MÜNCHEN FEIERT IM SOMMER 2008 DAS 850. JUBILÄUM DER
STADTGRÜNDUNG.
HIER ERINNERUNGEN EHEMALIGER MÜNCHNER: HANS KITZINGER / GAD KIDRON.
Teil 1
Ein Mythos von Freiheit und Kultur?
Schwabing vor 1933
Ilse Macek
Abb.:
Dr. Gad Kitron, vormals Hans Kitzinger, um 1935. (Zur Vergrößerung bitte auf
die Bilder klicken...)
"Ich habe ihm geglaubt, ganz einfach. Ich habe gesagt: Ich glaube ihm,
ich gehe."
Am 5. März 1933 wählten über 20.600 Schwabinger, das waren 39,3%, die
Nationalsozialistische Deutsche Arbeitspartei (NSDAP). Auf Reichsebene hatte
die NSDAP noch über 6 Prozent mehr erhalten, fast 45 Prozent, was ihr
zusammen mit der DNVP mit ihren knapp 9 Prozent die absolute Mehrheit
einbrachte. 1
Drei Tage nach dieser Schicksalswahl verließ Hans Kitzinger, heute Dr.
Gad Kitron, nach erfolgreichem Studium der Rechte und gerade 22 Jahre alt
geworden, das Deutsche Reich.
Ilse Macek: "So klug waren Ihre Eltern oder Sie selber?"
Dr. Gad Kitron: "Nein, meine Eltern haben es nicht verstanden."
"Also drei Tage nach der Wahl sind Sie schon weg?"
"Ich habe ihm geglaubt, ganz einfach. Ich habe gesagt: Ich glaube ihm, ich
gehe",
sagt er schlicht, und meint natürlich Hitler und seine
Hetzparolen, als ich ihn am 3. November 2006 in Jerusalem interviewe.
"Der Schalom Ben-Chorin2,
der Fritz Rosenthal, der hatte auch klar gesehen"
erwähnt er noch.
"Die anderen dachten, das geht vorüber, und uns geschieht
nichts, vielleicht (geht es) gegen die Ostjuden. Und diesen ganzen Quatsch!"
Diesen "ganzen Quatsch" haben, wie wir wissen, viele der Münchner Juden
geglaubt und sind geblieben, immer in der Hoffnung, dass es schon nicht so
schlimm werden würde.
Als alter Schwabinger hatte sich Dr. Kitron auf eine Annonce in der
Zeitschrift "Jeckeniton" 3
gemeldet und war gerne bereit, über die Heimat seiner Kindheit zu sprechen.
Er ist 1911 geboren, war also zum Zeitpunkt des ersten Gespräches 95 und
beim zweiten Gespräch am 13. April 2007 96 Jahre alt und wirkte viel jünger.
Das Schwabing, das Dr. Kitron erlebt hatte und über das er im Interview
berichtet, war in seiner Erinnerung ein ganz anderes, als das es sich nach
der Wahl 1933 erwies. Aus den Erinnerungen an Schwabing spricht die
Zuneigung zu diesem alten Stadtteil, wie er einmal war. Das München seiner
Jugend, wie Dr. Gad Kitron es schildert, ist eine Art "verlorenes Paradies".
Dr. Gad Kitron wird uns hier und da im ersten Kapitel des Buches "ausgegrenzt
- entrechtet - deportiert" wieder begegnen. Er ist derjenige
Zeitzeuge, der im Interview immer betonte, er könne ja über die in diesem
Buch behandelte Zeit, 1933 bis 1945, wenig beitragen. Was er beiträgt, ist
die Erinnerung an das München seiner Eltern vor und seine Kindheit und
Jugend nach dem Ersten Weltkrieg.
Es ist aber auch die Erahnung dessen, was uns in der Rückschau so
beschäftigt und erschreckt: Wie konnte sich dieser berühmte und schöne
Stadtteil Schwabing, der so viel Potenzial an Freiheitsgraden für die
persönliche Lebensführung aufwies, so drastisch verändern? Wie kam es dazu,
dass die sicher geglaubte Heimat den jüdischen Bewohnern nicht mehr
erlaubte, ihr Leben zu leben im Kreise der Familie und Freunde, ihrer Arbeit
nachzugehen, ihre Träume zu verwirklichen? Wie lebten Juden vor 1933 in
München, in Schwabing? Wie hat sich der Antisemitismus in München
entwickelt?
