerhalb der Wirklichkeit des gewöhnlichen Lebens auftritt, ist das
Denken und mit demselben die menschliche Persönlichkeit." Aus:
Rudolf Steiner: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der
Goetheschen Weltanschauung, Dornach 1984, S. 125.
hagalil.com
08-11-2009
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