2. Verhältnisse:
Einlieferung nach Dachau und Lebensbedingungen im Lager
2.3 Häftlingskategorien
Die jüdischen Häftlinge gehörten zu einer eigenen
Kategorie, welche sich sowohl äußerlich als auch in ihrer inneren
Zusammensetzung von allen anderen Häftlingsgruppen deutlich unterschied. Im
Gegensatz zu den politischen Häftlingen waren die Juden in erster Linie der
rassischen Verfolgung ausgesetzt. In den Augen der SS galten sie als
"Untermenschen", als "Volksschädlinge" und sollten so schnell wie möglich
vernichtet werden. Diese Sichtweise, durch die sie ihres menschlichen Wesens
beraubt wurden, bestimmte stets das Verhalten der SS-Wachmannschaften, die die
jüdischen Häftlinge bei jeder Gelegenheit unvorstellbar quälten. Stanislav
Zámečník, welcher die elenden Lebensbedingungen der Juden im Lager selbst
beobachten konnte, schreibt, dass das Leben in Dachau zwar schwer war, doch "was
die Juden dort erleiden mussten, übersteigt die normale menschliche
Vorstellungskraft."
Gekennzeichnet waren die Juden mit einem verschiedenfarbigen Winkel, je nach den
sonst üblichen Kategorien, manchmal rot, manchmal grün, rosa oder schwarz.
Dieser war bei ihnen ferner mit einem gelben Dreieck hinterlegt, der zusammen
mit dem Winkel einen sechs-eckigen Davidstern bildete. So waren die Juden für
alle auf den ersten Blick zu erkennen, falls sie nicht schon zuvor durch ihre
besonders elende Erscheinung auffielen, die für sie aufgrund der schlechten
Lebensbedingungen zusätzlich charakteristisch war. "Am Ende der jüdischen
Abteilung zieht sich eine Reihe spukhafter Gestalten dahin, in Strümpfen, die
schweren Holz-schuhe in der Hand, weil die entkräfteten Beine die Schuhe nicht
mehr tragen können."
Durch das Konzentrationslager Dachau gingen insgesamt
1.661 tschechische Juden. Die meisten von ihnen, nach dem bisherigen Stand etwa
1.355 Personen, kamen, wie oben bereits dargestellt, in den Jahren 1944 und 1945
völlig entkräftet im Zuge der Evakuierungen der großen Konzentrations- und
Vernichtungslager.
In Dachau sowie in anderen Konzentrationslagern bildeten
die Juden das unterste Ende der Häftlingshierarchie.
Sie lebten in völlig überbelegten, streng isolierten Blöcken, ihre
Essensrationen waren deutlich kleiner und weniger nahrhaft als die der
nichtjüdischen Häftlinge. Im KZ Dachau wurden die Juden zunächst in die
"Strafkompanie" eingereiht, in der die Häftlinge die "schwersten und
widerlichsten"
Arbeiten ausführen mussten, ohne von den wenigen Ruhepausen, die im
Konzentrationslager möglich waren, profitieren zu können. F. Pingel analysiert
sehr treffend, dass die Juden "generell davon ausgeschlossen (waren), die
wenigen Regenerations- und Einflußmöglichkeiten wahrzunehmen, die das Lager für
die anderen Häftlinge in seinen Verwaltungseinrichtungen, differenzierten
Arbeits-kommandos und dem Funktionärssystem bot."
Es war für sie daher kaum möglich, die elenden Lebensbedingungen aus eigener
Kraft zu verbessern. Chronischer Hunger, Kälte, Krankheiten und völlige
Erschöpfung waren für die jüdischen Häftlinge besonders kennzeichnend. Die
meisten verfielen physisch und psychisch binnen kürzester Zeit und starben unter
besonders elenden Umständen. Damit erfüllten sie schließlich den Zweck ihrer
Haft, denn vor der letzten Kriegsphase, in der jede Arbeitskraft benötigt wurde,
sollten sie einfach nicht überleben. Kennzeichnend dafür ist auch das Verbot,
Juden in das sogenannte Revier
aufzunehmen, um sie dadurch an ihren Krankheiten schneller zugrunde gehen zu
lassen. Mit dem Beginn des totalen Arbeitseinsatzes wurden die meisten von ihnen
schließlich in den großen Außenlagerkomplexen, wie etwa Kaufering oder Mühldorf,
eingesetzt, wo ihre Arbeitskraft unter katastrophalen Lebensbedingungen für die
Rüstungsindustrie bis zur Erschöpfung ausgebeutet wurde.
