"... ein Fehler der Weltgeschichte"? -
Judentum, Zionismus und Antisemitismus aus der Sicht
Rudolf Steiners
Von Ralf Sonnenberg
Kritik des Zionismus und des Antisemitismus
– Herausgeber des "Magazins" und Autor der "Mitteilungen" des
Berliner Abwehr-Vereins
In einem 1897
erschienenen Artikel über die "Sehnsucht der Juden nach Palästina"
äußerte sich der Redakteur des "Magazins für Literatur" zur
Entstehung der nationaljüdischen Bewegung. Seine Aufmerksamkeit galt
dem im selben Jahr in Basel stattfindenden Ersten Zionistenkongress,
an dem zahlreiche Vertreter des Zionismus aus Osteuropa teilnahmen.
Den Vorsitzenden des Kongresses, Theodor Herzl und Max Nordau,
attestierte er eitle und demagogische Absichten. Die Anhänger des
Zionismus, so der Tenor dieses Beitrags, zeichne zudem
Überempfindlichkeit gegenüber der antisemitischen Agitation aus,
deren Bedeutung überschätzt werde, da der Antisemitismus politisch
ohnmächtig sei:
"Ich
halte die Antisemiten für ungefährliche Leute. Die Besten unter
ihnen sind wie die Kinder. Sie wollen etwas haben, dem sie die
Schuld zuschreiben können an einem Übel, an dem sie leiden. …
Viel schlimmer als die Antisemiten sind die herzlosen Führer der
europamüden Juden, die Herren Herzl und Nordau. Sie machen aus
einer unangenehmen Kinderei eine welthistorische Strömung; sie
geben ein harmloses Geplänkel für ein furchtbares Kanonenfutter
aus. Sie sind Verführer, Versucher ihres Volkes." (44)
Steiners
Vorbehalte gegenüber den Protagonisten des Zionismus, die das Übel
des Antisemitismus politisch zu instrumentalisieren suchten und in
deren Verlautbarungen in manchen Fällen auch die Sehnsucht nach
einem ethnisch homogenen Staat Palästina mitschwang, waren nicht
völlig unbegründet. In jüngerer Zeit hat zudem der Historiker
Michael Brenner auf die narzisstischen Anteile im Selbstverständnis
und Auftreten Herzls hingewiesen.(45)
Allerdings unterschätzte Steiner in dem oben genannten Beitrag auf
groteske Weise die Gefahr der antisemitischen Bewegung, die ja zu
diesem Zeitpunkt sowohl in Österreich, wo die Christlich-Soziale
Partei Karl Luegers seit 1895 den Wiener Stadtrat dominierte, als
auch in Deutschland, wo 1893 antisemitische Abgeordnete 16
Reichstagssitze eroberten und judenfeindliche Vereine und
Organisationen Zulauf erhielten, politische Erfolge zu verbuchen
hatte.
Steiners Kritik zionistischer Aktivitäten fügte sich – was Inhalt
und Duktus der Ausführungen angeht – fast nahtlos in das
zeitgenössische Spektrum ablehnender Stimmen zum Zionismus ein.(46)
Die pauschale Zurückweisung zionistischer Bestrebungen erscheint aus
heutiger Sicht umso unverständlicher, als im Jahr des Basler
Kongresses bereits Zehntausende so genannter Ostjuden nach Mittel-
und Westeuropa geflohen waren. Hierbei handelte es sich um Menschen,
die Zuflucht vor den nach der Ermordung Zar Alexanders II. 1881 im
russischen Reich ausbrechenden Pogromen suchten. Gerade unter den
osteuropäischen Aschkenasim, die in ständiger Angst vor Übergriffen,
Vertreibung und Ermordung lebten, fiel somit die zionistische
Programmatik, welche einen weitgehend souveränen jüdischen
Nationalstaat verhieß, auf fruchtbaren Boden. In den Augen Steiners
und der meisten seiner Zeitgenossen erschienen jedoch sowohl die
zionistische Vision von der Schaffung eines Judenstaates im
historischen Stammland Palästina als auch die auf Rassenseparation
bedachte Propaganda der Antisemiten als eine ernsthafte Bedrohung
des erfolgreich verlaufenden Assimilations- und
Akkulturationsprozesses der westeuropäischen Juden. Noch im Mai
1924, also wenige Monate vor seinem Tod, begründete der Anthroposoph
seine ablehnende Haltung gegenüber dem Zionismus damit, dass der
Forderung nach der Schaffung eines jüdischen Nationalstaates ein
reaktionärer Geist innewohne: "Solch eine Sache ist heute gar nicht
zeitgemäß; denn heute ist dasjenige zeitgemäß, dem jeder Mensch,
ohne Unterschied von Rasse und Volk und Klasse und so weiter sich
anschließen kann."(47)
Eine frühe Berührung mit dem Thema Judentum und Antisemitismus
verdankte der Redakteur des "Magazins" der engen Freundschaft zu dem
jüdischen Dichter und Dramatiker Ludwig Jacobowski (1868-1900),
dessen vor allem lyrisches Werk Steiner in verschiedenen Aufsätzen
würdigte. Jacobowski starb im Alter von 32 Jahren an Tuberkulose.
