Parallel zu den sehr aufwendigen kulturellen
Veranstaltungen arrangierten die Tschechen auf fast
allen Stuben des "tschechischen" Blocks Nr. 10 und später auch Nr. 20
regelmäßige abendliche Vorträge. Sowohl die Erzähler als auch die Themen waren
sehr unterschiedlich und vielseitig. Wenn jemand Interesse hatte, eine
Geschichte aus seinem Leben oder seinem Fachbereich zu erzählen, meldete er sich
und sein Thema einige Tage vor dem Termin beim zuständigen Häftlingskameraden
auf der jeweiligen Stube an und wartete, bis er an die Reihe kam. Die Häufigkeit
der Vorträge ist sehr schwer festzustellen, da sich die Überlebenden an konkrete
Zeitangaben verständlicherweise nur sehr selten erinnern können. Radovan Dražan
berichtet, dass für die Vorträge kein besonderer Abend bestimmt war. Lediglich
der Samstag hätte den tschechischen Offizieren und Generälen gehört, die anhand
der illegal abgehörten Radiosender über die aktuelle Situation an der Front
referierten. Alle übrigen Abende standen demnach anderen Häftlingen frei zur
Verfügung, wobei die Anzahl der wöchentlichen und manchmal sogar täglichen
Vorträge von den aktuellen Lebensbedingungen abhing. Nach R. Dražan und V.
Feierabend fanden solche "illegale(n) Dämmerstunden"
manchmal monatelang nicht statt. In einer anderen Phase mehrere Wochen lang
dagegen sogar täglich.
Der Ort der Vorträge war stets der Schlafsaal, kurz nachdem dort gegen 21 Uhr
das Licht gelöscht wurde. Einer der Hauptorganisatoren war der tschechische
Oberst Robert Toscani, der in seinen Erinnerungen die Situation eines
abendlichen Vortrags sehr eindrucksvoll schildert: "Die Lichter sind bereits
erloschen. Alle liegen auf den Betten in drei Etagen übereinander, sind in die
Decken eingewickelt [...]. Das ist der Moment für die Erinnerungen an die
Liebsten, in denen der gefesselte Mensch der Hoffnungslosigkeit und der
Traurigkeit verfällt, dem Hass und dem Verlangen nach Rache, Flüchen und der
vernichtenden Ohnmacht. [...] Die Brüder bereiten sich auf den Schlaf vor. Einer
von ihnen kommt in den Raum zwischen den Betten, bittet um Ruhe und gibt den
Gegenstand seines Vortrages bekannt. Und sogleich kommt ein Zweiter in den
gleichen Zwischenraum und trägt eine Geschichte vor, angelehnt an die Seitenwand
des niedrigsten Bettes, meist nicht zu sehen nur zu hören, [...], da er bereit
sein muss, sich nach Aufforderung sofort hinzulegen. Viertel Stunde, halbe
Stunde und auch länger erzählt er mit einer leisen Stimme über ein Thema,
welches er gewählt hatte. Die anderen hören zu, bis die Müdigkeit nach der
ganztägigen Arbeit sie ihre Augenlider schließen lässt und sie mit einem weichen
Netz aus Schlaf bedeckt, der im Lager so glücklich ist, da er hier das
vollkommene Vergessen bringt. Der Vortragende spricht zu Ende und mit einem
leisen: "Gute Nacht Brüder", nimmt er von allen Abschied für die Nacht. [...]."
Die Themen boten aufgrund der unterschiedlichen Herkunft
der tschechischen Häftlinge eine unglaubliche Vielfalt. Neben politischen
Vorträgen, bei denen nach Toscani meist die Präsidenten T. G. Masaryk und Edvard
Beneš gewürdigt wurden, sprachen die Häftlinge unter anderem über die
Geschichte, die Geographie, die Medizin, die Biologie, über das Schulwesen, die
Industrie, die Malerei, den Gesang, über das Theater, den Sport, die Armee, über
die tschechische Mythologie und sogar über die Grundlagen des Spiritismus und
der Hypnose.
Am meisten genossen die Häftlinge, nach Angaben aller Interviewpartner,
Geschichten über ferne Länder. In der Dunkelheit des Schlafraums machten sie
Gedankenaus-flüge nach Frankreich, Italien, Dänemark, Island, Afrika oder nach
Asien. Auf diese Weise verließen sie für kurze und sehr wertvolle Augenblicke
die Hoffnungslosigkeit des Konzentra-tionslagers und überwanden damit die
abendliche Melancholie und Verzweiflung. "In unseren Seancen hatten wir sogar
etwas Musik. Manchmal war es eine Geige, ein anderes mal eine Gitarre, die uns
im Pianissimo mit gedämpftem Gesang in die Tage der Freiheit trug."
So überbrückten die Vorträge bei vielen Häftlingen die kritische Zeit des
Abends, halfen den Geschundenen beim Einschlafen und somit bei der geistigen und
körperlichen Regeneration. Darum war die Funktion der abendlichen Vorträge
weniger die mentale Auflehnung gegen die Peiniger, sondern vielmehr der
psychische Ausgleich an sich und damit eine konkrete therapeutische Hilfe.
Im Jahr 1944 strömten nach Dachau unaufhaltsam immer neue
Massen von Häftlingen, so dass die Blöcke langsam überfüllt wurden. Im Block Nr.
20 wurden zudem neben den Tschechen allmählich auch zahlreiche andere
Nationalitäten "konzentriert", so dass die Gemeinsamkeit der Sprache allmählich
verloren ging. Die Voraussetzungen für weitere Vortragsabende waren darum bis
zur Befreiung nicht mehr gegeben.
5. ANHANG
5.1.1 Quellenverzeichnis
5.1.2
Literaturverzeichnis
5.2.0 Abkürzungen
Zur Diskussion im Forum:
[Nationalsozialistische
Konzentrationslager]
hagalil.com
08-2004