Hinzu kam noch die brutale Behandlung der Juden durch
grausame Kapos und SS-Männer, der sich kaum einer entziehen konnte. Geschlagen,
getreten und getötet wurde völlig grundlos, entscheidend war nur der Davidstern.
Karel Kašák, der seine Beobachtungen von der "Plantage” in seinen Aufzeichnungen
festhielt, berichtet nicht selten, dass die SS-Wachen einem jüdischen Häftling
die Mütze vom Kopf rissen und diese hinter die Postenkette warfen, die von
keinem Häftling überschritten werden durfte. Der "Kapo zwang ihn mit dem
Knüppel, sie zu holen. Diese Menschen sind bis zur Unkenntlichkeit entkräftet,
so wie in Trance, mit einem Blick ins Unbestimmte. Er machte ein Paar Schritte
hinter die Postenlinie, und eine Stunde später fuhren sie den Toten in einem
Wagen an der Kanzlei vorbei."
Der tschechische jüdische Häftling Erich Kulka, der bereits im Dezember 1940
nach Dachau eingeliefert wurde, schildert wiederum die folgende Situation,
welche stellvertretend für viele andere gesehen werden kann: Im Strafblock
"hat man mit Reinheit getötet. [...] Der Fußboden ist poliert, wir dürfen
überhaupt nicht mit den Schuhen in das Zimmer. Der Knoll
hat auf einmal gebrüllt: Los strafexerzieren, auf den Hof! Und der Stubendienst
hat mit den Knüppeln geschlagen und wir mußten schnell laufen ... und so lief
man barfuß hinaus und war voll Dreck. Und man ist zurückgekommen und hat
selbstverständlich das ganze verdreckt. So ein Misthaufen! Ablecken! Und so
leckten wir den Kot mit den Zungen. Und sie haben geprügelt und einige Leute
wurden dabei erschlagen."
In den Arbeitskommandos wurden die Juden oft genötigt, im Laufschritt zu
arbeiten und dabei völlig sinnlose Tätigkeiten auszuführen. Ähnlich wie die
Geistlichen mussten sie auf Tischplatten und manchmal nur in Mützen den Schnee
in die Würm tragen, mit schweren Pfählen die Erde stampfen oder in der Kiesgrube
den Kies unaufhörlich von einer Stelle auf die andere schippen. Der tschechische
jüdische Journalist und Publizist Alfred Fuchs wurde bei einer solchen sinnlosen
Arbeit zu Tode gequält. Nach der Aussage der Überlebenden Karel Kašák und Karel
Frinta, welche direkt nach der Befreiung vor der Kommission des tschechischen
Nationalkomitees in Dachau gemacht wurde und daher als verhältnismäßig
authentisch betrachtet werden kann, musste Fuchs bei eisiger Kälte im rasenden
Tempo und unter schweren Schlägen der Kapos und SS-Männer den Schnee in den
Fluss räumen. Nachdem er diese Schikane nicht lange durchhielt und bewusstlos
wurde, übergossen ihn seine Peiniger mit Wasser und befahlen ihm zweimal in den
eiskalten Bach zu steigen. "Draußen ist es gerade an die minus 30 Grad
Celsius. Nun muss er seine Mütze abnehmen, seine Handschuhe, sowie den nassen
Mantel"
und so mehrere Stunden lang am Tor strafstehen. Alfred Fuchs und sein
tschechischer jüdischer Kollege waren vor Kälte ganz erstarrt und "sahen so
aus, als ob sie aus Blech wären."
