antisemitismus.net / klick-nach-rechts.de / nahost-politik.de / zionismus.info

haGalil onLine - http://www.hagalil.com
     

hagalil.com
Search haGalil


Newsletter abonnieren
Bücher / Morascha
Koscher leben...
Jüdische Weisheit
 
 
Die Beneš-Dekrete und die EU-Osterweiterung

Geschichtspolitische Kontroversen zwischen Aufarbeitung und Verdrängung der Vergangenheit

Samuel Salzborn

Mitte Juni 2003 haben die Bürger/innen der Tschechischen Republik in einem Referendum über den Beitritt ihres Landes zur Europäischen Union (EU) entschieden. Die von Seiten der EU für diesen Beitritt aufgestellten Bedingungen waren im Vorfeld klar formuliert: die Verzögerungen bei der Anpassung der Wirtschaft an den EU-Binnenmarkt müssen ausgeglichen, Korruption und Wirtschaftskriminalität verstärkt bekämpft und die Integration und Gleichstellung von Minderheiten weiter forciert werden.

Eine in den vergangenen Monaten immer wieder öffentlich artikulierte Forderung fehlte hingegen im Katalog der EU: die nach Aufhebung der so genannten Beneš-Dekrete. Lediglich eine politische Geste zum Komplex von Flucht und Vertreibung der Deutschen infolge des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs wurde von der Tschechischen Republik erwartet, jedoch auch nicht zur essentiellen Bedingung gemacht. Damit folgte die EU nicht der in Deutschland und Österreich über Monate hinweg vor allem von konservativer und rechtsextremer Seite erhobenen Forderung, die Dekrete müssten aufgrund ihres angeblich noch in der Gegenwart wirksam werdenden diskriminierenden Charakters aufgehoben werden, da sie gegen den europäischen Wert- und Normkonsens verstoßen würden.

Die juristisch und politisch verbindliche Entscheidung, dass die Dekrete kein Beitrittshindernis für die Tschechische Republik darstellen, beinhaltete keine Stellungnahme zu historischen Fragen im engeren Sinne. Jedoch zeigt ein Blick auf die zeitgeschichtliche Kontroverse um die Beneš-Dekrete, dass hier zumindest implizit auch um die Frage des Umgangs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit im künftig erweiterten Europa gestritten wurde. Das Ergebnis dieser Kontroverse kann, so viel sei an dieser Stelle bereits vorweg genommen, als eine Absage an geschichtsrevisionistische Tendenzen gewertet werden. Von ihm könnten positive Impulse für eine gemeinsame europäische Zukunft ausgehen, da die Vergangenheit nicht auf dem Altar der tagespolitischen Kontroversen geopfert wurde.

Die Debatte und ihre Hintergründe

Seinen Ausgangspunkt hatte der Streit um die tschechoslowakische Dekretalgesetzgebung der Kriegs- und Nachkriegszeit in einem Interview, das der damalige tschechische Ministerpräsident Miloš Zeman Anfang 2002 dem österreichischen Nachrichtenmagazin profil gegeben hatte. In diesem Interview hatte Zeman die Sudetendeutschen als “fünfte Kolonne Hitlers” bezeichnet, deren Funktion in der Zerstörung der Tschechoslowakei als “einzige Insel der Demokratie in Mitteleuropa” bestanden habe. Überdies erklärte der tschechische Premier, dass die Ausweisung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei legitim gewesen sei, weil ein Großteil dieser vor dem Überfall der Nazis die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft inne gehabt und sich somit des Landesverrats schuldig gemacht habe – “ein Verbrechen, das nach dem damaligen Recht durch die Todesstrafe geahndet wurde. Auch in Friedenszeiten.” Wenn die Sudeten also “vertrieben oder transferiert worden sind”, so Zeman, “war das milder als die Todesstrafe.” (Zeman 2002: 25)

