[Tschechische
Häftlinge
im Konzentrationslager Dachau]
Von
Zuzana MosnákováZur
Diskussion im Forum:
[Nationalsozialistische
Konzentrationslager]
1. Einleitung
"Im Schatten der sieben Wachtürme,
durchleben wir unseren ewig grauen Tag,
abends befiehlt uns die Sirene den Schlaf,
morgens verjagt sie aus unseren Augen den Traum."
(František Jan Kadlec)
1.
Einleitung
Nationalsozialistische Konzentrationslager
Die nationalsozialistischen Konzentrationslager wurden nach
ihrer Befreiung zum Symbol der exzessiven Gewalt und des unmenschlichen Terrors.
Diese völlig rechtsfreien Räume, die sich zu uneingeschränkten Einflussbereichen
der SS entwickelten, dienten als wichtigste Machtinstrumente und Stützen der
NS-Herrschaft.
Nur wenige Wochen nach Hitlers "Machtergreifung" im Januar
1933 wurden aufgrund der Verordnung des Reichspräsidenten "zum Schutze von Volk
und Staat" schrittweise alle politischen Gegner des neuen Regimes in die
allmählich entstehenden KZs eingeliefert. In dieser ersten Phase waren es vor
allem deutsche Kommunisten und Sozialdemokraten. Im Verlauf der dreißiger Jahre
dehnten die National-sozialisten ihre Verfolgung schließlich auf alle Gruppen
aus, die nicht den sozialen und rassischen Ansprüchen der neuen Ideologie
entsprachen. So füllten sich die Lager sehr schnell mit den sogenannten Ernsten
Bibelforschern, "Berufsverbrechern", "Asozialen", Homosexuellen sowie mit Juden,
Sinti und Roma.
Das KZ Dachau
Das erste Konzentrationslager wurde bereits am 22. März 1933
in der Nähe der kleinen Stadt Dachau errichtet. Nur ein Jahr nach seiner
Entstehung übernahm das KZ Dachau die Rolle eines Musterlagers. Der zweite
Dachauer Lagerkommandant Theodor Eicke löste alle alten Konzentrationslager im
Deutschen Reich auf und organisierte sie seit dem Jahr 1934 als Inspekteur der
Konzentrationslager im Auftrag des Reichsführers SS, Heinrich Himmler, nach dem
Vorbild des KZ Dachau neu. Ein Musterlager war Dachau auch, weil es für viele
SS-Männer,
welche später in anderen KZs "große Karriere" machten, zur "Schule der Gewalt"
wurde. Hier lernten sie die Häftlinge nicht mehr als Menschen zu betrachten,
sondern als bedeutungslose Nummern, was vielen von ihnen deren psychische und
physische Vernichtung erst ermöglichte. Diese Erfahrung gaben sie dann in
verschiedenen großen Lagerkomplexen an andere weiter.
Die Geschichte der Konzentrationslager ist nicht von
Kontinuität, sondern vielmehr von einem "fortgesetzten Prozess der Veränderung,
Ausweitung und Radikalisierung"
bestimmt. Auch das KZ Dachau erfuhr im Laufe seiner Existenz mehrere
Funktionswandel und Zäsuren.
Ein sehr tiefer Einschnitt war der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.
Massenver-haftungen von potentiellen Gegnern im Deutschen Reich sowie die
Deportationen aus den besetzten Ländern, darunter auch hunderte Tschechen aus
dem neu errichteten Protektorat Böhmen und Mähren, ließen die Häftlingszahlen
seit 1939 enorm in die Höhe steigen.
Vor dem Kriegsausbruch stellten die deutschen politischen Häftlinge die große
Mehrheit in der Dachauer Häftlingsgesellschaft dar. Als jedoch in den Jahren
1939/1940 die Internatio-nalisierung der Lager begann, verringerte sich deren
Anzahl auf ein Minimum. Die meisten Häftlinge kamen nach dem Kriegsausbruch aus
Polen und seit 1941 aus der Sowjetunion.
Im Laufe des Krieges stieg in Dachau auch die Sterblichkeit
dramatisch an, so dass das Lager im Vergleich zu anderen großen KZs im
Reichsgebiet zeitweise sogar die höchste Sterberate verzeichnete.
Chronische Unterernährung, katastrophale hygienische Zustände, erschöpfende
Arbeit sowie zahlreiche Erkrankungen, wie etwa die Typhusepidemie im Winter
1942/43, trugen erheblich dazu bei. Mehrere hundert entkräfteter und halb toter
Häftlinge wurden in dieser Phase sogar aus anderen Lagern in das "Siechenlager"
Dachau zum Sterben überführt.