Da beiden nach dieser Tortur die Aufnahme ins Revier verweigert wurde, starben
sie binnen weniger Tage an Lungenentzündung und schweren Erfrierungen.
Zu all diesen entsetzlichen Lebensbedingungen kam der
Umstand, dass die Kategorie der jüdischen Häftlinge eine vollkommen zufällig
zusammengeworfene Häftlingsgruppe war, der eine "gemeinsame Handlungsbasis"
fehlte. Anders als die Nationalitätengruppen, die sich durch ihre gemeinsame
Nationalität, Sprache, Kultur und oft auch die "vorkonzen-trationäre"
Prägung identifizierten, verband die Juden meist nur ihr Stigma und das damit
zusammenhängende große Elend. Sehr viele von ihnen fühlten sich nicht einmal zum
Judentum zugehörig, waren bereits getauft oder lebten ein Leben ohne eine
Religion. Auch ihre politische Überzeugung sowie ihre soziale Verhältnisse waren
nicht selten völlig verschieden. "Unter ihnen fanden sich Anhänger der
politischen Linken und der Rechten, Gläubige und Atheisten, Kaufleute und
Arbeiter, Kriminelle und unbescholtene Staatsbürger, Belgier, Griechen, Polen,
Russen und Italiener."
Und eben auch Tschechen. Doch das Rassenmerkmal "Jude" war viel dominanter, so
dass man bei den jüdischen Häftlingen nicht nach einzelnen
Häftlingsnationalitäten differenzieren kann. Unter ihnen konnte sich außerdem
kaum Zusammenhalt oder gar Solidarität entwickeln, denn ihre Gruppe war mehr als
alle anderen durch den alles dominierenden Selbsterhaltungstrieb geprägt. Der
Überlebende E. Kupfer-Koberwitz berichtet in seinem Tagebuch von einem Gespräch
mit fünf intellektuellen Juden über ihre qualvolle Haft im KZ Dachau. Nachdem er
die "Israeliten" für ihre berühmte gegenseitige Hilfsbereitschaft gelobt
hatte, die wie er vermutete "nun in der Gefangenschaft doppelt so stark sein"
müsste, entgegnete ihm einer der Juden: "Du darfst nicht vergessen
[...], daß wir lauter verhungernde Menschen sind. Finde du einmal Vernunft und
Nächstenliebe bei Verhungernden."
Die elenden Lebensbedingungen spiegeln sich schließlich in der enorm hohen
Sterberate innerhalb dieser Häftlingsgruppe wider. Für das gesamte Lager ist sie
aufgrund der schlechten Quellenlage kaum exakt ermittelbar, doch bei den
tschechischen jüdischen Häftlingen betrug sie nach dem bisherigen Stand etwa 51
% und war somit mehr als viermal so hoch als bei den nichtjüdischen Tschechen.
Spezielle Winkel sollten die Häftlinge im NS-Konzentrationslager
"kennzeichnen":
Politisch (rot) homosexuell (rosa) Bibelforscher (lila)
emigriert (blau) sog. asozial (schwarz) kriminell (grün)
Erste Reihe: Einfache Kenzeichen,
Zweite Reihe: Angehörige bestimmter Strafbataillone erhielten ein zusätzliches
Kennzeichen, ebenso wie Häftlinge, die bereits zum wiederholten Mal inhaftiert
wurden (dritte Reihe).
Auf Fluchtgefahr wurde durch einen "Zielpunkt" hingewiesen.
Tschechische Häftlinge wurden u.U. noch durch ein "T" gekennzeichnet, in der
Regel auf rotem Grund. Armeeangehörige erhielten ein umgedrehtes rotes Dreieck.
Bei
Juden wurden die Kennzeichen noch durch ein gelbes Dreieck
unterlegt, so dass ein Stern entstand.
Sog. "Rassenschänder" bzw.
Rassenschänderinnen" wurden ebenfalls gekennzeichnet.