Auch in der Tschechischen Republik wurde daraufhin debattiert, ob die verbale Deutlichkeit dieser Aussage angemessen war. Unabhängig davon lässt sich konstatieren, dass Zeman mit seinem Hinweis auf die aktive Stützung des NS-Regimes durch die große Mehrheit der Sudetendeutschen lediglich eine knappe Zusammenfassung des common sense der historischen Forschung zu dieser Frage bot – und zwar gleichermaßen der Erkenntnisse auf deutscher wie auf tschechischer Seite: Bereits lange vor dem Einmarsch der deutschen Truppen infolge des Münchener Abkommens von 1938 betrieben viele Sudetendeutsche eine massive völkische Destabilisierungs- und Unterminierungspolitik der tschechoslowakischen Souveränität (vgl. Gemeinsame deutsch-tschechische Historikerkommission 1996: 37ff.). Und auch wenn Zemans Formulierungen für die Betroffenen hart, schmerzlich und zweifellos auch missverständlich gewesen sein mögen, so handelte es sich bei ihnen zunächst auch um einen zutreffenden Hinweis auf die seinerzeitige tschechoslowakische Rechtslage.

Dass das Zeman-Interview den Anlass für eine öffentliche Debatte über Flucht und Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei darstellte, dürfte seine Ursache jedoch weniger im Inhalt, denn im zeitlichen Kontext des Interviews im Vorfeld der EU-Erweiterungsverhandlungen gehabt haben. Denn die tschechische Position zu diesen Fragen war seit geraumer Zeit bekannt, ebenso wie die der Vertriebenenverbände: während auf tschechischer Seite die generelle Legitimität und Legalität der Enteignung und Ausweisung der deutschen Minderheit aufgrund ihrer mehrheitlich illoyalen Haltung gegenüber der tschechoslowakischen Demokratie betont sowie auf den kausalen Zusammenhang zur vorangegangenen NS-Volkstums- und Vernichtungspolitik hingewiesen wird, betonen die Vertriebenenverbände – zumeist unter weitgehender oder kompletter Ausblendung der nationalsozialistischen Vorgeschichte – den menschenrechtswidrigen Charakter von Vertreibungen und Bevölkerungstransfers im allgemeinen und weisen auf die Gewalttaten und Exzesse hin, zu denen es während Flucht und Vertreibung gekommen ist.

Da durch die EU-Osterweiterung jedoch die tschechische Rechtsordnung in den europäischen Kontext integriert werden wird, waren die Äußerungen Zemans ein willkommener Anlass für die Vertriebenenverbände in Deutschland und Österreich, um die tschechische Position anzugreifen und zu versuchen, mit der erwünschten Abschaffung der Beneš-Dekrete auch den missliebigen tschechischen Hinweis auf Ursachen und Kontexte von Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem europäischen Gedächtnis zu streichen. Denn so lange mit den Beneš-Dekreten (und mit dem Potsdamer Abkommen) rechtliche Grundlagen existieren, die auf den ursächlichen Zusammenhang von NS-Volkstumspolitik, Massenvernichtung der europäischen Juden und der späteren Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten hinweisen, so lange wird auch die von Vertriebenenseite gewünschte Interpretation der Geschichte keine Chance haben, in der das Opfer-Täter-Verhältnis zugunsten der Deutschen umgedreht wäre (vgl. Salzborn 2003: 17ff.).

Die Rechnung schien zumindest in Deutschland und Österreich zunächst aufzugehen. Der innenpolitische Druck auf Bundeskanzler Gerhard Schröder war im Vorfeld der Bundestagswahl so groß, dass er einen fest geplanten Besuch der Tschechischen Republik verschob. Die Beneš-Dekrete avancierten in Österreich sogar zu einem Top-Thema im Wahlkampf zur vorgezogenen Nationalratswahl. Und obgleich es der bundesdeutschen Regierung relativ geschickt gelang, sich einer deutlichen politischen Stellungnahme zum Thema zu enthalten, um dem Unionskanzlerkandidaten Edmund Stoiber nicht Munition für seinen Wahlkampf zu liefern, waren doch sowohl in überregionalen wie regionalen Tageszeitungen über Monate hinweg in steter Regelmäßigkeit Beiträge mit negativem Tenor zu den Beneš-Dekreten zu lesen. Erstaunlicherweise kam diese mediale Parteinahme zugunsten der Vertriebenenpositionen jedoch weitgehend ohne Fakten aus, d.h. es wurden zwar die Vorwürfe der Vertriebenenverbände in epischer Breite reproduziert, jedoch zumeist ohne hinreichende historische Fundierung: Ebenso selten, wie Historiker/innen in der Debatte überhaupt zu Wort kamen, fand eine Auseinandersetzung mit den realen Inhalten der Dekrete statt; der gegen Zeman geäußerte Verdacht der Menschenrechtsverletzung und das von Vertriebenenseite geschürte Ressentiment genügten offenbar für eine emotionsgeladene Vorverurteilung.

