3. Verhalten:
Tschechische Häftlinge und der KZ-Alltag
3.2
Solidarität3.2.1
Art der Hilfestellung
Viele Gruppen, darunter auch die tschechische
Häftlingsgruppe, erhoben das solidarische Verhalten sogar zu ihrem Grundprinzip
und forderten dieses von jedem Mitglied, je nach seinen Möglichkeiten ein.
Sicherlich wirkten sich dabei nationale, politische aber auch individuelle
Affinitäten begünstigend aus. Zámečník erklärt dazu, dass der Häftling
vielleicht "nirgends eine solche Zusammengehörigkeit mit seinen Landsleuten
gefühlt (habe) wie in diesem extremen Umfeld."
Die tschechischen
Häftlinge waren jedoch erst nach einiger Zeit in Dachau fähig, ihren Landsleuten
oder anderen Häftlingen zu helfen. Erst nachdem sich ihre Lebensbedingungen und
die brutale Behandlung durch die SS gebessert hatten, erst als einige von ihnen
im Lager Zugang zu wichtigen Stellen, wie etwa "Arbeitseinsatz",
"Lagerschreibstube", "politische Abteilung" oder zum "Krankenrevier" erhielten,
waren die Tschechen im Stande, ihre Landsleute zu unterstützen. Es ist
schwierig, hierfür einen genauen Zeitpunkt anzugeben, doch in den meisten
Erinnerungsberichten wird solidarisches Verhalten etwa seit dem Jahr 1942
geschildert,
wobei dies im individuellen Fall durchaus unterschiedlich sein konnte.
Zu einer wichtigen Hilfestellung gehörte in Dachau die
Aufklärung und Unterstützung der Neuzugänge. Wenn ein neuer Häftlingstransport
nach Dachau kam, wurden die Neuzugänge neben den SS-Wachen von verschiedenen
Funktionshäftlingen, wie etwa Schreibern, Friseuren oder Krankenpflegern, in
Empfang genommen.
Diese überwiegend niedrigen Funktionen bekleideten auch viele ausländische
Häftlinge, darunter zahlreiche Tschechen. Einigen von ihnen war es nach Angaben
von Karel Littloch möglich, in der Lagerschreibstube zu erfahren, wie viele der
Neuzugänge "Tschechen sind, wie sie heißen und woher sie sind. Nur kurze Zeit
später wurde auf dem Block gemeldet, welche Neulinge kommen und schon
veranstaltete man eine Sammlung von Brot und Zigaretten."
Sie gaben ihnen erste
Orientierungshilfe, spendeten Trost und ermunterten die Verzweifelten. Es war
zudem sehr wichtig, die Neuzugänge zu warnen und anzuhalten, beim Empfang ihre
Krankheiten zu verschweigen, und sich von den Versuchsstationen im Krankenrevier
fernzuhalten, da kranke und arbeitsunfähige Häftlinge im Lager keine
Überlebenschancen hatten.
Für Neuzugänge, die erst am späten Abend Dachau erreichten und für die kein
Abendessen mehr vorgesehen war, wurde wiederum heimlich ein Teil der
Essensrationen, wie etwa Kraut oder ein Eimer mit Kartoffeln zur Seite gelegt,
um den schrecklichen Hunger nach dem erschöpfenden Transport für einen Moment zu
stillen.
Der Überlebende Vladimír Šacha, welcher im Juni 1942 nach Dachau kam, schildert,
dass er noch während des Empfangs von einem tschechischen Friseur erste
Ratschläge, warnende Worte aber auch Aufmunterung hörte: "Wenn ihr vorsichtig
seid, werdet ihr alles überleben."