Mit dem endgültigen Übergang zum "totalen Krieg" im Jahr 1943 nahm die
Sterblichkeit jedoch wieder ab. Ein wichtiger Faktor dafür war, dass der
Arbeitseinsatz der Häftlinge für die deutsche Rüstungsindustrie mit dem
Fortschreiten des Krieges immer mehr an Bedeutung gewann. Da die Arbeitskraft
der Gefangenen enorm billig war, wurde sie von der SS Tag für Tag rücksichtslos
ausgebeutet. Im Jahr 1942 wurde die Inspektion der Konzentrationslager als
Amtsgruppe D dem SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt (WVHA) angegliedert, um den
Häftlingseinsatz auf die Rüstungsindustrie besser abzustimmen. Die maximale
Erschöpfung der Arbeitskraft der Häftlinge wurde von nun an zum Hauptziel der
Konzentrationslager erklärt.
Nach und nach wurden zusätzlich kleinere und größere Außenlager gegründet, in
denen die Gefangenen, darunter sehr viele Juden, unter katastrophalen
Bedingungen beinahe rund um die Uhr für die deutsche Kriegsproduktion arbeiten
mussten. Die Zahl dieser modernen Sklavenarbeitsstätten explodierte förmlich in
kürzester Zeit. Allein zum KZ Dachau gehörte ein Komplex von 169 Außenlagern mit
etwa 37.000 Häftlingen.
Insgesamt gingen während seines zwölfjährigen Bestehens über 200.000 Häftlinge
aus 37
verschiedenen Nationen durch das Konzentrationslager Dachau. Mehr als 30.000 von
ihnen kehrten aus dem Lager nicht mehr zurück.
Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht mit den
tschechischen Häftlingen nur eine von den vielen Nationalitäten des KZ Dachau.
Durch das Lager gingen zwischen 1933 und 1945 insgesamt 5.831
Menschen "tschecho-slowakischer" Nationalität. In dieser Zahl sind neben den
Tschechen auch insgesamt 143
Slowaken enthalten. Die meisten von ihnen wurden erst im Jahr 1944 nach Dachau
eingeliefert, teilweise aus den Gebieten des slowakischen Nationalaufstandes und
teilweise aus dem von Ungarn besetzten südlichen Teil der Slowakei, in dem vor
allem slowakische Juden lebten. Diese eher kleine Zahl ist allerdings für die
Untersuchung nicht signifikant und wird daher bei der differenzierteren Analyse
der tschechischen Häftlingsnationalität keine Berücksichtigung finden. Auch die
Untersuchung der sudetendeutschen Häftlinge wird, obwohl diese vor dem
Zusammenbruch der NS-Herrschaft ebenfalls im Grenzgebiet der ehemaligen
Tschechoslowakei lebten, nicht in diese Arbeit einfließen. Das liegt daran, dass
sich sowohl die Nationalitätsstruktur als auch die Position der sudetendeutschen
Häftlinge im KZ Dachau zu sehr von der der Tschechen unterscheiden. Die
insgesamt 2.534 Sudeten-deutschen weisen vielmehr Ähnlichkeiten mit der Gruppe
der reichsdeutschen Häftlinge auf und wurden zudem in der Häftlingskartei
separat geführt.
Von großer Bedeutung ist in der folgenden Arbeit zunächst die
Frage, wer die tschechischen Häftlinge waren. Handelte es sich bei ihnen um eine
rassisch oder um eine politisch verfolgte Gruppe? Wann wurden sie in das KZ
Dachau eingeliefert, und was waren die Gründe für ihre Verhaftung?
Der nächste Fragenkomplex beschäftigt sich mit den
Verhältnissen, welche die Tschechen im KZ Dachau vorfanden. In welche
verschiedene Häftlingskategorien wurden sie eingeteilt, und wie stark waren sie
in ihnen vertreten? Wie waren die Lebensbedingungen dieser Häftlings-gruppe, und
wie wurde sie im Lager von der SS behandelt?
Schließlich bleibt die Frage nach dem Verhalten der
tschechischen Häftlinge im KZ-Alltag, in dem sie täglich um ihr Überleben
rangen. Bildete sich auch innerhalb der tschechischen Häftlingsgruppe eine
bestimmte charakteristische Struktur heraus, und wie sah diese aus? Wie waren
die Beziehungen zu den anderen Nationalitäten im Lager, und welche
Überlebens-strategien sind für diese Häftlingsgruppe kennzeichnend?