Aus der Feder Steiners, der für den Verstorbenen die Grabrede auf
dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee hielt, liegen einige
Nachrufe auf den Freund vor.(48)
Auch gab Steiner posthum zwei Gedichtbände des Autors mit den Titeln
"Stumme Welt" und "Ausklang" heraus.(49)
Jacobowski, der zeit seines Lebens an einem "jüdischen Selbsthass"
(50)
litt und als dezidierter
Assimilationist judenfeindliche Stereotypen verinnerlicht hatte(51),
wurde von Steiner als sensibler und rastlos arbeitender
Schriftsteller dargestellt, der sich neben seiner Tätigkeit in dem
von ihm begründeten Berliner Literatenkreis "Die Kommenden" auch
politisch engagierte.(52)
Gegen Ende seines Lebens war er Mitarbeiter im Bureau der
"Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus".(53)
Dem Gedächtnis Steiners nach gehörte Jacobowski "zu denen, die mit
ihrer inneren Entwicklung längst über das Judentum hinausgewachsen
waren. Er gehörte aber auch zu denen, die in tragischer Weise fühlen
mussten, welche Zweifel man einem solchen Hinauswachsen aus blinden
Vorurteilen heraus entgegenbrachte."
(54)
Diese Episode ist insofern interessant, als Steiner – wohl auf
Anregung Jacobowskis hin – eine Serie von Artikeln verfasste, die
sich mit der judenfeindlichen Ideologie kritisch auseinandersetzten.(55)
Seine diesbezüglichen Kommentare, die sowohl in den "Mitteilungen"
des Berliner Abwehr-Vereins als auch im "Magazin für Literatur"
erschienen, ließen an Eindeutigkeit wenig zu wünschen übrig. Die
antijüdische Ideologie erschien ihm als "Inferiorität des Geistes",
den Protagonisten der Judenfeindschaft attestierte Steiner ein
"mangelhaftes ethisches Urteilsvermögen" und "Abgeschmacktheit", die
"jeder gesunden Vorstellungsart ins Gesicht" schlügen.(56)
Begegnungen mit antisemitischen Agitatoren der Wiener Studentenjahre
resümierend machte der Schreiber deutlich, dass es für ihn "nie eine
Judenfrage gegeben" habe. Denn: "Ich habe den Menschen nie nach
etwas anderem beurteilen können als nach den individuellen,
persönlichen Charaktereigenschaften, die ich an ihm kennenlerne. Ob
einer Jude war oder nicht: das war mir immer ganz gleichgültig."(57)
Der Antisemitismus aber sei "ein Hohn auf allen Glauben an die
Ideen. Er spricht vor allem der Idee Hohn, dass die Menschheit höher
steht als jede einzelne Form (Stamm, Rasse, Volk), in der sich die
Menschheit auslebt."(58) Durch die
judenfeindliche Argumentation werde "die Logik entthront".(59)
Einen "verschämten Antisemitismus" glaubte Steiner unter solchen
Hochschulabsolventen auszumachen, die sich von liberalen und
demokratischen Idealen verabschiedet hätten: Ihre antijüdische
Weltanschauung verfüge "nicht gerade über ein großes Besitztum an
Gedanken, nicht einmal über ein solches an geistreichen Phrasen und
Schlagwörtern. Man muss immer wieder dieselben abgestandenen
Plattheiten hören, wenn die Bekenner dieser ‹Lebensauffassung› den
dumpfen Empfindungen ihrer Brust Ausdruck geben."(60)
In der Propaganda der Antisemiten erblickte Steiner eine Gefahr
sowohl für Juden als auch für Nichtjuden, die es "auf allen Gebieten
so energisch als möglich" zu bekämpfen gelte.(61)
Hatte der Kommentator des Basler Zionistenkongresses noch die von
der antisemitischen Agitation ausgehende Bedrohung verharmlost, so