Im Konzentrationslager Dachau wurden neben den roten
Winkeln und den verschieden-farbigen jüdischen Davidsternen noch sehr viele
andere Kennzeichnungen verwendet. Die zweitgrößte Gruppe unter den
Häftlingskategorien bildeten im Allgemeinen die "kriminellen" Gefangenen, welche
im Lager einen grünen Winkel trugen. Darunter gehörten zum einen die sogenannten
polizeilichen Sicherungsverwahrten (PSVer), welche ihre Strafe zu der sie von
der Justiz verurteilt worden waren, im KZ verbüßten. Zum anderen zählten dazu
die "befristeten Vorbeugehäftlinge" (BVer), im Lagerjargon "Berufsverbrecher"
genannt, die wiederum nach der vollstreckten Justizstrafe zur Vorbeugung in ein
Konzentrationslager eingewiesen wurden.
Nach W. Sofsky unterschieden sich diese zwei Gruppen innerhalb der Kategorie der
"Grünen" weiter dadurch, dass die "Berufsverbrecher" von der SS extrem bevorzugt
wurden und zwar besonders dann, "wenn Ordnung nicht durch Disziplin, sondern
durch Brutalität durchgesetzt werden sollte."
Die "polizeilichen Sicherungsverwahrten" waren dagegen angeblich äußerst
benachteiligt, wurden von sämtlichen Privilegien ausgeschlossen und zudem zu den
schwersten Arbeiten herangezogen.
Da in Dachau die politischen Häftlinge eindeutig dominierten, bildete dieses
Lager gerade den Einfluss der "kriminellen" Häftlinge betreffend eine eher
seltene Ausnahme. Mit den "Kriminellen" besaß die SS nämlich ein wichtiges
Gegengewicht zu den "Politischen" und förderte daher in vielen
Konzentrationslagern ihren Aufstieg in der Häftlingsselbstverwaltung. Dort
entbrannte dadurch ein regelrechter Kampf zwischen den "Roten" und den "Grünen"
um wichtige Funktionsstellen, bei dem sich in vielen KZs gerade die
"Kriminellen" durchsetzen konnten.
Die "Kriminellen" waren zudem aufgrund ihres schlechten Rufes ein unabdingbarer
Teil der nationalsozialistischen Lagerpropaganda, welche alle KZ-Häftlinge mit
Schwerverbrechern und Mördern gleichsetzte. Um die KZ-Haft und damit die
Isolierung der politischen Feinde des NS-Systems in der deutschen Bevölkerung
überzeugend rechtfertigen zu können, ließ die nationalsozialistische
Propagandamaschinerie verlauten, dass die meisten Häftlinge "unverbesserliche
Wirrköpfe, pathologische Verbrecher, erbbelastete Menschen (seien), von
denen eine soziale Gemeinschaft nie gutes zu erwarten haben wird".
Unter den tschechischen Häftlingen befanden sich laut
Häftlingsdatenbank insgesamt nur 31 "polizeiliche Sicherungsverwahrte" sowie ein
jüdischer "Berufsverbrecher". Unter den PSVern ist auch eine 21-jährige
tschechische Frau zu finden, die im Jahr 1944 aus Ravensbrück kam und welcher
nach "Faust" im März 1945 sogar die Flucht aus dem Lager gelungen sein soll.
Die überwiegende Mehrheit der männlichen Häftlinge kam in den Jahren 1942 und
1943 bereits aus anderen Konzentrationslagern, wie etwa Groß-Rosen, Auschwitz,
Mauthausen oder Buchenwald. Zehn von ihnen wurden nach dem Aufenthalt in Dachau
erneut in verschiedene andere Lager überführt und dadurch immer wieder neuen
Torturen ausgesetzt. Dreizehn Personen starben im KZ Dachau, wobei zwei von
ihnen auf einen tödlichen "Invalidentransport" geschickt wurden. Die Sterberate
unter den tschechischen "Kriminellen" betrug demnach ganze 42 % und war somit
viermal so hoch wie bei den politischen Häftlingen. Dieser Umstand könnte die
These von W. Sofsky untermauern, dass gerade die "Sicherungsverwahrten" im Lager
sehr schlechten Lebensbedingungen ausgesetzt waren. Man muss dabei allerdings
bedenken, dass die meisten von ihnen schon eine Leidensgeschichte in anderen KZs
hinter sich hatten und durch die Transporte sehr entkräftet waren. Dieser
Umstand spiegelt sich sicherlich auch in der hohen Sterblichkeit wider. Sieben
"grüne" Tschechen wurden schließlich im April 1945 im Lager befreit. Über die
Haftgründe sowie über ihre Verfolgung in Dachau ist leider kaum etwas bekannt.
