Europa:
Die Stunde der Wahrheit
Gastbeitrag von Außenminister Philippe Douste-Blazy in der
Tageszeitung Le Monde vom 22.
Juni 2005
Am 29. Mai haben die Franzosen den Entwurf für einen
Verfassungsvertrag für Europa mit großer Mehrheit abgelehnt. Diese
demokratische Entscheidung ist für uns alle maßgebend.
Wir können nicht auf dem europäischen Weg weitergehen, als wäre nichts
gewesen. Wir müssen vielmehr auf die Botschaft hören, die uns die Franzosen
übermittelt haben, und die Gründe für diese Abstimmung verstehen, die eine
tiefe Zäsur in der Geschichte des europäischen Aufbauwerks und auch unseres
Landes bezeichnet.
Wir müssen uns über die Diagnose im Klaren sein: Es ist in erster Linie und
vor allem anderen eine Identitätskrise, die Europa heute durchlebt. Beim
letzten Europäischen Rat in Brüssel war dies nicht nur das Gefühl von
Frankreich und den Niederlanden, wo mit Nein gestimmt worden war; alle
Mitglieder, die an dem Gipfel teilgenommen haben, hatten es ebenso. Es gibt
jetzt eine Trennung zwischen den Völkern und dem europäischen Projekt, das
wir seit über 50 Jahren betreiben. Wir müssen uns über diese Tatsache im
Klaren sein, die zwar neu ist, deren Wurzeln aber tief und weit
zurückreichen.
Das glauben, wie ich, viele: Die Unfähigkeit Europas,
seine Zukunft klar und kohärent zu sehen, erklärt diesen Bruch mit den
Bürgern. Sie erklärt auch das Gefühl der Skepsis, manchmal sogar des
Misstrauens, das sich während der Kampagne zum Referendum breit machte und
von denjenigen angespornt wurde, die es nicht versäumt haben, den
Verfassungsvertrag nach eigenem Geschmack zu deuten.
Heute ist es mehr denn je eine Notwendigkeit, Europa auf
einen echten politischen Kurs zu bringen. Wir brauchen einen politischen
Horizont, der es uns gestattet, auf die Sorgen einzugehen und der Zukunft
einen Schwung zu geben. Dazu müssen wir dem Verfassungsvertrag wieder eine
Perspektive geben und ihn in den breiteren Rahmen eines Projekts stellen, in
dem dann endlich wirklich eine Ordnung für das erweiterte Europa festgelegt
wird. Stellen wir uns ganz offen die Frage: Haben wir nicht allzu
optimisitsch gedacht, dass die Verfassung endgültig die Debatte über das
politische Ziel entschieden hätte? In Wirklichkeit haben die europäischen
Politiker, da sie sich nicht auf ein Integrationsmodell einigen konnten,
sich seit langem stillschweigend darauf verständigt, nicht darüber zu
sprechen. Jetzt ist der Zeitpunkt da, an dem diese entscheidende Frage
frontal angegangen werden muss.
Zwischen der Auffassung von einem großen Markt, der sich
selbst überlassen ist, und dem Projekt eines politischen Europa, das über
echte Mittel verfügt, zwischen einem Europa, das sich darauf beschränkt,
sich an die Anforderungen der Globalisierung anzupassen, ohne etwas daran zu
ändern, und einem Europa, das entschlossen ist, unsere Interessen zu
verteidigen und soziale Gerechtigkeit mit Marktwirtschaft in Einklang zu
bringen, muss eine Entscheidung getroffen werden, der wir schon viel zu
lange ausweichen. Ist es nicht an der Zeit, diese Herausforderung ernsthaft
und in aller Klarheit anzunehmen?
Wir müssen heute mehr denn je zuvor die Entscheidung für
ein politisches Europa verteidigen, weil wir der Ansicht sind, dass Europa
zwischen Nation und globalisierter Welt die richtige Ebene für Regulierung,
Zusammenarbeit, Solidarität und Handeln ist. Das ist es, was zählt und was
im Mittelpunkt einer richtigen Debatte über das politische Projekt steht,
das wir uns für Europa vorstellen.
Einige haben, um diese Debatte nicht führen zu müssen,
lieber andere erfunden. Sagen wir es ganz klar: Es gibt keinen Streit
zwischen „Alten“ und „Modernen“; denn anders als in einigen Karikaturen gibt
es keine Auseinandersetzung zwischen den Verfechtern der gemeinsamen
Politikbereiche, die zwangsläufig rückständig sind, auf der einen Seite und
den selbsternannten Verfechtern von Innovation und Dynamik. In den
Auseinandersetzungen der vergangenen Woche über die finanzielle Vorausschau
wurde versucht, die Analysen in diese Richtung zu lenken. Man muss eine
solche Darstellung verwerfen, denn das ist eine falsche Debatte. Trotz
allem, was gesagt werden konnte, war die finanzielle Vorausschau sehr wohl
Teil der Debatte über das politische Europa.