Im leuchtenden München:
Schwabing, wie es war
1940 etwa schrieb Schalom
Ben-Chorin in seinem Gedicht "Traumgeographie":
"Es geschieht nun, dass ich ungehindert,
Von Jerusalem nach Schwabing geh
Tausend Meilen sind zum Sprung vermindert
Tel Aviv liegt nah am Tegernsee ..."
Im Buch seiner Erinnerungen "Jugend an der Isar" fährt er nach diesem
Zitat fort: "Schwabing und Jerusalem haben auch noch eine besondere
Affinität: beide träumen immer von ihrer Vergangenheit." 4
Auch in den Aussagen Dr. Kitrons wird die Verklärung
Schwabings, die erinnerungsträchtige "München-leuchtete-Literatur" wieder
lebendig, eine ganze Gattung von Literatur, die ihren Namen aus dem
Einleitungssatz von Thomas Manns Erzählung "Gladius Dei" (1902) herleitet.
Thomas Mann weist in dieser Novelle, die so oft in der irrigen Annahme
zitiert wird, er charakterisiere damit ein weltoffenes, modernes München,
eher auf die eitle Selbstbeweihräucherung und den Kulissenzauber der Stadt
hin.
Er, der schon frühzeitig die Gefahren der antidemokratischen Rechten in
München erkannt und zu bekämpfen versucht hatte, hielt aber trotzdem noch
fünf vor zwölf seinen Wunschtraum von einer möglichen besseren Wirklichkeit
aufrecht: "Es ist eine Stadt der Menschlichkeit, der künstlerischen
Freiheit, es ist eine Stadt, in der man zwei Dinge auf einmal spüren kann,
Volk und Welt. Es kann die Stätte sein oder werden, durch die Deutschland
sich am besten, am glücklichsten mit der Welt verbinden und versöhnen mag...
München als Zuflucht jener Freiheit und Heiterkeit, die in dem Wort Kunst
sich gegen die Verdüsterungen und kranken Fanatismen der Zeit behauptet,
München als Hauptstadt einer deutsch-europäischen Klassik...'"'
Dieses Zitat Thomas Manns, der auch viele Jahre Schwabinger war und zum
Beispiel in der Feilitzschstraße "Die Buddenbrooks" schrieb, für die er 1929
den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte, stammt von 1932. Leider hatte
er damit Unrecht. Wenig später wird die NSDAP führende Partei sein, die
Unmenschlichkeit regieren, die Manns werden nicht mehr aus dem Ausland
zurückkommen, und Hans Kitzinger wird fluchtartig das Land seiner Kindheit
verlassen.
Fortsetzung folgt...
[BESTELLEN?]
1933 bis 1945:
Naziherrschaft in München
Nirgendwo trat der Charakter des Naziregimes so unverhüllt
zutage wie in den Untaten gegenüber Kindern im Zeichen des Rassenhasses. Die
jüdischen Überlebenden, damals noch Kinder, äußern sich über den einstigen
manchmal noch unbeschwerten, dann immer stärker albtraumhaften, kaum zu
beschreibenden Alltag...
München 1933 bis 1945:
Schwabing und
Schwabinger Schicksale
Am 13. März konnte Ilse Macek das Buch "Ausgegrenzt –
entrechtet – deportiert. Schwabing und Schwabinger Schicksale 1933 bis 1945"
vorstellen. Das Buch ist das Ergebnis der Geschichtswerkstatt zur
NS-Geschichte in Schwabing. Unter den Anwesenden waren auch Charlotte
Knobloch und Christian Ude...
Schwabing in der NS-Zeit:
Ausgegrenzt –
entrechtet – deportiert
Das Buch beleuchtet die Entwicklung des einstigen Literaten-
und Künstlerviertels zu einem Stadtteil, dessen Bürgerinnen und Bürger in
der Märzwahl 1933 deutlich mehr für die Nazi-Partei als im Stadtdurchschnitt
votierten...
Ausgegrenzt – entrechtet – deportiert:
Schwabing
1933 bis 1945
Jüdische Kinder und Familien, Kranke, Behinderte,
Homosexuelle, Bibelforscher, politisch Engagierte, die sich nicht
'gleichschalten' ließen. Sie alle wurden isoliert, ausgeraubt, weggesperrt,
vertrieben, in Konzentrationslager verschleppt und ermordet...
"Die Nazis werden scheitern":
Olga Benario
Olga Benario wurde am 12. Februar 1908 in München in eine
bürgerliche jüdische Familie geboren, beginnt bereits als Jugendliche sich
politisch zu engagieren, in den Polizeiakten aus der Zeit der Weimarer
Republik wird sie als "kommunistische Agitatorin" geführt... |