3. Verhalten:
Tschechische Häftlinge und der KZ-Alltag3.5
Befreiung und Repatriierung
Die letzte Phase des Konzentrationslagers Dachau war
durch eine drastische Verschlechterung der Lebensbedingungen, durch Überfüllung,
Krankheit und einen schrecklichen Hunger gekennzeichnet, der die entkräfteten
Gefangenen oft bis zur Verzweiflung verfolgte. Das Kanonengedonner, welches
täglich immer näher kam, signalisierte den Häftlingen jedoch, dass der
Zusammenbruch der SS-Herrschaft nicht mehr fern war.
Die meisten tschechischen Häftlinge erlebten die
Befreiung des KZ Dachau im Stamm-lager.
Den 29. April 1945 schildern alle Interviewpartner als einen wunderschönen,
sonnigen Tag. "Am Morgen griff Erregung um sich. Die Menschen gingen neugierig
auf den Appellplatz, von wo aus eine an einem Gebäude der SS heraushängende
weiße Fahne sichtbar war. Unweit hinter der Plantage kreiste ein langsames
amerikanisches Flugzeug."
Die meisten SS-Einheiten verließen das Lager bereits in der Nacht, doch die
Wachtürme waren noch mit bewaffneten Resten der SS-Wachmannschaften besetzt und
daher unverändert gefährlich. Der genaue Ablauf der Befreiungsaktion kann heute
aufgrund der unterschiedlichen Versionen nicht mehr detailliert nachvollzogen
werden.
Als sicher gilt, dass das Lager am späten Nachmittag des 29. April 1945 von zwei
voneinander unabhängigen Einheiten der US-Armee befreit wurde. Welche Einheit
jedoch zuerst das Lager betrat, kann aufgrund der verschiedenen Aussagen der
Beteiligten nicht mehr eindeutig geklärt werden. Den genauen Verlauf konnte auch
kaum einer der tschechischen Interviewpartner schildern, da sich die meisten von
ihnen zu dem Zeitpunkt in den Baracken oder im Krankenrevier befanden oder von
der neuen Situation sprichwörtlich überrumpelt wurden. Die Schilderungen bleiben
auch bei ihnen widersprüchlich.
Dagegen stimmen viele Erinnerungsberichte darin überein,
dass es am 29. April, nach dem Betreten des Schutzhaftlagers durch die
amerikanischen Truppen, zu einem Schusswechsel zwischen ihnen und den SS-Wachen
auf den Türmen gekommen sei.
František Kadlec schildert in seinem Tagebuch, welches er nur wenige Tage nach
der Befreiung zu führen begann, detailliert diese "Liquidation" der
Wachtürme: "Der neutralen Zone entlang stehen Menschenmengen der Häftlinge
und regen den Soldaten mit den Aufrufen Hurrah, Bravo Amerikaner und durch das
Pfeifen an. [...] An der Turmferse liegen jetzt 5 Leichen, der sechste Mann
zappelt und ist während des Jubelns der häftlinge (sic!) mit 2 Schüsse
totgeschlagen. Da die Besatzung von 15 Männer am Bachrand gestanden ist, sind
einige Leichen in den Bach gefallen."
Die US-Einheiten haben in der Tat gleich zu Beginn etwa 200 SS-Männer
festgenommen, wobei sie einige von ihnen sofort erschossen."
Alle Beteiligten erinnern sich an die Befreiung als ein
über alle Maßen ergreifendes Ereignis. Eine unbeschreibliche Euphorie
beherrschte die Stimmung im Lager. Alle Häftlinge, die sich noch auf den Beinen
halten konnten, strömten während der Entwaffnung der Wachtürme in Scharen auf
den Appellplatz. Jiří Jemelka erinnert sich: "Jetzt wurde natürlich gejubelt,
geweint, geschrieen, umarmt, geküsst ... ."
In den nächsten Tagen fanden in dieser Atmosphäre zahlreiche Feste statt,
und das Lager wurde von unzählbaren bunten Nationalflaggen geradezu überflutet.
Die Häftlinge stellten nationale aber auch internationale Kulturprogramme
zusammen, an denen unter anderem auch der alte tschechische Häftlingschor nach
dem fast zweijährigen Verbot mit einem Repertoire von tschechischen Volksliedern
wieder teilnahm.
Den Höhepunkt der Feierlichkeiten bildete schließlich das Fest zum 1. Mai, "als
auf dem Appellplatz des Lagers inmitten eines Waldes von Fahnen und
Spruchbändern die Befreiung und das bevorstehende Kriegsende mit Festreden in
fünfzehn Sprachen begangen wurden."