Denken wir nur daran, dass in dem Finanzpaket des
luxemburgischen EU-Vorsitzes in der letzten Fassung eine Erhöhung um mehr
als 30 % der Forschungs- und Zukunftsausgaben enthalten war, während der
Anteil der Gemeinsamen Agrarpolitik am Haushalt auf ein Drittel des
Gesamtbetrags zurückgeführt wurde, gegenüber mehr als die Hälfte vor weniger
als zehn Jahren.
Das zeigt, dass die Zukunftssorgen sehr wohl
berücksichtigt worden waren und dass in einer Sache weitgehend Einigkeit
herrschte: Ohne zusätzliche Mittel und ohne gemeinsame Politik wird die
Europäische Union nicht das Wachstum fördern, Forschung und Innovation
anspornen, weltweit konkurrieren und das europäische Sozialmodell
garantieren können. Wir stehen mitten in der Debatte über das politische
Europa, und Frankreich will sich dafür einsetzen, dass Finanzperspektiven
erlangt werden, die seine Vorstellungen von der Zukunft Europas zum Ausdruck
bringen.
Die führenden Politiker Europas haben alle den Wunsch,
Europa zu mehr Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit zu verhelfen. Aber wir
wollen auch, dass Europa dem treu bleibt, worauf es seit 50 Jahren gründet
und was erhalten werden muss: Zusammenarbeit, gemeinsame Politiken,
Solidarität. In einer unsicheren Welt will Frankreich für diese Werte und
Handlungsgrundsätze einstehen und sie fördern. Vor einigen Tagen beschloss
der Europäische Rat angesichts einer drohenden „Abwärtsspirale“ eine Pause
bei dem laufenden Ratifizierungsprozess des Verfassungsvertrages zu machen.
Nutzen wir diese Entscheidung, um Europa zu ermöglichen, über sich selbst,
über seine Ziele und Linien nachzudenken, die es seinem Handeln geben muss
und bei einem außerordentlichen Gipfeltreffen Anfang 2006 wieder
zusammenzukommen, wie Staatspräsident Jacques Chirac vorgeschlagen hat.
Seien wir aber in einer Sache klar: Dieses aktive
Nachdenken darf nicht dazu führen, dass wir den gemeinschaftlichen
Besitzstand auflösen oder 50 Jahre des europäischen Aufbauwerkes in Frage
stellen. Manche nennen die GAP als Beispiel für eine veraltete Politik.
Sprechen wir ernsthaft darüber und analysieren wir die Vor- und Nachteile
des Handelns und der Reformen in diesem Bereich.
Beschränken wir uns aber bei diesem Thema nicht alleine
auf die Frage der Direkthilfen für Landwirte. Sprechen wir auch über die
landwirtschaftliche Alleinversorgung unseres Kontinents, über die
europäische Raumordnung, über die Nahrungsmittelsicherheit und über unsere
wirtschaftliche Fähigkeit, Teile von ausländischen Märkten zu erobern. Das
europäische Projekt klarzustellen und zu modernisieren, darf nicht dazu
führen, dass Europa geschwächt wird. Welche Handlungslinie soll man den
Franzosen und den Europäern vorschlagen, die weit davon entfernt sind,
Europa den Rücken zu kehren und die mehr und besseres von Europa erwarten?
Ich halte es für nötig, zwei Wege einzuschlagen: den des Überlegens, um die
Zukunft langfristig zu klären und neu zu gründen, und den kurzfristigen Weg
des Handelns, um dem europäischen Aufbau neuen Schwung und eine neue Dynamik
zu geben.
Die Pause, die der Europäische Rat gewünscht hat, ist eine
Chance, die es zu ergreifen gilt, ein „Durchatmen“, das wir bestmöglich
nutzen müssen, um offen und gemeinsam alle Themen anzusprechen: von der
Zukunft des Verfassungsvertrags zu den neuen Erweiterungen, von den
Bemühungen um Harmonisierung im Bereich des Binnenmarktes bis zur
Wirtschafts- und Sozialstrategie, die durch den Prozess von Lissabon
ausgelöst wurde.