Die Literatur zur Geschichte der Konzentrationslager ist in
ihrer Gesamtheit sehr umfang-reich. Den größten Anteil stellen die Berichte und
Zeugnisse der KZ-Überlebenden dar, welche schon sehr bald nach der Befreiung die
ersten Darstellungen veröffentlichten. Viele von ihnen fühlten sich
verpflichtet, die Welt über die Gräueltaten der Nazis zu unterrichten, und ihre
Erinnerungen und stellvertretend auch die ihrer toten Leidensgenossen nicht in
Vergessenheit geraten zu lassen. Die wohl bekannteste frühe Darstellung aus dem
Jahr 1946 wurde vom Überlebenden des KZ Buchenwald, Eugen Kogon, unter dem Titel
"Der SS-Staat"
verfasst. Sie erscheint bis heute in zahlreichen Auflagen. Auch von den
ehemaligen Häftlingen des Konzentrationslagers Dachau wurden in verschiedenen
Sprachen zahlreiche Erinnerungsberichte veröffentlicht. Diese werden im nächsten
Kapitel über die Quellenlage noch ausführlicher zur Sprache kommen.
Die ersten wissenschaftlichen Studien zum Thema
Konzentrationslager wurden in Deutschland erst in den sechziger Jahren im Zuge
der verschiedenen NS-Prozesse publiziert. Zu nennen ist hier vor allem die
Untersuchung von Martin Broszat, "Nationalsozialistische Konzentrationslager.
1933 – 1945", welche erstmals im Jahr 1965 erschien und als Gutachten für
den ersten "Auschwitz-Prozess" in Frankfurt am Main verwendet wurde. Im Jahr
1978 wurde die bahnbrechende Studie von Falk Pingel über "Häftlinge unter
SS-Herrschaft" veröffentlicht. Auch wenn etwas älter, sind die Erkenntnisse
dieser Arbeit, die sich mit der Ebene der Häftlinge, mit ihren Verhaltensweisen
und Lebensbedingungen sowie mit Widerstand und Solidarität im Lager befasst,
auch heute noch sehr interessant. Im Jahr 1993 wurde dieser Darstellung eine
höchst eindrucksvolle soziologische Studie über "Die Ordnung des Terrors" von
Wolfgang Sofsky zur Seite gestellt. "Ihr liegt die These zugrunde, daß sich in
den Lagern eine soziale Machtform herausgebildet hat, die sich wesentlich von
den geläufigen Macht- und Herrschaftstypen unterscheidet."
Sofsky nennt dieses Konstrukt die "absolute Macht". Er versucht die zwei Topoi
von der "prinzipiellen Unverstehbarkeit" und der "Unvergleichbarkeit"
der Verbrechen, die in den Konzentrationslagern geschahen, zu überwinden und
rekonstruiert mit Hilfe unzähliger Erinnerungsberichte in erschreckenden Details
ein Lager, welches jedoch aus dem historischen Prozess ausgeklammert ist.
Doch seine Studie ist, da sie unter anderem die sozialen Strukturen einer
Lagergesellschaft eingehend behandelt, für diese Arbeit von großer Bedeutung.
Die erste Gesamtdarstellung zum Konzentrationslager Dachau erschien erst im
Jahr 2002. Sie wurde von einem Überlebenden dieses Lagers verfasst, dem
tschechischen Historiker Stanislav Zámečník. Das Besondere an dieser
Monographie ist, dass Zámečníks doppelte Funktion als Zeitzeuge und Historiker
es erlaubt, bestimmte Ereignisse mit eigenen Erinne-rungen zu stützen oder in
Frage zu stellen. Auch ermöglicht sein sprachlicher Zugang zu den Archiven in
Prag und zur Erinnerungsliteratur vor allem aus den osteuropäischen Staaten
zahlreiche neue Erkenntnisse zum KZ-Alltag und zu den Lebensbedingungen der
Häftlinge auch aus diesen Ländern. Doch obwohl sich Zámečník in seiner Arbeit um
die größt mögliche Distanz eines Historikers bemüht, dringt in vielen Passagen
seine Eigenschaft als Zeitzeuge unweigerlich durch. Das macht die Untersuchung
durchaus nicht uninteressanter, doch leidet ihr sachlicher und
wissenschaftlicher Charakter zeitweise darunter. Dennoch ist seine Studie weit
mehr als ein Zeitzeugenbericht. Durch seine Herkunft untermalt Zámečník seine
Thesen oft mit Beispielen aus der tschechischen Häftlingsgruppe und ist daher
für die vorliegende Untersuchung von großer Wichtigkeit.