Sehr viele Nationalitätengruppen, die sich nun schnell in Nationalkomitees
organisiert hatten, begannen zudem bereits in den ersten Tagen eine eigene
Zeitung in ihrer jeweiligen Muttersprache zu drucken. Die tschechische Zeitung
hieß "V nový život" ["Ins neue Leben"] und brachte es im Lager auf ganze
neunzehn Ausgaben.
Darin publizierten die Tschechen neben den aktuellen Ankündigungen und Befehlen
zahlreiche Gedichte und Erzählungen von nationalen Dichtern und auch Essays über
ihre politische Zukunfts-vorstellungen in der Freiheit. Doch der Enthusiasmus
der ersten Stunden währte angesichts des katastrophalen Zustands, in dem sich
das Lager und die Häftlinge befanden, nicht sehr lange.
Die Gefangenen waren durch die unermesslichen Strapazen
der KZ-Haft physisch und psychisch an ihren Grenzen angelangt. Statt eines
engeren Zusammenhalts und Solidarität breitete sich im Lager zunehmend Missmut
und Ungeduld aus. Viele tschechische Überlebende beklagen in ihren Erinnerungen,
dass sie im Lager angeblich weiter gefangengehalten wurden, denn viele
versprachen sich von der Befreiung eine schnelle Repatriierung. Doch die
amerikanischen Truppen waren aus mehreren Gründen genötigt, die Rückkehr der
Häftlinge in die Freiheit um einige Wochen aufzuschieben. Zunächst musste die
unberechenbare Typhusepidemie eingedämmt werden, da sonst die Gefahr der
Verbreitung außerhalb des Lagers bestanden hätte. Darum wurde über das ehemalige
KZ Dachau erneut Quarantäne verhängt und den Häftlingen mit Erschießung gedroht,
wenn sie das Lager verließen.
Nur wenige Gefangene erhielten die Genehmigung, außerhalb des Lagerbereichs nach
Lebensmitteln für die unterernährten Häftlinge suchen zu dürfen. Einige
Tschechen "organisierten" zu diesen Zwecken einen Traktor, mit dem sie Konserven
mit Gemüse, Marmelade oder Fleisch aus den benachbarten Gemeinden ins ehemalige
KZ Dachau lieferten. Des Weiteren war in den ersten Tagen kein
Repatriierungstransport möglich, da die Überlebenden durch anhaltende Kämpfe in
Südbayern extrem gefährdet gewesen wären.
Und schließlich befanden sich unter den ehemaligen Häftlingen noch einige
SS-Männer oder sadistische Funktionshäftlinge, die, meist in gestreifter
Kleidung als Gefangene getarnt, ihrer Strafe zu entkommen hofften. Diese mussten
vor der Repatriierung ausfindig gemacht werden.
Für die Tschechen begann nun eine Zeit der inneren
Zerrissenheit. Denn da im Gegensatz zu anderen ehemals besetzten Gebieten in
Böhmen und Mähren noch gekämpft wurde, fühlten sich viele von ihnen trotz der
Entkräftung verpflichtet, nach Hause zu ihren Familien zu eilen, um diese zu
beschützen. Zudem vernahmen sie seit Anfang Mai durch die zahlreichen
Radioempfänger eindringliche Hilferufe aus Prag, wo gerade in den ersten
Maitagen ein Aufstand der Bevölkerung gegen die Besatzer begann. Vor allem die
tschechischen Offiziere waren aufgrund ihrer Ohnmacht
"nervlich vollkommen angespannt".
Zudem dauerte die akute Lebensgefahr aufgrund der gefährlichen Typhusepidemie
weiter an, so dass viele Überlebende noch befürchten mussten, dass sie dieser
schweren Krankheit aufgrund ihrer schlechten körperlichen Verfassung zum Opfer
fallen würden.
Der innere Zusammenhalt begann zudem allmählich zu bröckeln. R. Dražan
schildert, dass "sobald die Gefahr (die von der SS ausging, Z. M.)
vorüber war, auch die starke tschechische Gruppe in viele einzelne politische
Gruppen zerbrach, von denen jede ein eigenes Programm hatte."
Die Identifikation durch die gemeinsame Sprache, Nationalität sowie die
gemeinsame Abneigung gegen das NS-Regime reichte demnach nach dem Ende der
Gefangenschaft nicht mehr aus. Die Häftlinge differenzierten sich zunehmend nach
verschiedenen politischen, sozialen oder privaten Interessen. Angesichts dieser
Entwicklung kann man bei der tschechischen Gruppe möglicherweise doch von einer
"Leidensgemeinschaft" sprechen. Denn der größte Teil von ihnen hielt nach
Angaben der Überlebenden so lange zusammen, wie das Leiden in der KZ-Haft
anhielt. Doch nachdem die unmittelbare Gefahr und das Elend durch die Befreiung
gebannt waren, zerfiel auch die gemeinsame Basis der Leidensgenossen, und die
Tschechen zerstreuten sich in viele kleinere und nicht selten gegensätzliche
Interessensgemeinschaften.