Natürlich wird Frankreich in diesem Zusammenhang für seine
Werte, seine Interessen und seine Überzeugungen einstehen müssen. Aber es
wird auch – und das ist seine historische Verantwortung – den Geist der
Gründerväter wiederfinden müssen, um den Gedanken eines politischen Europa
zu verteidigen und es dabei an die heutigen Gegebenheiten anzupassen. Diese
Periode des Nachdenkens und des Dialogs ist nützlich und notwendig. Aber sie
wird keine Antwort auf die momentan erforderliche Dynamik geben können. Wir
brauchen auch Handlungen, das heißt konkrete und schnell umgesetzte
Initiativen, die, sicherlich alleine, den Beweis dafür liefern können, dass
Europa sich dem Zerfall widersetzt.
Mit dieser Perspektive müssen wir uns für die großen
aktuellen Themen engagieren. Wachstum und Beschäftigung zuerst. Wir müssen,
wie der Premierminister vorgeschlagen hat, eine Wirtschaftsregierung in die
Wege leiten, die durch die Eurogruppe entsteht und die insbesondere mehr
Handlungsspielraum bei der Wechselkurspolitik gegenüber der Europäischen
Zentralbank haben muss. Wir müssen auch der Strategie von Lissabon neuen
Schwung geben, um die Wettbewerbsspielräume wiederzuerlangen, die Europa
heute fehlen. Beweisen wir Entschlossenheit in den Bereichen, in denen die
europäischen Länder einen Vorsprung haben. Bei der Forschung, genauer gesagt
im Bereich der Bio-, Nano- und Informationstechnologien oder auch bei den
Spitzentechnologien, wie Telekommunikation, Luft- und Raumfahrt. Setzen wir
die nötigen Mittel in Bewegung, um die großen Infrastruktur- oder
Vernetzungsprojekte voranzubringen, die unser Kontinent braucht.
Ein Europa, dass den Bürgern Sicherheit gibt und sie
schützt: Es geht nicht darum, die Fortschritte zunichte zu machen, welche
die Freizügigkeit der Personen und auch der Arbeiter mit sich gebracht
haben, sondern darum, diese Entwicklung mit der Sorge um sozialen Schutz und
die Menschenrechte und mit der Förderung unserer Universitäten, mit der
Einrichtung eines kontrollierten und gezielten Systems der Einwanderung zu
begleiten, wie es die Gruppe der fünf europäischen Länder vorsieht, die in
den kommenden Tagen in Evian zusammenkommt. Es muss innerhalb des
europäischen Kontinents einen Raum der Freiheit geben, den die Bürger nicht
mehr fürchten, da sie wissen, dass dieser klaren und von allen akzeptierten
Regeln folgt. Der Platz Europas in der Welt: Irak hat es gezeigt: Europa
muss sich zusammentun, um sich eine Diplomatie und eine Verteidigung zu
geben, die es ihm ermöglichen, seine Stellung in der Welt zu behaupten und
mit einer starken und eigenständigen Stimme zu sprechen.
Geben wir uns die Mittel für eine echte Außenpolitik, wie
wir es im Bereich der Verteidigung geschafft haben: Eine Außenpolitik, bei
der Europa unter Achtung seiner traditionellen Bündnisse ein ursprüngliches,
unabhängiges und von seiner Erfahrung sowie von seinen Überzeugungen
geprägtes Weltbild verbreiten kann. Um dies alles tun zu können, wollen und
müssen wir gemeinsam handeln. Aber wir dürfen nicht zögern, falls nötig,
zusammen mit nur einigen anderen zu handeln und auf die anderen zu warten.
Europa braucht mehr Flexibilität denn je, um sein
Vertrauen und seine Glaubwürdigkeit wiederzuerlangen. Es braucht
Flexibilität und konkrete Ergebnisse. Vergangenen Freitag zeigte die
fehlende Einigung über den künftigen Finanzhaushalt das Risiko auf, das ein
Beharren auf nationalen Egoismen, das Entstehen eines nationalistischen
Gefühls, ganz zu schweigen von der Versuchung des Populismus, für Europa
bedeuten würde – all das, wogegen das Projekt Europa vor 50 Jahren entstand.
Geben wir nicht der Faszination des Scheiterns nach. Gehen wir wieder in die
richtige Richtung, auf dem Weg der konkreten, verständlichen und sichtbaren
Initiativen. Definieren wir gleichzeitig die Zukunft Europas neu. Heute muss
sich Europa dringend mit seinen Völkern versöhnen, falls wir das politische
Europa retten wollen, an das wir glauben.
22.06.2005 Herausgeber : Französische Botschaft - Presse-
und Informationsabteilung - Pariser Platz 5 - 10117 Berlin
E-Mail:
info@botschaft-frankreich.de
www.botschaft-frankreich.de
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[FORUM]
hagalil.com 23-06-2005 |