Das Thema der Häftlingsnationalitäten wurde ebenfalls zunächst von
KZ-Überlebenden aufgegriffen. Das Interesse daran entsprang oft einem
Bedürfnis, das Verhalten der eigenen Nation im Lager zu rechtfertigen oder die
eigenen Landsleute als positives Beispiel besonders hervorzuheben. In nahezu
jedem einzelnen Bericht, welcher von ehemaligen tschechischen Häftlingen
verfasst wurde, wird die herausragend positive Verhaltensweise der tschechischen
Nation im Lager geschildert. Aber auch in anderen Erinnerungsberichten füllen
die Charakterisierungen bestimmter Nationalitäten im Lager ganze Kapitel.
Eine wissenschaft-liche Aufarbeitung dieses Themas ist allerdings noch nicht
sehr weit fortgeschritten. Die wenigen Studien, die es zu den verschiedenen
Nationalitäten gibt, sind größtenteils nicht älter als zehn Jahre. Wenn man die
meisten Studien zu den Häftlingsnationalitäten betrachtet, stellt man schnell
fest, dass sich die Forschung vor allem mit den Gefangenen aus west-europäischen
Ländern, wie Deutschland, Österreich oder Italien beschäftigt.
Die ost-europäischen Nationalitäten bleiben dagegen noch weitgehend unentdeckt.
Das liegt sicherlich zum einen an den sprachlichen Barrieren von
westeuropäischen Historikern, die keinen Zugang zu den meist in der
Landessprache verfassten Quellen finden. Zum anderen ist der Grund die immer
noch andauernde Tabuisierung dieses Themas in den betreffenden Ländern selbst,
so dass sich auch die einheimischen Historiker mit der Geschichte und Soziologie
der Konzentrationslager noch kaum befasst haben.
Zu den tschechischen Häftlingen im KZ Dachau existiert keine eigene Studie. Die
vorliegende Arbeit knüpft somit an diese Lücke an.
Im Mittelpunkt der folgenden Untersuchung steht die
Perspektive der Verfolgten, zumal hier mit den tschechischen Häftlingen tausende
Schicksale angesprochen werden. Einige von ihnen werden in Form von
Zeitzeugenberichten oder anderen personenbezogenen Quellen zur Sprache kommen,
wobei die Aussagen der Überlebenden gleichzeitig die Funktion des "roten Fadens"
innehaben.
Die beiden zentralen Kapitel bilden ein gegensätzliches Paar,
wobei zunächst die vorgefundenen Verhältnisse im KZ Dachau und später das
Verhalten der Häftlinge im Lager angesprochen werden. Um die erste zentrale
Fragestellung umfassend beantworten zu können, scheint eine
ereignisgeschichtliche Einführung über die Verfolgung der Tschechen im
Protektorat Böhmen und Mähren sinnvoll, da man sich bei der späteren Analyse der
Ereignisse in Dachau jederzeit wieder darauf beziehen kann. Dies gilt
insbesondere bei der Frage nach den Haftgründen und den Einlieferungsschüben der
Tschechen in dieses Konzentrationslager. Mit den Lagerverhältnissen werden
daraufhin hauptsächlich die Umstände untersucht, denen der Häftling im KZ passiv
ausgesetzt war, wie etwa die Ankunft und die Aufnahmeprozedur, die von der SS
aufgezwungene Kategorisierung der KZ-Insassen, die Lebensbedingungen sowie die
Behandlung der Tschechen durch die SS. Mit dem Verhalten wird dagegen die aktive
Teilnahme der tschechischen Häftlinge am Lageralltag dargestellt, wobei
insbesondere die Binnen- und Außenstruktur der tschechischen Häftlings-gruppe
sowie deren Überlebensstrategien behandelt werden. Die Arbeit schließt mit der
Befreiung und Repatriierung der Überlebenden im Frühling 1945 ab.
Da sich die Forschungslage zur Problematik der Nationalitäten
im KZ Dachau, wie bereits beschrieben, als ziemlich dürftig erweist, ist man auf
einen umfangreichen Quellenfundus angewiesen. Das Archiv der KZ-Gedenkstätte
Dachau war hierfür die geeignete Anlaufstelle, da dort seit vielen Jahren alle
Dokumente gesammelt werden, die dieses Lager und insbesondere seine Häftlinge
betreffen. Die folgende Untersuchung basiert auf mehreren unterschiedlichen
Quellentypen.
Zunächst wurden Primärquellen und Überreste
ausgewertet, welche direkt aus der Zeit des KZ Dachau stammen und daher einen
sehr großen Erkenntniswert, vor allem über die Lebensbedingungen der Häftlinge
im Lager besitzen. Für die tschechische Häftlingsgruppe sind hier unter anderem
die illegalen Aufzeichnungen des Journalisten Karel Kašák von Bedeutung, welche
im Zeitraum von 1940 bis 1945 entstanden sind.