Die Dekrete, konkurrierende Rechtspositionen und eine ”Gutachtenschlacht”

Die Dekrete müssten deshalb aufgehoben bzw. abgeschafft werden, so die zentrale Argumentation von konservativer Seite, weil sie die Ausweisung und Enteignung der deutschen Minderheit aus der Tschechoslowakei infolge von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg reglementiert hätten. Richtig daran ist, dass sich unter den Dekreten, die Edvard Beneš in Vereinbarung mit der tschechoslowakischen Regierung zunächst im Londoner Exil, später dann auf dem Gebiet der wieder befreiten Tschechoslowakei als Staatspräsident im Zeitraum von Juli 1940 bis Oktober 1945 erlassen hat, auch solche finden, die den Umgang mit der deutschen Minderheit zum Gegenstand haben.

In einem Memorandum hatte die tschechoslowakische Exilregierung Ende 1944 gegenüber den Alliierten auf die Notwendigkeit der Aussiedlung der deutschen Minderheit aus der Tschechoslowakei hingewiesen und sie damit begründet, dass diese mit allen Mitteln aktiv daran gearbeitet hätte, die Tschechoslowakei zu zerstören und dass sie überdies auch eine Gefahr für den künftigen Frieden in Europa darstellen würde (vgl. Král 1964: 538ff.). Die Alliierten stimmten dieser Auffassung grundsätzlich zu und bei der Potsdamer Konferenz wurde ebenfalls Einigkeit in dieser Frage erzielt, wobei schließlich das Potsdamer Abkommen die Umsiedlung der in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn noch verbliebenen Deutschen völkerrechtlich verbindlich festlegte.

Die vor diesem Hintergrund für die deutsche Minderheit relevanten tschechoslowakischen Verfassungsdekrete beinhalteten unter anderem Regelungen über die Ungültigkeit einiger vermögensrechtlicher Rechtsgeschäfte aus der NS-Zeit sowie die “nationale Verwaltung der Vermögenswerte” (Dekret Nr. 5 vom 19. Mai 1945), die Bestrafung der nazistischen Verbrecher (Dekret Nr. 16 vom 19. Juni 1945), die Konfiskation und Aufteilung des landwirtschaftlichen Vermögens der Deutschen (Dekret Nr. 12 vom 21. Juni 1945) sowie die Konfiskation des “feindlichen Vermögens” (Dekret Nr. 108 vom 25. Oktober 1945) und die Regelung der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft (Dekret Nr. 33 vom 2. August 1945). Letzteres erkannte den Deutschen die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft ab, wobei Personen, die für die Befreiung der Tschechoslowakei gekämpft oder anderweitig antifaschistische Arbeit geleistet hatten, hiervon explizit ausgenommen wurden. Der Linzer Historiker Hans Hautmann hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass der gegen die Dekrete immer wieder erhobene Vorwurf einer Kollektivschuldthese auch im Lichte der Tatsache zurecht gerückt werden müsse, dass rund 500.000 Deutsche die Tschechoslowakei tatsächlich nicht verlassen mussten, was rund 15 Prozent der Sudetendeutschen entsprach. Auch wenn es, so Hautmann, absurd wäre anzunehmen, hierbei habe es sich ausnahmslos um antifaschistische Widerstandskämpfer/innen gehandelt, waren diese Menschen offenbar diejenigen, die sich der Forderung, ihre Unschuld glaubwürdig nachzuweisen, tatsächlich stellten – im Gegensatz zu den übrigen 85 Prozent, die dies nicht taten oder tun konnten, sei es, weil sie zu den rund 750.000 Menschen gehörten, die bereits von Mai bis August 1945 von “wilden Vertreibungen” betroffen waren oder sei es, weil ihnen die “Aussichtlosigkeit eines Beweises der Nichtverstrickung in die Untaten des NS-Regimes oder des Profitierens unter seiner Herrschaft bewusst war.” (Hautmann 2002: 103f.) Die rechtliche Fixierung der Ausweisung selbst war dabei jedoch dem Potsdamer Abkommen vorbehalten geblieben – eine entsprechende Passsage findet sich weder in den Präsidialdekreten noch in irgendeinem anderen tschechoslowakischen Gesetz.