Während der mehrwöchigen Quarantänezeit, die jeder
Neuzugang auf dem "Zugangsblock" unter zum Teil sehr schlimmen Bedingungen
verbringen musste, versorgten viele Häftlings-gruppen ihre Landsleute mit
zusätzlicher Nahrung, welche sie eigens dafür aufsparten. Šacha, der in diesem
Block die Funktion des Hilfsschreibers ausübte, berichtet, dass man nicht selten
"aus dem tschechischen Block volle Schachteln mit Brot geschickt"
habe, das unter den Hungrigen verteilt werden sollte. Nach der Quarantänezeit
kümmerten sich wiederum einige Mitglieder der tschechischen Häftlingsgruppe, die
etwa im "Arbeitseinsatz" die Verteilung von Kommandos beeinflussen konnten,
darum, ihre Landsleute in eine gute Arbeitsstelle einzuführen. Einerseits lag es
im Interesse jeder "Solidargruppe",
möglichst viele einflussreiche Funktionen oder "bessere" Arbeitskommandos zu
besetzen, da nur so ihr Einflussbereich erweitert werden konnte.
Andererseits waren die "Uneingeteilten" im Lager durch
Misshandlungen oder erneute Transporte in andere KZs besonders gefährdet. Seit
1942/43 bestand eine zusätzliche Bedrohung durch die Überführung der
Internierten in ein Dachauer Außenkommando, in dem schlechtere Verhältnisse
herrschten als im Stammlager. Leider ist es aufgrund der mangelnden Quellenlage
nicht möglich festzustellen, wie viele tschechische Häftlinge in welchen
Außenlagern vertreten waren. Besonders gefährdete Tschechen, wie etwa ältere
Häftlinge oder Vertreter der Intelligenz, wurden zudem nach Angaben zahlreicher
Erinnerungsberichte, zumindest übergangsweise in verhältnismäßig leichten
Arbeitskommandos untergebracht, wo sie von der SS meist in Ruhe gelassen wurden.
Als solche galten beispielsweise die Kommandos "Gurtweberei" oder
"Strumpfstopferei".
Ein Blick in das Blockbuch des Blocks Nr. 20 bestätigt solche Aussagen, indem
hier aufgeführt wird, dass die meisten Tschechen, die in diesen Kommandos
arbeiteten, überwiegend zu den Jahrgängen 1880 bis 1890 zählten und nicht älter
als Jahrgang 1900 waren.
Zu ihnen gehörte eine Zeit lang auch Karel Feierabend, welcher mit Jahrgang 1861
der älteste Häftling des KZ Dachau war.
Lebensrettende Hilfeleistungen erfolgten auch an kranke Häftlinge. Da die
Patienten, die sich im Krankenrevier aufhielten von der SS lediglich als
"unnütze Esser" betrachtet wurden und darum stark reduzierte Kost erhielten,
wurde ihre Genesung oder sogar ihr Überleben erheblich erschwert. Daher war es
immens wichtig, dass sie von anderen Häftlingen mit zusätzlicher Nahrung
versorgt wurden. Bevor in Dachau die Lebensmittelpakete erlaubt wurden, war dies
besonders schwer, da auch die Essensrationen der arbeitenden Häftlinge völlig
unzureichend waren und durch zusätzliches "Organisieren" aufgebessert werden
mussten. Als jedoch im Winter 1942/43 eine große Typhusepidemie ausbrach, welche
unter den Häftlingen viele Opfer forderte, waren die Tschechen durch den
Paketempfang bereits im Stande, kranke Landsleute materiell zu unterstützen. Im
"tschechischen" Block wurden nach Angaben der Zeitzeugen zu diesem Zweck
Lebensmittelsammlungen veranstaltet. "Jeder, der ein Paket erhält, muss einen
bestimmten Teil an Gebäck und Früchten für die Kranken abgeben. Jarda kocht
täglich ein Kompott und sammelt Zwieback in einem Kasten, damit er das danach
mit Freude ins Krankenrevier bringen kann."
