iw 2000 / TSh''S
Auch 85 Jahre nach dem
spektakulärsten Fall
amerikanischen Antisemitismus’, der Erhängung
von Leo Frank im Südstaat Georgia, ist das Thema
– leider – noch nicht abgehakt.
«Erinnere
dich,
was Leo Frank geschah»
iw Nr. 36 vom 8. September 2000
Von René Bloch
Vor 85 Jahren wurde im
amerikanischen Südstaat Georgia der jüdische Industrielle Leo Frank von
einem aufgebrachten und heftig antisemitisch eingestellten Mob unter
Zurufen von «Hang the Jew» (Hängt den Juden) gelyncht. Frank war
vorgeworfen worden, er hätte ein 13-jähriges Mädchen, das in seiner
Fabrik gearbeitet hatte, ermordet. Franks Unschuld gilt als erwiesen,
und seine Ermordung ist als das Beispiel einer antisemitischen Tat in
die amerikanische Geschichte eingegangen. Die Wogen haben sich seither
am Tatort noch immer nicht geglättet: Antisemitismus im Süden der USA.
Eindeutig motivierte Lynchjustiz
Es ginge zu weit, den Fall Leo
Frank die amerikanische Version der französischen Dreyfus-Affaire zu
nennen. Dazu hat das Unrecht, das Frank angetan wurde, zu wenig auf das
ganze Land ausgestrahlt. Aber in der amerikanisch-jüdischen Geschichte
markiert die nunmehr 85 Jahre zurückliegende, eindeutig antisemitisch
motivierte Lynchjustiz an einem Juden ein Ereignis, das sich fest in das
historische Gedächtnis des amerikanischen Judentums eingeprägt hat.
Die Ermordung des Industriellen
Leo Frank im Jahre 1915 spiegelte nicht nur den Judenhass einer
isolierten Gruppierung wider, sondern war Teil eines weithin und bis in
höchste Kreise gepflegten Antisemitismus in den Vereinigten Staaten.
Nicht zufälligerweise wurde in demselben Jahr, als Frank schuldig
gesprochen wurde, die «Anti-Defamation League» ADL gegründet. ADL ist
bis heute die wichtigste jüdisch-amerikanische Lobby gegen
Antisemitismus geblieben.
Mitwissende
auf dem Internet «ausgestellt»
Die Erhängung von Leo Frank
jährte sich dieser Tage zum 85. Mal. Und im Städtchen Marietta im
Bundesstaat Georgia, wo Frank gelyncht wurde, ist das Unrecht auf
verschiedenen Wegen der Bevölkerung wieder in Erinnerung gerufen worden.
Das einheimische Theater hat an den Anfang seines Programms das Stück
«Die Lynchung des Leo Frank» von Robert Myers gesetzt, das chronologisch
den Geschehnissen zwischen der Ermordung der 13-jährigen Mary Phagan und
der Verurteilung von Frank nachgeht.
Unruhe in die
Bevölkerung der Kleinstadt hat allerdings eine andere Art der
Vergangenheitsbewältigung gebracht: Einige der Namen derjenigen
Leute, die sich an der Erhängung von Frank beteiligt oder zu ihr
hingeführt hatten – insgesamt sollen 6.000 Menschen unter Beirufen
«Hang the Jew», «Hang the Jew» der Untat beigewohnt haben –, sind
vom Bibliothekar Stephen J. Goldfarb
auf dem Internet zugänglich gemacht worden. |
|
Die Folgen dieser Publikmachung
haben den Juden von Marietta vor Augen geführt, dass der Antisemitismus
auch im Georgia des Jahres 2000 noch immer virulent ist.
Als jüngst ein jüdisches
Stadtratsmitglied, dessen Grossvater während des Frank-Prozesses
ausgesagt und später vor dem Mob hatte in Sicherheit gebracht werden
müssen, mit einem nicht überall populären Vorschlag zum Bau eines neuen
Gebäudes aufwartete, musste er den Ruf «Erinnere dich, was mit Leo Frank
geschehen ist» anhören. Einige Nachkommen der veröffentlichten
Lynch-Treiber leben in der Gegend und sind verärgert, dass vor ihrer
Nase die Schatten ihrer jüngeren Geschichte in aller Öffentlichkeit
aufgedeckt werden.
Lange überhaupt nicht
aufgearbeitet
Die tragische Geschichte wurde in
Georgia lange Zeit überhaupt nicht aufgearbeitet. Im Gegenteil: Die
Ankläger Franks machten nach dessen Ermordung Karriere. Hugh Dorsey und
Tom Watson wurden Gouverneure von Georgia. Letzterer war, auch in seiner
Funktion als Zeitungsherausgeber, zu einem grossen Teil für die giftige
Stimmung gegen Frank verantwortlich. In Folge der
Internetveröffentlichung hat unterdessen ein Rechtsprofessor der George
Washington University beantragt, eine Statue, die Tom Watson darstellt,
zu entfernen. Watsons Urenkel, Tom Watson Brown, wehrt sich zurzeit
gegen solche Geschichtskorrekturen – wie sein Urgrossvater auch er
teilweise mit antisemitischen Argumenten. Im März 1986 hatte sich der
Staat Georgia für den Fall Leo Frank entschuldigt, ihn aber nicht von
der Schuld an der Ermordung des 13-jährigen Mädchens freigesprochen.
iw Nr. 36 vom 8. September 2000
Weitere Themen in der aktuellen Ausgabe:
- Schweiz: Interview mit Ernst
Iten,
dem neuen Schweizer Botschafter in Israel
- Basel: Rabbiner Avigdor Bokov
- wird er neuer IGB-Rabbiner in Basel?
- Impulse: ARIsierung
– zu einer Ausstellung in Wien
- ... ... ...
Im Archiv:
[Weitere Artikel aus dem Israelitischen
Wochenblatt]
|