Sie erlauben einen unmittelbaren und äußerst seltenen Einblick in die
Lagerverhältnisse. Aufgrund ihrer Authentizität und Zuverlässigkeit besitzen die
Aufzeichnungen für die Erforschung der Geschichte des KZ Dachau einen
unschätzbar hohen Wert.
Eine weitere Quelle, welche zu dieser Kategorie gehört, sind
die illegalen Fotoaufnahmen, welche im KZ Dachau vor- bzw. nach der Befreiung
entstanden sind. Natürlich war der Besitz eines Fotoapparates im Lager strikt
verboten und stand unter strengster Strafe. Dennoch befinden sich im Archiv der
KZ-Gedenkstätte Dachau unter den fünftausend überlieferten Fotos etwa siebzig
nichtoffizielle Aufnahmen.
Auch zwei tschechischen Häftlingen ist es gelungen, in den wenigen
unbeobachteten Augenblicken das Lagergeschehen zu fotografieren. Es waren Karel
Kašák und sein Landsmann aus Prag, Rudolf Císař. Diese Aufnahmen eignen sich
besonders gut, um einen Einblick in die Verhältnisse des Lagers zu erhalten,
zumal hier viele tschechische Mithäftlinge im Lageralltag oder im
Arbeits-kommando festgehalten werden. Als Quelle haben sie durch ihre
Unmittelbarkeit eine außerordentliche Aussagekraft.
Obwohl der KZ-Alltag den Häftlingen kaum Freizeit gestattete, entwickelten
einige von ihnen eine enorme Kreativität. So entstanden auch in der
tschechischen Häftlingsgruppe diverse Zeichnungen, Karikaturen und Gedichte,
welche als Quellen vieles von dem Gefühlsleben der Tschechen preisgeben. Sie
handeln von der Angst, von der Ohnmacht, von der Kälte, vom Ekel oder vom Tod.
Es sind aber auch einige humoristische Beiträge darunter, meist in Form von
illegalen Flugblättern oder Zeitungen. All diese Zeugnisse sind ein Zeichen für
die starke mentale Selbstbehauptung der tschechischen Häftlinge und bilden durch
ihre Authentizität ein wichtiges Korrektiv zu den Aussagen der verschiedenen
Memoiren, die erst nach der Befreiung verfasst wurden.
Auch die offizielle Korrespondenz der Häftlinge, die in vielen Fällen
erhalten geblieben ist, kann einiges zur Erschließung des Themas beitragen, da
man gerade an diesen Briefen, die stets eine sehr strenge Zensur im Lager
passieren mussten, den Unterdrückungscharakter des KZs gut ablesen kann.
Außerdem demonstrieren deren Inhalte die enorme Wichtigkeit des Kontaktes mit
der vertrauten Außenwelt für das seelische Überleben eines Häftlings.
Des Weiteren ist das erhaltene Blockbuch des sogenannten tschechischen Blocks
Nr. 20 herangezogen worden.
Es wurde vom Blockschreiber, einem Häftlingsfunktionär, in der Zeit von 1944 bis
1945 geführt. Hier lassen sich neben einer umfangreichen Namensliste der
Belegschaft dieses Blocks auch Einträge zu Nationalität, Berufen und in
Einzelfällen auch zu verschiedenen Kommandos im Lager finden. Die Quelle liefert
damit sehr interessante Angaben zur Zusammensetzung des "tschechischen" Blocks,
welcher gerade in der Erinnerungsliteratur der Überlebenden sehr oft erwähnt
wird. Die betreffenden Aussagen können auf diese Weise bestätigt oder korrigiert
werden. Die Aufstellung der Berufe und Arbeitskommandos im Lager bietet
gleichzeitig notwendige Informationen über den KZ-Alltag der tschechischen
Belegschaft dieser Baracke.