erwies sich das politische Urteilsvermögen des für den Abwehr-Verein
schreibenden Autors als realitätsnaher. Einem zentralen Topos der
antijüdischen Ideologie, dem Steiner in seiner
"Homunkulus"-Rezension Jahre zuvor selber noch angehangen hatte,
galt nun zudem dessen ausdrückliche Kritik: "Wer offene Augen für
die Gegenwart hat, der weiß, dass es unrichtig ist, wenn man meint,
es sei die Zusammengehörigkeit der Juden untereinander größer als
ihre Zusammengehörigkeit mit den modernen Kulturbestrebungen. Wenn
es in den letzten Jahren auch so ausgesehen hat, so hat dazu der
Antisemitismus ein Wesentliches beigetragen. Wer, wie ich, mit
Schaudern gesehen hat, was der Antisemitismus in den Gemütern edler
Juden angerichtet hat, der musste zu dieser Überzeugung kommen."(62)
Diese Passage könnte auch als ein Eingeständnis Steiners gelesen
werden, als Redakteur der "Wochenschrift" selbst einmal dem
antijudaistischen Klischee der Unvereinbarkeit von "ein
geschlossenes Ganzes" bildendem Judentum und modernen
"abendländischen Kulturideen" erlegen zu sein. Zugleich werden die
Ursachen für die vermeintliche oder tatsächliche Abgeschlossenheit
jüdischer Gemeinden in Europa nicht mehr ausschließlich den Juden,
sondern der Wirkung antisemitischer Propaganda angelastet, in der
Steiner eine Gefahr für den Prozess der Assimilation erblickte.
In seinen Beiträgen für die "Mitteilungen" des Abwehr-Vereins
beabsichtigte der Autor der von den Antisemiten gezeichneten
Karikatur jüdischen Lebens ein idealistisches Menschenbild entgegen
zu setzen, das im Geiste seiner 1894 erschienenen "Philosophie der
Freiheit" den Primat der Individualität gegenüber Beschränkungen des
Geschlechts und der Abstammung in die Waagschale warf.(63)
Steiners Gewahren einer ewigen Entelechie, die in jedem Menschen –
unabhängig von den geno- bzw. phänotypischen Bedingungen ihres
In-Erscheinung-Tretens – nach Verwirklichung ihrer vorgeburtlichen
Intentionen strebe, bot offenbar einen gewissen Schutz davor, in den
Parolen der Rassenantisemiten eine politische Option zur "Lösung"
der sozialen Frage zu erblicken.
Das Judentum als
Katalysator und kulturelles "Zersetzungsferment"
"Die Bedeutung des semitischen
Impulses in der Welt"
War Rudolf Steiner ein "völkischer
Antisemit"? Kritische Kurzbibliografie und Resümee
Anmerkungen:
(44)
Rudolf Steiner: Die Sehnsucht der Juden nach
Palästina, in: "Magazin für Literatur" 38 (1897), in: ders.:
Gesammelte Aufsätze, S. 196-201, 199 f.
(45)
Michael Brenner: Warum München nicht zur
Hauptstadt des Zionismus wurde – Jüdische Religion und Politik um
die Jahrhundertwende, in: ders./ Yfaat Weiss (Hg.):
Zionistische Utopie – israelische Realität. Religion und Nation in
Israel, München 1999, S. 39-52, hier 40 ff.
(46) Siehe zum Beispiel Heiko Haumann: "Eine
jüdische Schweiz auf Actien?" Innerjüdische Opposition gegen den
Zionismus, in: Ders. (Hg.): Der Erste Zionistenkongress von
1897. Ursachen – Bedeutung – Aktualität, Basel 1997, S. 333-334.
(47)
Aus: Rudolf Steiner: Vom Wesen des Judentums.
Vortrag vom 8. Mai 1924, in: ders.: Die Geschichte der Menschheit
und die Weltanschauung der Kulturvölker (GA 353), S. 179-196,
hier 188.
(48)
Rudolf Steiner: Ludwig Jacobowski, in: ders.:
Gesammelte Aufsätze zur Literatur 1884-1902 (GA 32), S.
