Die geschichtswissenschaftliche Forschung ließ die Kunst
und Kultur im Zusammenhang mit den Konzentrationslagern angesichts der
unzähligen Gräuel mindestens dreißig Jahre nach Kriegsende völlig unerwähnt. Im
Gegensatz dazu nimmt dieses Thema in vielen Memoiren und Aussagen von
Überlebenden einen beeindruckend hohen Stellenwert ein. Gerade weil Kultur und
KZ einander auszuschließen scheinen, ist die Erforschung der Bedingungen und der
Bedeutung des kulturellen Schaffens im Lager von großer Wichtigkeit. Denn diese
krassen Gegensätze verkörpern die Komplexität des KZ-Systems, und helfen dem
unbeteiligten Forscher, die Mehrdimensionalität dieses Ortes zu erfassen. Zudem
erlauben die kreativen Schöpfungen einen tiefen und authentischen Blick in das
Innenleben eines Häftlings und geben so Auskunft über die Empfindungen und die
Eindrücke eines Menschen in dieser Extremsituation.
Wie bereits dargelegt beabsichtigte das
nationalsozialistische Regime nicht nur die physische, sondern auch die
psychische Vernichtung all seiner Gegner sowie aller mit der Ideologie
unvereinbaren und damit entbehrlichen Individuen. Durch permanente Demütigungen,
Hunger, Gewalt und die unentrinnbare und immerwährende Konfrontation mit dem Tod
sollten die Häftlinge bald nach ihrer Einlieferung ins KZ nur noch eine
Negativabbildung ihrer Selbst darstellen. Am deutlichsten spiegelt sich diese
Intention an den "Muselmännern" wider, deren Seele sich nach und nach selbst
zerstörte, um, wie von einem tierischen Instinkt geleitet, den Körper noch eine
Weile "durchzuretten".
W. Sofsky bezeichnet die "Muselmänner" daher zurecht als "den vollkommenen
Triumph (der absoluten Macht) über den Menschen."
Angesichts der unmenschlichen Umgebung, die von extremer moralischer Verrohung
geprägt war, muss der Begriff der Kultur im Konzentrationslager sehr weit
gefasst werden. Das hauptsächliche Ziel der kulturellen Betätigung war stets die
Bewahrung der eigenen, menschlichen Würde sowie des persönlichen
Selbstverständnisses. Nach C. Daxelmüller umfasst der Kulturbegriff "die
Gesamtheit des kulturgeprägten Verhaltens", welches sich "aus der Sozialisation
(ergibt) und [...] zugleich ein verbindliches Kommunikations- und Wertesystem
(formuliert), das sich in alltäglichen Kulturtechniken äußert."
Daher schloss die Kultur im Lager nicht nur die künstlerische Aktivität als
Maler, Dichter oder Musiker mit ein, sondern auch tiefgehende Gespräche und
Debatten, Vorträge zu verschiedenen Themen, humoristische Kabaretts,
Zauberstücke, sportliche Betätigungen, Theater- und Gesangsaufführungen aber
auch das leise vor sich hingesummte Lied aus der Vergangenheit. Jede einzelne
dieser Tätigkeiten ermöglichte es dem Häftling für einen winzigen Moment
zumindest in Gedanken dem Lager zu entfliehen, und sich vor seinem inneren Auge
wieder als Mensch zu begreifen. Der tschechische Journalist und Überlebende des
KZ Dachau, Ludvík Henych, verdeutlicht in seinen Erinnerungen die Funktion der
Kultur als Überlebensstrategie, indem er äußert: "Wir Häftlinge hätten
niemals die Tage und Jahre in der Hölle der Gefängnisse und Konzentrationslager
überleben können, wenn wir unsere Gedanken von den ganzen Grausamkeiten die um
uns waren, nicht hätten abwenden können, Grausamkeiten, die jeden Moment das
Leben eines jeden von uns hätten beenden können – und wenn wir es nicht
geschafft hätten, unsere Seelen wenigsten für einen kleinen Moment an etwas
Wunderschönes, Großes oder Edles anzulehnen, was wir in Musik, Literatur und
Kunst fanden oder an Dinge, durch welche die Natur mit ihren Schönheiten zu uns
sprach."
Viele tschechische Überlebende schildern die künstlerischen und kulturellen
Betätigungen als Waffen gegen die tödliche Depression, Resignation und
Abstumpfung. Da sich diese nationale Gruppe, wie vermutlich viele andere auch,
über die gemeinsame Muttersprache und das nationale Kulturbewusstsein
identifizierte, fungierte das kulturelle Schaffen auch im KZ Dachau als ein
Bindeglied zwischen den unterschiedlichsten Charakteren und schuf eine
weitgehend übergreifende nationale Identität. Besondere Feste, wie Weihnachten
und Nationalfeiertage, spielten in der tschechischen Häftlingsgruppe daher stets
eine sehr wichtige Rolle. Die tägliche Erschöpfung, der Mangel an Freizeit, an
geeignetem Material und sogar der Hunger wurden überwunden, um die anstehende
kulturelle Veranstaltung vorzubereiten. Unzählige Gegenstände wurden
"organisiert", um Theateraufführungen oder Hörspiele zu inszenieren. Gedichte
wurden geschrieben und Lieder aus dem Nichts komponiert, um sich selbst und den
Mithäftlingen einen Hauch von Hoffnung einzuflößen. Die Auswirkungen waren nach
Angaben der Überlebenden enorm. Emanuel Faltus erinnert sich, dass sogar
Personen, die sich selbst schon längst aufgegeben hatten, auf diese Weise zu
neuem Lebensmut fanden.
Die kulturellen und musikalischen Veranstaltungen gaben nicht nur den Autoren
und den Akteuren, sondern auch den Zuschauern einen festen Orientierungspunkt,
nach dem sie sich eine ganze Weile richten konnten und der sie das Grauen eine
weitere Zeit lang ertragen ließ. Nach dem Ende einer bestimmten Veranstaltung
konnten alle interessierten Häftlinge aus der kulturellen Erfahrung noch lange
Zeit Kraft schöpfen. Nach Daxelmüller verhalf das kulturelle Verhalten den
Häftlingen "neben der therapeutischen, identitäts-findenden und lebensrettenden
Funktion zu dem Bewußtsein, sich als kultiviertes Wesen von den Tätern zu
unterscheiden."
Daher war die Kultur eine wichtige Quelle der mentalen Selbstbehauptung und ein
bestimmender Teil der Überlebensstrategie.
5. ANHANG
5.1.1 Quellenverzeichnis
5.1.2
Literaturverzeichnis
5.2.0 Abkürzungen
Zur Diskussion im Forum:
[Nationalsozialistische
Konzentrationslager]
hagalil.com
08-2004