Eine weitere sehr wichtige Quelle ist die EDV-Datenbank "Faust", die sich in
der KZ-Gedenkstätte Dachau befindet. Sie beinhaltet zur Zeit Datensätze
von 190.102
ehemaligen Häftlingen und ist damit etwa zu 90 % komplett. Sie entstand erst im
Jahr 1995 und ist im Gegensatz zu den Datenbanken anderer Gedenkstätten
namensbezogen. Die Basis von "Faust" ist die alphabetische Häftlingsliste,
welche im Jahr 1986 vom bayerischen Landesentschädigungsamt der KZ-Gedenkstätte
zur Verfügung gestellt wurde. Diese basiert wiederum auf Karteikarten, die in
der Zeit des KZ Dachau von den Häftlingen selbst angefertigt worden sind. In der
alphabetischen Liste sind etwa 170.000 Häftlingsnamen verzeichnet. Eine weitere
Quelle, auf die sich die Datenbank stützt, bilden die Zugangsbücher, die
ebenfalls von den ehemaligen Häftlingen vermutlich während der Aufnahmeprozedur
im sogenannten Schubraum erstellt wurden. Diese liegen im Original beim ITS
Arolsen. Vom Januar 1937 bis zum November 1942 beinhalten sie sehr ausführliche
Angaben, wie etwa den Beruf, Wohnort oder Familienstand eines Häftlings. Des
Weiteren stammen vom ITS Arolsen Transportlisten aus dem Zeitraum 1933 bis Ende
1935, welche die Daten zusätzlich vervollständigen. Als letzte Quelle waren für
die Datenbank Zugangslisten relevant, die im Original bei der Hauptkommission
zur Verfolgung der Kriegsverbrechen in Warschau liegen. In ihnen sind die
Sammeltransporte aus anderen Lagern und Gefängnissen in den letzten beiden
Kriegsjahren erfasst. Doch auch diese Daten sind unvollständig. "Faust"
verzeichnet demnach heute einen minimalen Fehlbestand von etwa 5.000
Häftlingsdaten, wobei diese immer noch fast täglich ergänzt werden. Ein
einzelner Datensatz beinhaltet unter anderem den Namen eines Häftlings, seinen
Geburtsort und sein Geburtsdatum, seine Nationalität, das Zugangsdatum ins KZ
Dachau, seine Häftlingsnummer, die Haftart sowie sein "weiteres Schicksal",
welches beispielsweise "befreit" oder "gestorben" lauten kann. Bei vielen
Häftlingen sind jedoch nicht alle Angaben komplett, so dass eine Recherche nach
"Haftart" oder "weiterem Schicksal" zu teilweise ungenauem Endergebnis führen
kann. Doch wenn man diese Schwierigkeiten beachtet, stellt die Datenbank eine
sehr wichtige Basis für verschiedenste statistische Aussagen dar, die besonders
im zweiten Kapitel dieser Arbeit benötigt werden.
Die Behandlung der Tschechen durch die SS lässt sich wiederum gut an einigen
wenigen überlieferten Erlassen des SS-WVHA ,
sowie durch die Korrespondenz zwischen dem Reichsprotektor von Neurath und
Heinrich Himmler aus der Zeit des Protektorats ablesen.
Mit diesen Quellen wird ein Perspektivwechsel vollzogen, da hier zum ersten Mal
ausschließlich die Seite der Täter zur Sprache kommt.
Als nächstes sind die entsprechenden Sekundärquellen
analysiert worden. Es handelt sich hierbei um Quellen, welche erst in der Zeit
nach der Befreiung entstanden sind, wie etwa Zeitzeugenberichte und Memoiren der
KZ-Überlebenden. Bei der Gruppe der tschechischen Häftlinge fällt eindeutig auf,
dass die wenigen Berichte, die in Buchform erschienen sind, aus der Zeit vor dem
kommunistischen Putsch im Jahre 1948 stammen. Danach erfolgte eine weitgehende
Tabuisierung der nationalsozialistischen Verfolgung, so dass bis zum
end-gültigen Zusammenbruch des sozialistischen Regimes im Jahre 1989 nur äußerst
selten und meist nur ideologisch eingefärbte Memoiren entstanden.
Aus der Zeit vor diesen Ereignissen muss hier vor allem der 1946 erschienene
"Almanach Dachau"
erwähnt werden, eine Sammlung von kurzen Erinnerungsbeiträgen, die von einigen
ausgesuchten Vertretern der tschechischen Häftlingsgruppe verfasst wurden. Bei
den meisten Autoren handelt es sich hinsichtlich ihrer Bildung nicht um den
durchschnittlichen tschechischen Häftling, sondern eindeutig um die Vertreter
der Intelligenzschicht der Tschechoslowakei, darunter einige Journalisten,
Lehrer, Politiker oder Geistliche.
Man muss daher stets berücksichtigen, dass ihre Erinnerungen keinesfalls
repräsentativ sein müssen. Die meisten Beiträge sind mit großem Pathos verfasst
und in einigen davon ist tiefer Hass und endlose Wut auf das deutsche Volk
fühlbar. Eine politische Tendenz ist dagegen nur sehr selten zu erkennen.