Um im Lager das drohende Chaos zu verhindern,
konstituierte sich bereits in der Nacht zum 29. April 1945 das Internationale
Häftlings-Komitee, welches nach der Befreiung zugleich als "ausführendes und
gesetzgebendes Organ der Selbstverwaltung"
fungierte. Seine Mitglieder erhielten in der ersten offiziellen Sitzung in
Freiheit von den amerikanischen Truppen "sämtliche Vollmachten über das Lager".
Die Organisation setzte sich aus Repräsentanten mehrerer Nationalitätengruppen
zusammen, wobei die Tschechoslowakei von Dr. František Bláha vertreten wurde.
Ihre Aufgaben waren außerordentlich vielfältig. Zunächst mussten die Vertreter
für ausreichend Nahrung und Kleidung sowie für Medikamente für die Kranken und
Schwachen sorgen. Des Weiteren musste bei den "nummerierten" Häftlingen die
Identität festgestellt werden, damit sie in ihr altes Leben zurückkehren
konnten.
Schließlich organisierte das Internationale Häftlings-Komitee die
Repatriierungen.
Der ersehnte Tag kam für die Tschechen am 21. Mai.
Nachdem Dr. Bláha eine weiterhin bestehende Gefahr durch Typhus ausschlossen,
und die tschechische Regierung wohl für alle Formalitäten gesorgt hatte, stand
ihrer Rückkehr nichts mehr im Wege. Da sich im Lager über 2.000 Überlebende aus
der Tschechoslowakei befanden, wurde die Repatriierung auf zwei oder sogar drei
aufeinanderfolgende Tage verteilt. "Einige hatten schon so schwache Nerven,
dass sie fürchterlich wütend wurden, dass sie erst mit dem II. Transport fahren
werden und nicht schon mit dem ersten. Diese letzten 24 Stunden haben sie wütend
gemacht."
Die Überlebenden wurden auf offenen Transportwagen zu je 25 Personen über
München, Landshut, Deggendorf nach Pilsen gebracht. Dieser Rücktransport hatte
wegen des Mangels an geeigneten Fahrzeugen von den amerikanischen Truppen,
welche die Reise bis Pilsen begleitet hatten, einen stark improvisierten
Charakter und war daher vor allem für die Schwächeren unter den Tschechen enorm
anstrengend. In Pilsen wurden die Kranken und Geschwächten nach Aussagen der
Überlebenden wohl gleich in Krankenhäuser aufge-nommen, und die übrigen traten,
nunmehr auf sich allein gestellt, die oft noch tagelange Reise in ihre
Heimatorte an. Sie war für sehr viele von ihnen mit zahlreichen
Unannehmlichkeiten und unerwarteten Hindernissen verbunden, da zum einen die
überwiegende Mehrheit kein Geld hatte, um eine weitere Reise oder die
Verpflegung zu finanzieren, und zum anderen wohl auch vielen die notwendigen
Repatriierungspapiere fehlten. Sowohl Herr Kadlec, als auch Herr Dražan und Herr
Jemelka fanden aber schließlich in ihre alten Heimatorte und nach einiger Zeit
auch in ihr früheres Leben zurück.
Auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers
Dachau entstand im Jahr 1965, im Zuge des zwanzigsten Jahrestages der Befreiung,
eine Gedenkstätte, die die Erinnerung an den nationalsozialistischen Terror wach
hält. Jedes Jahr feiern hunderte ehemaliger Häftlinge an diesem Ort den Tag der
Befreiung als einen Gedenktag für die Opfer des KZ Dachau. Die meisten
tschechischen Überlebenden wurden durch das kommunistische Regime lange Zeit an
der Teilnahme gehindert, so dass für die wenigen von ihnen, die noch am Leben
sind, erst seit 1989 der Weg in die Gedenkstätte offen steht. Und wenn nach der
traditionellen Kundgebung am Krematorium das Lied "Die Moorsoldaten" gespielt
wird, spürt auch der unbeteiligte Beobachter, dass ein Teil von ihnen diesen Ort
niemals verlassen hat.
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Benz, Wolfgang: Zwischen Befreiung und Heimkehr. Das Dachauer Internationale
Häftlings-Komitee und die Verwaltung
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des Lagers im
Mai und Juni 1945, in: DH 1 (1985), S. 45.
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Benz, Zwischen Befreiung, S. 40, 45, 47.
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5. ANHANG
5.1.1 Quellenverzeichnis
5.1.2
Literaturverzeichnis
5.2.0 Abkürzungen
Zur Diskussion im Forum:
[Nationalsozialistische
Konzentrationslager]
hagalil.com
12-2004 |