Der eigentliche politische und historische Kern der tschechoslowakischen Verfassungsdekrete war jedoch ohnehin ein gänzlich anderer, da sich nur ein geringer Teil der insgesamt 143 Dekrete überhaupt unmittelbar auf die Angehörigen der deutschen Minderheit bezieht: “Ziel der Dekretalgesetzgebung war zunächst die Behauptung der Kontinuität der tschechoslowakischen Staatlichkeit über das Münchner Abkommen und die Zerschlagung der Tschechoslowakei hinaus: nichtig wurde – in den Worten von Beneš – alles, was ‚uns durch Drohung, Terror und Gewalt aufgezwungen wurde‘.” (Schwarz 2001) Die Pläne von Beneš waren somit, wie der Bremer Osteuropahistoriker Jan Pauer betont, primär vom Erhalt der staatlichen Kontinuität und von der Sicherung der Zukunft getragen (vgl. Pauer 2002). Sämtliche vom Staatspräsidenten erlassenen Dekrete wurden ein halbes Jahr, nachdem die Provisorische Nationalversammlung der Tschechoslowakei im Oktober 1945 zusammengetreten war, von dieser für gesetzeswirksam erklärt.

Die heutige tschechische Rechtsauffassung zu der Kriegs- und Nachkriegsgesetzgebung geht davon aus, dass die Dekrete verfassungskonform erlassen sowie ratifiziert worden sind und deshalb einen gültiger Bestandteil der tschechischen Rechtsordnung darstellen – allerdings ohne in der Gegenwart noch rechtliche Wirksamkeit zu entfalten, da sie als durch Zeitablauf erledigt angesehen werden (“totes Recht”). Nach Auffassung der Tschechischen Republik gelten die Dekrete als politisch bzw. historisch legitim und rechtlich legal, wobei dies nicht immer für die Praxis gegolten habe, in der man sich auf diese Dekrete berufen habe (vgl. Salzborn 2001: 787f.).

Im Gegensatz zu der in hohem Maße unsachlich geführten Debatte in der deutschen und österreichischen Öffentlichkeit nahmen die europäischen Institutionen ihre politische Verantwortung wahr und gaben eine Untersuchung zur Vereinbarkeit der Beneš-Dekrete mit dem acquis communautaire (“gemeinschaftlicher Besitzstand” – der Gesamtbestand an Rechten und Pflichten, der für alle EU-Mitgliedstaaten verbindlich ist) in Auftrag. In dem offiziellen Gutachten des Europäischen Parlaments gelangten die international renommierten Völkerrechtler Jochen Frowein, Ulf Bernitz und Lord Christopher Kingsland zu dem Schluss, dass die Dekrete nicht im Widerspruch zur Rechtsordnung der EU stünden, folglich nicht aufgehoben werden müssten und somit auch kein Hindernis für den tschechischen EU-Beitritt darstellten. Allerdings sollte die Tschechische Republik einige Folgen des so genannten Straffreiheitsgesetzes vom 8. Mai 1946 öffentlich bedauern, nach dem Handlungen zum Zweck der Befreiung der Tschechoslowakei im Zeitraum vom 30. September 1938 bis zum 28. Oktober 1945 auch dann nicht als widerrechtlich anzusehen waren, wenn sie sonst nach den geltenden Vorschriften strafbar gewesen wären (vgl. Frowein et al. 2002). Zu einem identischen Ergebnis gelangte auch das Gutachten der Europäischen Kommission, das ebenfalls feststellte, dass sich aus der Sicht des acquis communautaire in Bezug auf die Beneš-Dekrete keine Hindernisse für den Beitritt der Tschechischen Republik ergeben würden (vgl. European Commission 2002).