Ebenso, ob zwischen ihnen und den "roten" Tschechen irgendwelche Kontakte
bestanden haben. In der Erinnerungsliteratur tauchen sie überdies kaum auf.
Eine ähnlich große Gruppe stellten die tschechischen
"Asozialen" dar, die im Lager offiziell als "Arbeitszwang Reich" (AZR) erfasst
waren und einen schwarzen Winkel erhielten. Diese Häftlingsgruppe bildeten im
Allgemeinen "hauptsächlich Bettler, Landstreicher und Alkoholi-ker, aber auch
Zuhälter und Personen, die mit Unterhaltszahlungen im Rückstand waren".
Im Fall der Tschechen könnten viele Häftlinge auch aufgrund "ungenügende(r)
Arbeits-leistung und häufige(r) Fehlzeiten am Arbeitsplatz"
nach Dachau verschleppt worden sein, da beides besonders während des Krieges als
"asozial" galt. Die genauen Haftgründe sind jedoch nicht bekannt. Unter ihnen
befanden sich zudem zahlreiche "Zigeuner", welche auf diese Weise doppelt
stigmatisiert wurden: einerseits als "gemeinschaftsfremd" und anderer-seits als
"rassisch minderwertig". Ebenso wie bei den "kriminellen" Häftlingen, handelte
es sich bei den "Asozialen", bzw. "Arbeitsscheuen" um keine homogene Gruppe.
Ihre Überlebenschancen waren darum extrem gering. Nach der Häftlingsdatenbank
gingen durch Dachau insgesamt 41 tschechische "asoziale" Häftlinge, darunter
neun "Zigeuner".
Fünf von ihnen durchlebten einen ähnlichen Leidensweg. Sie wurden nach einer
Selektion aus anderen KZs nach Dachau gebracht, weil sie besonders jung und
gesund waren und dort den grausamen Versuchen mit Meerwasser ausgesetzt werden
sollten.
Sie erlitten alle unvorstellbare Qualen.
Obwohl ihnen versprochen wurde, dass sie nach den Versuchen mit reichlich Essen
versorgt werden würden, wurden nahezu alle tschechischen Versuchspersonen wieder
in andere Lager überführt. Die übrigen "asozialen" Häftlinge wurden in
verschiedenen Jahren ins Lager verschleppt, überwiegend jedoch im Jahr 1942 und
1944. Die Hälfte von ihnen kam aus verschiedenen anderen Konzentrationslagern.
Wie schlimm die Leidens-geschichte der "Schwarzen" unter den Tschechen gewesen
sein muss, bezeugt die Statistik über ihr "weiteres Schicksal".
Danach wurden lediglich vier von einundvierzig befreit und zwei entlassen.
Weitere sechzehn wurden in andere KZs überführt und so immer wieder von Neuem
gequält. Siebzehn "Asoziale" starben im Lager, darunter zwei auf einem
"Invaliden-transport". Auch über sie schweigt die Erinnerungsliteratur
weitgehend.
Eine weitere Häftlingskategorie in den
Konzentrationslagern waren die sogenannten Ernsten Bibelforscher, die mit einem
violetten Winkel gekennzeichnet waren. In Dachau bildeten sie nur eine kleine
Häftlingsgruppe, doch sie wurden von der SS in extremer Weise verfolgt. Ihre
massive Widerstandshaltung, unter anderem gegenüber dem "Hitlergruß", dem
Militärdienst sowie dem Arbeitseinsatz in der Rüstungsindustrie, machte sie zu
einem "besonderen Haßobjekt der SS."