Nichts-destotrotz haben die Erinnerungen für diese Untersuchung einen großen,
vor allem mentalitätsgeschichtlichen Erkenntniswert, auf den besonders im
zweiten Teil der Arbeit näher eingegangen wird. Viele der Aussagen lassen sich
durch die Heranziehung von Primärquellen oder anderen Sekundärquellen stützen
und in manchen Fällen auch widerlegen. Daneben spielt in den
Erinnerungsberichten auch die Einordnung und Bewertung der KZ-Erlebnisse durch
die Autoren eine große Rolle, welche sich an der Dominanz bestimmter Themen
deutlich erkennen lässt. Das ist in erster Linie interessant, da die meisten
Berichte nur wenige Jahre nach der Befreiung geschrieben und veröffentlicht
wurden, so dass sich die Verfasser sehr nah am Geschehen orientieren konnten.
Nach der Wende, als es politisch wieder möglich gewesen wäre über die
Erfahrungen zu schreiben, hat in vielen Fällen das mittlerweile sehr hohe Alter
der wenigen noch lebenden Zeitzeugen eine solche Anstrengung nicht mehr
zugelassen.
Den anderen Teil dieser Quellenkategorie bilden in der folgenden Arbeit drei
lebensgeschicht-liche Interviews, welche die Autorin mit Überlebenden des KZ
Dachau im September 2002 in der Tschechischen Republik führte.
Der Kontakt mit allen drei Zeitzeugen wurde während der Befreiungsfeier im Mai
2002 in der KZ-Gedenkstätte Dachau hergestellt. Alle signalisierten von Anfang
an Gesprächsbereitschaft, was durch die gemeinsame Mutter-sprache mit der
Autorin enorm begünstigt wurde. Die Interviews fanden in den jeweiligen
Wohnorten der Zeitzeugen statt, wobei die Treffen mit Herrn Kadlec und Dražan in
der vertrauten Atmosphäre ihrer Privatwohnungen und mit Herrn Jemelka, der sich
zum ersten Mal öffentlich zu seiner Verfolgung äußerte, etwas offizieller im
Gedenkzimmer der ehemaligen Gestapozentrale in Brünn, erfolgten. Der älteste und
zugleich der energischste Gesprächspartner war mit 91 Jahren Herr Kadlec aus
Prag, der jüngste mit 79 Jahren Herr Dražan aus Dobruška in Nordböhmen. Alle
drei Interviews wurden mit einer Videokamera aufgezeichnet, wobei wenige Male
die Bitte nach Ausschalten der Kamera geäußert wurde, da einige Erlebnisse nur
im Zwiegespräch dargelegt werden konnten. Das kürzeste Gespräch fand mit Herrn
Jemelka statt und dauerte vier Stunden, das Längste mit Herrn Kadlec dauerte
achtzehn Stunden und fand an zwei aufeinanderfolgenden Tagen statt, wobei beide
Gesprächspartner an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit stießen.
Im Mittelpunkt der Schilderungen stand immer die eigene Lebensgeschichte. Die
Zeit der Verfolgung blieb dabei das Hauptthema, so dass die Gespräche mit der
Erzählung über die Befreiung und die Rückkehr in die Heimat beendet wurden. Die
Schwerpunkte bildeten vor allem die Verhaftung, der Weg nach Dachau, die
Einlieferungszeremonie sowie das alltägliche Überleben der tschechischen
Häftlinge im Konzentrationslager. Gerade zu diesem noch ungenügend erforschten
Thema haben die Zeitzeugen als "Experten des Alltags"
einige neue Erkenntnisse beisteuern können. Ähnlich wie die schriftlichen
Memoiren müssen jedoch auch die lebensgeschichtlichen Interviews unbedingt
quellenkritisch untersucht werden. Dabei darf man nicht aus den Augen verlieren,
dass die Erinnerung eines Menschen einem ständigen Verformungs- und
Verdrängungsprozess unterliegt. Bei den Erzählungen der Zeitzeugen handelt es
sich stets um die subjektive Wahrnehmung der KZ-Erlebnisse, wobei diese in
vielen Fällen auch eine immense Aussagekraft besitzt. Es sind manchmal sogar
bestimmte Erzählmuster erkennbar, welche aus dem kollektiven Gedächtnis
herrühren und die eigene Erinnerung überformt haben.
Dennoch lassen sich in allen Fällen Beispiele finden, in denen sich traumatische
Erlebnisse unauslöschbar in das Gedächtnis der Überlebenden eingeprägt haben.
Alle Gesprächspartner haben etwa, als sie nach ihrer alten Häftlingsnummer
gefragt wurden, die Antwort unaufgefordert in deutscher Sprache förmlich
herausgeschossen, als ob sie sich wieder in der Vergangenheit befunden hätten.