Infolge des Gutachtens des Europäischen Parlaments legte auch die Sudetendeutsche Landsmannschaft ein von Dieter Blumenwitz verfasstes Gutachten vor und die (die Vertriebenenpositionen weitgehend teilende) Bayerische Staatskanzlei eines von Martin Nettesheim und eines von Rudolf Dolzer (vgl. Blumenwitz 2002; Dolzer 2002; Nettesheim 2002). Mit diesen – freilich komplett im Widerspruch zu der tschechischen und der europäischen Rechtsauffassung stehenden Gutachten – sollte der Eindruck erweckt werden, es gebe inhaltlich konkurrierende Positionen, die auch juristisch als gleichrangig anzusehen seien. Rechtlich waren und sind diese “Gegengutachten” jedoch belanglos und ihre Veröffentlichung hatte primär das Ziel der öffentlichen Verwirrung.

Denn diese “Gegengutachten” waren weder von einer der Institutionen in Auftrag gegeben worden, die eine unmittelbare Mitsprachekompetenz im Rahmen der EU-Osterweiterung hat, noch sind sie nachträglich zu offiziellen Dokumenten geworden. Und auch wenn Dolzer, Nettesheim und – mit einigen Abstrichen – auch Blumenwitz zu den in der Bundesrepublik weithin anerkannten Völkerrechtlern zählen, repräsentieren ihre Gutachten (neben ihrer subjektiven Rechtsinterpretation) lediglich Meinungen derjenigen Institutionen bzw. Organisationen, die sie in Auftrag gegeben und sich zu eigen gemacht haben. Da sie aber öffentlich ebenfalls als Rechtsgutachten firmierten, konnte der Eindruck entstehen, sie hätten eine vergleichbare Rechtsqualität wie die offiziellen Gutachten der EU. Konsequenterweise spielten die in diesen “Gegengutachten” vertretenen Positionen für die Formulierung der gemeinsamen europäischen Position in der Frage der Beneš-Dekrete jedoch keine Rolle. Dass bis in die Gegenwart nichtsdestotrotz immer wieder auch von diesen “Gegengutachten” die Rede ist, soll die moralische Druckkulisse gegenüber der Tschechischen Republik verstärken.

Geschichtspolitische Perspektiven

Seitdem feststeht, dass die Beneš-Dekrete kein Hindernis für den tschechischen EU-Beitritt darstellen, wird von Vertriebenenseite verstärkt die These lanciert, dass auf diese Weise menschenrechtsverachtende Gesetze zum Bestandteil des europäischen Wertekanons werden würden. Hierbei wird jedoch außer Acht gelassen, dass die heute in der EU gültigen Menschenrechtsnormen erst einige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs erlassen wurden und somit weder rückwirkend Gültigkeit erlangen, noch juristischer Maßstab für eine Politik sein können, die zeitlich vor diesen Verträgen stattfand. Völkerrechtlich bindend war und ist hingegen das Potsdamer Abkommen, in dessen Artikel XIII die Aussiedlung der deutschen Restbevölkerung aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn verfügt wurde – dass die realen gewalttätigen Übergriffe und Exzesse gegen Angehörige der deutschen Minderheiten während Flucht, Vertreibung und Umsiedlung weder politisch intendiert waren, noch im Einklang mit den rechtlichen Vorgaben standen, steht dabei außer Zweifel.