Auch in Dachau waren die Zeugen Jehovas aufgrund ihrer Stand-haftigkeit Opfer
von grausamen Schikanen und Misshandlungen.
Erst seit dem Jahr 1941/42 traten allmähliche Verbesserungen ihrer Situation
ein. Aufgrund der Erkenntnis, dass bei den "Bibelforschern" wegen ihres Glaubens
keine Fluchtgefahr bestehe, sondern dass es sich bei ihnen um extrem
zuverlässige und vertrauenswürdige Menschen handelte, wurden sie zunehmend "zu
Arbeitsplätzen abkommandiert, die schwer zu bewachen waren, etwa in der
Landwirtschaft", oder "als Dienstpersonal im Haushalt hoher SS-Würdenträger".
Für diese Häftlingsgruppe waren in allen KZs ein besonders enger Zusammenhalt
sowie ein ausgeprägtes Solidaritätsempfinden charakteristisch. Dies hob sie
unter den anderen Kategorien eindeutig hervor. Unter den tschechischen
Häftlingen befanden sich in Dachau laut "Faust" lediglich fünf Zeugen Jehovas.
Im Protektorat wurde diese Gruppe bereits kurz nach der Besetzung durch die
Gestapo verfolgt, ihre Tätigkeiten wurden allmählich eingeschränkt, bis im März
1941 die gesamte Vereinigung verboten und ihr Vermögen beschlagnahmt wurde.
Drei der fünf "Bibelforscher", nämlich die Brüder Emil, Oldřich und František
Lín, die zusammen im "tschechischen” Block Nr. 20 untergebracht waren,
überlebten Dachau und kehrten im Mai 1945 in ihre Heimat zurück. Die übrigen
beiden wurden nach einem kurzen Aufenthalt in diesem Lager im Jahr 1940 bzw.
1944 in andere KZs überführt. Nach einem Verzeichnis von Herbert Adamy befanden
sich in Dachau noch fünf weitere tschechische Zeugen Jehovas, welche in der
Häftlingsdatenbank lediglich als Schutzhäftlinge oder gar nicht geführt werden.
Dies könnte darauf hindeuten, dass diese Personen erst während ihrer Haftzeit
zum Glauben der Zeugen Jehovas übergetreten waren, was aufgrund der beharrlichen
Missionstätigkeit dieser Gruppe im Lager sicherlich im Bereich des Möglichen
liegt.
Die nächste Häftlingsgruppe stellten die homosexuellen
Häftlinge dar, die in den Konzentrationslagern spätestens seit dem Jahr 1937
einen rosafarbenen Winkel tragen mussten. Verfolgt wurden die Homosexuellen
bereits seit der "Machtergreifung" im Jahr 1933, wobei die Verhaftungspraxis
erst mit der Verschärfung des § 175 im Juni 1935 eine gesetzliche Grundlage
erhielt.
Die Nationalsozialisten betrachteten sie als eine "Seuche", welche mit "Stumpf
und Stiel ausgerottet" werden sollte.
Im Lager mussten die Homo-sexuellen, ähnlich wie andere Randgruppen, sehr
schlechte Lebensbedingungen erdulden, wobei sie "nicht nur den
Vernichtungswillen der SS einbeziehen (mussten), sondern auch ein
verständnisloses, ablehnendes und überwiegend unsolidarisches Verhalten der
Mithäftlin-ge."
Aufgrund ihrer Stigmatisierung wurden sie von manchen anderen Häftlingen sowie
von der SS gequält, misshandelt, sterilisiert, kastriert und zahlreichen
medizinischen Versuchen unterzogen. 103 der etwa 600 homosexuellen Häftlinge
haben Dachau nicht überlebt. Unter den tschechischen Häftlingen sind in der
Häftlingsdatenbank sieben als homosexuell erfasst. Die meisten kamen ins Lager
zwischen 1940 und 1942. Zwei von ihnen waren zugleich katholische Geistliche und
damit im KZ extrem schlecht gestellt. Beide starben innerhalb eines Jahres.