Ähnliches Verhalten war auch während der
zweiten Typhusepidemie im Winter 1944/45 zu beobachten, die jedoch aufgrund der
katastrophalen Verhältnisse der letzten Phase weit mehr Opfer forderte. Ohne
eine solche Unterstützung wäre die Sterberate unter den tschechischen Häftlingen
in Dachau vermutlich viel höher gewesen. Der Inhalt der aus der Heimat
empfangenen Pakete wurde zudem auch unter den gesunden Mitgliedern der
tschechischen Häftlingsgruppe verteilt, wobei für ein kollektives Prinzip dieser
Handlung keine Belege gefunden werden konnten. Daher fand diese Art der
Solidarität vermutlich nur auf individueller Ebene, manchmal sogar
nationalitäten-übergreifend, statt.
Schließlich bestand ein wesentlicher Teil der
gegenseitigen Hilfe darin, die Mitglieder der eigenen "Solidargemeinschaft" vor
den Transporten in andere Konzentrationslager zu bewahren, bzw. falls diese
bereits auf eine Transportliste gerieten, durch andere Häftlinge zu ersetzen,
die im Lager nicht über entsprechend einflussreiche Beziehungen verfügten. Da
die SS-Führung die Zusammensetzung der Transporte überwiegend den
Häftlingsfunktionären überließ, wurden diese bei der Auswahl jedes Mal "in
Konflikt mit ethischen Normen gebracht".
Denn wer sollte im Lager bleiben, und wer ins Ungewisse geschickt werden? Ein
Transport und ein neues Lager konnten für viele Häftlinge den Tod bedeuten. Doch
unter "den extremen Bedingungen eines Konzentrationslagers [...] galten andere
moralische Werte als im normalen Leben."
Es war für jede Häftlingsgruppe enorm wichtig, dass mindestens ein Mitglied die
Entscheidung über die Zusammensetzung der Transportlisten beeinflussen konnte.
Denn manchmal konnten die Gefangenen nur dadurch wenigstens einige wenige
Persönlichkeiten vor der großen Gefahr eines Transports retten.
Da dieses Unterfangen
extrem riskant war und stets hohen Einsatz erforderte, scheint es, dass sich die
Rettung besonders auf Personen bezog, die in der bereits angesprochenen
Hierarchie innerhalb der Häftlingsgruppe einen hohen Rang einnahmen. In den
Erinnerungsberichten tauchen in diesem Zusammenhang überwiegend die Namen der
Tschechen auf, die auch im Lager besonders beschützt wurden. Der tschechische
evangelische Geistliche Eugen Zelený schildert etwa den Fall des berühmten
Philosophen und Widerstandskämpfers Jaroslav Šimsa, der im Lager durch seine
Selbstlosigkeit viele seiner Landsleute in ihrem Durchhaltewillen bestärkte.
Šimsa wurde im November 1944 für einen Transport ausgewählt, von dem die
Häftlinge erfuhren, dass die Ausgesuchten in Schwerstarbeit Schützengraben
aushöhlen sollten. "Es war sehr wichtig ihn um jeden Preis vor diesem
Transport zu bewahren. Nach großen Anstrengungen ist es uns auch gelungen und
zwar so, dass er – im Glauben, dass er tatsächlich an Tuberkulose erkrankte –
ins Revier aufgenommen wurde."
Ein Versteck im
Krankenrevier war eine relativ sichere Methode, einen bestimmten Häftling vor
dem Transport zu schützen. In anderen Fällen wurde wiederum durch das Injizieren
von Milch bei dem Transportgefährdeten hohes Fieber ausgelöst.
Kranke und fiebernde Gefangene wurden nämlich aufgrund ihrer vorübergehenden
Arbeitsunfähigkeit nicht in andere Lager oder Kommandos überführt. Das
Krankenrevier erscheint in den meisten Berichten zudem als das Zentrum der
solidarischen Handlungen im KZ Dachau und wird daher im nächsten Kapitel
gesondert betrachtet werden.
3.2.2 -- Beispiel: Das
Krankenrevier
5. ANHANG
5.1.1 Quellenverzeichnis
5.1.2 Literaturverzeichnis
5.2.0 Abkürzungen
Zur Diskussion im Forum:
[Nationalsozialistische
Konzentrationslager]
hagalil.com
10-2004 |