Hinsichtlich der Menschenrechtsfrage gelangt auch der Pariser Politologe und Historiker Jacques Rupnik zu einer eindeutigen Einschätzung: “Es führt kein Weg vorbei an der Erkenntnis, dass ganz Europa 1945 die Menschenrechte missachtete, die erst in der Europäischen Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950 festgeschrieben wurden. Muss man daran erinnern, dass Europa darniederlag, verwüstet durch einen Krieg, den der deutsche ‚Drang nach Osten‘ ausgelöst hatte, und dass es zuvörderst Hitler-Deutschland war, das für den ‚Verlust der Ostgebiete‘ und das Leid der nach der Niederlage Vertriebenen verantwortlich war?” (Rupnik 2002: 123) Überdies sollte in Erinnerung gerufen werden, dass die Menschenrechtskonventionen auf der Ebene des universellen wie des partikulären (in Europa geltenden) Völkerrechts mit ihren genuin individualrechtlichen Konzeptionen auch eine Reaktion auf die NS-Politik waren, die mit ihrem völkisch-kollektiven Volksgruppenansatz auf die völkische Destabilisierung fremder Nationalstaaten (bei Nutzung der dortigen deutschen Minderheiten) gesetzt hatte – wie im Fall der Tschechoslowakei. Die jetzt von Vertriebenenseite verfolgte Menschenrechtsrhetorik fußt jedoch nach wie vor auf einer völkisch-kollektiven Grundlage und legt somit Maßstäbe an die europäische Rechtsordnung an, die dieser in ihrer gegenwärtigen Verfasstheit und Orientierung am Individuum als Rechtssubjekt faktisch widersprechen.

Bei aller Kritik an der konservativen Polemik sollte dennoch nicht vergessen werden, dass zwischen rechtlichen Vorgaben wie dem Potsdamer Abkommen (in dem eine “ordnungsgemäße und humane” Durchführung der Umsiedlung festgelegt worden war) oder den Beneš-Dekreten und der gesellschaftlichen Praxis der Ausweisung der Deutschen oft eine deutliche Differenz bestand: genauso wie zumindest grundsätzlich historische Legitimität und rechtliche Legalität der Ausweisung festgestellt werden können, sind auch die Gewalttaten, Übergriffe und Exzesse zu verurteilen, die in jedem Einzelfall schreckliche Folgen hatten. Denn die “historische Alternativlosigkeit der Umsiedlungen anzuerkennen”, so Jan Pauer treffend, bedeutet keineswegs eine “Rechtfertigung der Kriegsverbrechen, die sie begleiteten.” (Pauer 2002)

Die in diesem Kontext bestehende Notwendigkeit einer kritischen Reflexion der Vergangenheit sieht man auch in der tschechische Politik: Man hat nicht nur in der Deutsch-Tschechischen Erklärung von 1997 die Exzesse als “im Widerspruch zu elementaren humanitären Grundsätzen und auch den damals geltenden rechtlichen Normen” bedauert, sondern kürzlich mehrfach den Vorschlag geäußert, zu Unrecht enteigneten Angehörigen der deutschen Minderheit eine symbolische Entschädigung zukommen zu lassen. Diese Dialogbereitschaft steht jedoch nicht im Widerspruch zur allgemeinen Zustimmung zu den Beneš-Dekreten: Während das Tschechische Parlament im April 2002 die Dekrete einstimmig für unantastbar und unveränderbar erklärte, halten je nach Meinungsumfrage zwischen 60 und 80 Prozent der tschechischen Bürger/innen diese nach wie vor historisch für notwendig und richtig.

Die von tschechischer Seite vielfach unternommenen Versuche, einen auf aufklärerischen Werten basierenden Dialog mit den Sudetendeutschen über die gemeinsame Vergangenheit zu beginnen, haben diese ebenso oft ausgeschlagen. Und dies muss wohl, wie die Oldenburger Historiker/innen Eva und Hans Henning Hahn herausgearbeitet haben, auf einem spezifischen sudetendeutschen Modell des Erinnerns und Verdrängens beruhen, das die eigene Schuld ”vergisst” – während die der anderen ins Unermessliche potenziert werden soll (vgl. Hahnová/Hahn 2002). Dass eine solche die Vergangenheit entkontextualisierende Interpretation nun nicht mehr ihre Projektionsfläche in den Beneš-Dekreten finden kann, ist ein Verdienst der EU. Den Dialog jenseits einer geschichtsrevisionistischen Position fortzusetzen, bleibt jedoch Aufgabe der Zukunft: einer europäischen Zukunft, die sich zumindest in dieser Frage einer kritischen Reflexion der Vergangenheit zuzuwenden scheint.

http://www.salzborn.de/txt/pore0103.pdf
Vlast bez hranic. Zahranicnepolitické koncepty nemeckých vysídleneckých svazu, in: Politologická revue (Zeitschrift der Tschechischen Vereinigung für Politikwissenschaft CSPV), Heft 1/2003