Gleiches gilt auch für bestimmte Situationen, welche sich alltäglich im Lager
wiederholten und somit trotz der ständigen Bedrohung der Häftlinge eine Art
"Alltag" in das Lagergeschehen einführten. Gerade für solche Situationen stellt
die Methode der oral history eine große Chance dar, zumal sie auch diejenigen
Überlebenden zur Sprache kommen lässt, welche nicht fähig waren, ihre
Erinnerungen schriftlich zu kommunizieren. Dabei ist jedoch aufgrund der
Tatsache, dass der Interviewer "mit seinen Fragen an seelische Traumata rühren
kann, ohne jedoch eine psychotherapeutische Hilfe übernehmen zu können",
bei den lebens-geschichtlichen Gesprächen eine außerordentliche Sensibilität
erforderlich, die den Interviewer vor eine besondere Verantwortung stellt.
>>> weiter:
Die Verfolgung der Tschechen im Protektorat Böhmen und Mähren
Zur Diskussion im Forum:
[Nationalsozialistische
Konzentrationslager]
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Darunter sind für das KZ Dachau von besonderer Bedeutung: Rovan, Joseph:
Geschichten aus Dachau, Paris 1999, S. 78 – 115; Joos, Joseph: Leben auf
Widerruf. Begegnungen und Beobachtungen im K. Z. Dachau 1941 – 1945, 2.
überarb. u. erg. Aufl., Trier 1948, S. 74 – 86; Michelet, Edmond: Die
Freiheitsstraße. Dachau 1943 – 1945, Paris 1955, S. 96 – 111.
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Zu erwähnen sind hier vor allem die Untersuchungen, die im Rahmen der
Dachauer Hefte erschienen sind. Unter anderem: Mußmann, Olaf: Italienische
Häftlinge im KZ Mittelbau-Dora, in: DH 14 (1998), S. 245 – 255; Landauer,
Hans: Österreichische Spanienkämpfer in deutschen Konzentrationslagern, in:
DH 8 (1992), S. 170 - 180; Distel, Barbara/Zarusky, Jürgen: Dreifach
geschlagen – Begegnungen mit sowjetischen Überlebenden, in: DH 8 (1992), S.
88 – 102; Kreissler, Félix: Österreicher in Buchenwald, in: Jahrbuch/
Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, Weimar 1998, S. 30 –
45; Gabrielle Bergner: Aus dem Bündnis hinter den Stacheldraht. Italienische
Häftlinge im KZ Dachau 1943-1945. Deportation und Lebensbedingungen (=
Studien zur Zeitgeschichte; 25), Hamburg 2002.
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Die Absicht, mit der diese illegalen Aufnahmen entstanden sind, die
tschechischen Fotografen, die Entwicklung der Filme sowie einzelne Fotos
werden im Kapitel 3.3 über die "Subversion der totalen Durchherrschung"
näher vorgestellt.
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Diese Korrespondenz ist in einer tschechischen Quellenedition abgedruckt.
Milotová, Jaroslava/Kárny, Miroslav (Hrsg.): Anatomie okupační politiky
hitlerovského Nemecka v "Protektorátu Čechy a Morava". Dokumenty z období
říšského protektora Konstantina von Neuratha.
[Anatomie der Okkupationspolitik Hitler-Deutschlands im "Protektorat Böhmen
und Mähren". Dokumente aus der Periode des Reichsprotektors Konstantin
Freiherr von Neurath] (= Sborník k problematice dejin imperialismu
[Sammelband zur Problematik der Geschichte des Imperialismus]; 21), Praha
1987.
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Zu nennen ist hier etwa das unveröffentlichte Manuskript des ehemaligen
kommunistischen Abgeordneten Ladislav Kopřiva, welches nach der freundlichen
Auskunft des Herrn Statislav Zámečník nach dem Jahr 1948 für das
Zentralkomitee des KSČ verfasst wurde. Kopřiva hebt darin die starke
Zusammenarbeit zwischen den deutschen und den tschechischen Kommunisten
hervor und betont das starke Übergewicht des kommunistischen Geistes in den
Reihen der tschechischen Häftlinge in Dachau. Eine Kopie befindet sich im
Archiv der KZ-Gedenkstätte Dachau, DaA 36.075.
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Die vorliegende Onlinepräsentation basiert
auf einer Arbeit am Historischen
Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität
München
(Prof. Dr. Hans Günter Hockerts).
5. ANHANG
5.1.1 Quellenverzeichnis
5.1.2
Literaturverzeichnis
5.2.0 Abkürzungen
Zur Diskussion im Forum:
[Nationalsozialistische
Konzentrationslager]
hagalil.com
10-2004 |