92-104 sowie ders.: Ludwig Jacobowski: Ein Lebens- und
Charakterbild des Dichters, in: ders.: Biographien und
biographische Skizzen (GA 33), Dornach 1967, S. 179-213.
(49)
Rudolf Steiner (Hg.): Stumme Welt. Symbole.
Skizzen aus dem Nachlass von Ludwig Jacobowski, Minden 1901.
Siehe auch ders. (Hg.): Ausklang. Neue Gedichte aus dem Nachlass
von Ludwig Jacobowski, Minden 1901.
(50)
Sander L. Gilman: Jüdischer Selbsthass, S. 126
f. Vgl. Ritchie Robertson: The "Jewish Question" in German
Literature 1749-1939, Oxford 1999, S. 279. In seinem Roman
Werther, der Jude (Dresden 1892) – nach Gilman ein Zeugnis
jüdischen Selbsthasses – lässt Jacobowksi autobiografische
Erfahrungen mit der judenfeindlichen Agitation in der fiktiven
Gestalt des assimilierten jüdischen Studenten Leo Wolff Revue
passieren.
(51)
Ismar Schorsch fasst Ludwig Jacobowskis ambivalentes
Verhältnis zum Judentum und zum Antisemitismus folgendermaßen
zusammen: "Anti-Semitism is indeed based upon fact and can only be
overcome by a drastic ethical reformation of the entire Jewish
community." Und weiter: "The response to anti-Semitism of this
alienated Jew (Jacobowski) was thus marked by extreme vacillation
between criticism of his coreligionists and defiant reaffirmation of
Judaism." Aus: Ismar Schorsch: Jewish Reactions to German
Anti-Semitism, 1870-1914, New York 1972, S. 47 und 95.
(52)
Steiner: Ludwig Jacobowski: Ein Lebens- und
Charakterbild, S. 188-191.
(53)
Ludwig Jacobowskis genauere Tätigkeit im Verein zur
Abwehr des Antisemitismus konnte bisher nicht verifiziert
werden. Fred B. Stern hält es für wahrscheinlich, dass der Autor für
Jahre das Amt des stellvertretenden Schatzmeisters innehatte. Siehe
Fred B. Stern: Ludwig Jacobowski. Persönlichkeit und Werk eines
Dichters, Darmstadt 1966, S. 26 f. Lindenberg erbringt
leider keinen Quellennachweis für seine Behauptung, Jacobowski habe
das Bureau des "Vereins" geleitet. Vgl. Lindenberg: Steiner.
Biografie, Bd. 1, S. 283.
(54)
Steiner: Ludwig Jacobowski: Ein Lebens- und
Charakterbild, S. 191.
(55)
Steiner: Ahasver; ders.: Verschämter
Antisemitismus; ders.: Adolf Bartels, der Literarhistoriker,
in: "Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus"
37 (1901), in: Gesammelte Aufsätze (GA 31), S. 382-386;
ders.:
Die "Post" als Anwalt des Germanentums, in:
"Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus" 30
(1901), in: ebenda, S. 387-388; ders.: Ein Heine-Hasser, in:
"Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus" 38
(1901), in: ebenda, S. 388-393; ders.: Der Wissenschaftsbeweis
der Antisemiten, in: "Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des
Antisemitismus" 40 (1901), in: ebenda, S. 393-398; ders.:
Zweierlei Maß, in: "Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des
Antisemitismus" 50 (1901), in: ebenda, S. 414-417; ders.:
Idealismus gegen Antisemitismus, in: "Mitteilungen aus dem
Verein zur Abwehr des Antisemitismus" 52 (1901), in: ebenda, S.
417-429.
(56)
Steiner: Ahasver, S. 379.
(57)
Ebenda, S. 378 f.
(58)
Steiner: Verschämter Antisemitismus, S. 412.
(59)
Ebenda, S. 404.
(60)
Ebenda, S. 398.
(61)
Ebenda, S. 413.
(62)
Ebenda, S. 409.
(63)
Steiner: Philosophie der Freiheit, S. 226 f.
Siehe auch Lorenzo Ravagli: Rudolf Steiners Stellungnahmen zum
Antisemitismus im Frühwerk, in: ders.: "Jahrbuch für
anthroposophische Kritik 2002", München 2002. S. 125-163.
hagalil.com
08-11-2009
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