Literatur

Blumenwitz, Dieter 2002: Entfalten die Beneš-Dekrete und das Gesetz Nr. 115 vom 8. Mai 1946 (Straffreiheitsgesetz) noch heute eine diskriminierende Wirkung, die dem Völkerrecht und dem Recht der Europäischen Union entgegensteht?, Würzburg

Dolzer, Rudolf 2002: Die Vertreibung der Sudetendeutschen 1945-1946 und die Beneš-Dekrete im Lichte des Völkerrechts, Bonn

European Commission 2002: The Czechoslovak Presidential Decrees in den light of the acquis communautaire. Summary findings of the Commission services, Brüssel

Frowein, Jochen et al. 2002: Legal Opinion on the Beneš-Decrees and the accession of the Czech Republic to the European Union, Luxembourg

Gemeinsame deutsch-tschechische Historikerkommission 1996: Konfliktgemeinschaft, Katastrophe, Entspannung. Skizze einer Darstellung der deutsch-tschechischen Geschichte seit dem 19. Jahrhundert, München

Hahnová, Eva/Hahn, Hans Henning 2002: Sudetonemecká vzpomínání a zapomínání, Praha

Hautmann, Hans 2002: Über einige Hintergründe der Auseinandersetzung um die Beneš-Dekrete; in: Peter Gstettner et al.: Die Mühen der Erinnerung. Nachhaltiges Lernen durch Aufarbeiten der “dunklen Vergangenheit”, Bd. 2, Wien, S. 87-108

Král, Václav (Hg.) 1964: Die Deutschen in der Tschechoslowakei 1933-1947, Praha

Nettesheim, Martin 2002: Der EU-Beitritt Tschechiens: Die Beneš-Dekrete als Beitrittshindernis? Rechtsgutachten erstattet im Auftrag der Staatskanzlei des Freistaats Bayern, Tübingen

Pauer, Jan 2002: Das geringere Leid. Zur Umsiedlung der Sudetendeutschen gab es keine Alternative; in: Süddeutsche Zeitung v. 5. Juni

Rupnik, Jacques 2002: Das andere Mitteleuropa. Die neuen Populismen und die Politik mit der Vergangenheit; in: Transit. Europäische Revue, H. 23, S. 117-127

Salzborn, Samuel 2001: Feindbild Beneš; in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 7, S. 786-789

Salzborn, Samuel 2003: Opfer, Tabu, Kollektivschuld. Über Motive deutscher Obsession; in: Michael Klundt et al.: Erinnern, verdrängen, vergessen. Geschichtspolitische Wege ins 21. Jahrhundert, Giessen, S. 17-41

Schwarz, Karl-Peter 2001: Mit der Vertreibung vollendet; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 1. Juni

Zeman, Miloš 2002: ”Populistischer Pro-Nazi-Politiker”, Interview in: profil v. 21. Januar, S. 22-25

Der Beitrag erschien zuerst in: vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, Heft 2/2003. Weitere Informationen zum Thema unter http://www.salzborn.de.

Zahranicnepolitické koncepty nemeckých vysídleneckých svazu:
Vlast bez hranic
Z hlediska sociálních ved se lze podivovat nad tím, že zájmové svazy, které byly založeny v reakci na událost, která probehla  pred více jak padesáti lety, mají stále ješte spolecenskou a politickou relevanci...

sign.gif (1639 Byte)


Spenden Sie mit PayPal - schnell, kostenlos und sicher!
 

haGalil.com ist kostenlos! Trotzdem: haGalil kostet Geld!

Die bei haGalil onLine und den angeschlossenen Domains veröffentlichten Texte spiegeln Meinungen und Kenntnisstand der jeweiligen Autoren.
Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Herausgeber bzw. der Gesamtredaktion wieder.
haGalil onLine

[Impressum]
Kontakt: hagalil@hagalil.com
haGalil - Postfach 900504 - D-81505 München

1995-2014 © haGalil onLine® bzw. den angeg. Rechteinhabern
Munich - Tel Aviv - All Rights Reserved