Weitere zwei waren sowohl Homosexuelle als auch PSVer. Über sie fehlen leider
alle weiteren Angaben, so dass ihr Schicksal im Dunkeln bleiben muss. Ein
weiterer tschechischer Homosexueller war zugleich Jude und damit doppelt
stigmatisiert. Er starb im Lager nach knapp drei Monaten. Von den übrigen beiden
wurde einer im Jahr 1941 aus unbekannten Gründen entlassen. Den anderen
überführte die SS, nachdem er als Versuchsperson auf der Malariastation
eingesetzt worden war, in das Konzentrationslager Buchenwald. An dem Schicksal
dieser Personen wird das Ausmaß des nationalsozialistischen Unterdrückungs- und
Vernichtungsapparates gegenüber Menschen, die mit der NS-Ideologie unvereinbar
waren, klar ersichtlich.
Die sogenannten Spanienkämpfer bildeten im KZ Dachau eine
ähnlich große Häftlingsgruppe. Sie trugen, wie auch die anderen politischen
Häftlinge, den roten Winkel. Unter ihnen befanden sich nicht nur Spanier,
sondern auch Angehörige anderer Nationalitäten, die im spanischen Bürgerkrieg
auf der Seite der republikanischen Armee gekämpft hatten. Nach der Niederlage
flohen viele von ihnen nach Frankreich, wo sie sich den französischen
Armee-Einheiten anschlossen. Nach der Besetzung Frankreichs im Jahr 1940 wurden
viele ehemalige "Spanienkämpfer" festgenommen, einige von ihnen standrechtlich
erschossen, andere wiederum in die Konzentrationslager verschleppt. Dort
stellten sie eine außergewöhnlich charakterstarke Gruppe dar, welche die
Fähigkeit besaß, "auf die eigenen und die Lebensverhältnisse anderer Häftlinge
positiven Einfluß zu gewinnen".
Viele von ihnen verfügten nach der ersten Internierungshaft in Südfrankreich
bereits über wichtige Lagererfahrung, die sie oft zu ihren Gunsten einzusetzen
wussten. In vielen Erinnerungsberichten werden sie ebenfalls aufgrund ihrer
"kämpferischen antifaschistischen Vergangenheit, wegen ihres unerschrockenen
Verhaltens im Lager und wegen ihrer solidarischen Haltung zu den übrigen
Häftlingen"
extrem positiv geschildert. Auch viele Tschechen kämpften in Spanien gegen die
Truppen des Generals Franco. Nach ihrer Verhaftung wurden insgesamt elf zwischen
1941 und 1944 nach Dachau deportiert. Drei von ihnen wurden im Durchschnitt nach
sieben Monaten in andere Konzentrationslager überführt, und lediglich einer
starb nach dreieinhalb-jährigem Aufenthalt im KZ Dachau. Die übrigen sieben
wurden im Lager befreit. Im Gegensatz zu ähnlichen Statistiken von sozial und
rassisch "minderwertigen" Randgruppen fällt bei den "Spanienkämpfern" die
verhältnismäßig hohe Überlebensrate auf, die sowohl den geringeren
Vernichtungsdruck als auch das entschlossene Verhalten dieser Häftlingsgruppe in
Dachau deutlich belegt.
Die letzte zahlenmäßig beachtliche Kategorie stellten im
KZ Dachau die tschechischen "Arbeits-Erziehungshäftlinge" dar. Insgesamt kamen
88 Tschechen mit dieser Häftlings-bezeichnung in den Jahren 1943 und 1944 ins
Lager. Es waren junge, im Durchschnitt 24 Jahre alte Männer, welche ohne Umwege
über andere Konzentrationslager direkt nach Dachau deportiert wurden. Die
Arbeitserziehungshaft war nach Weinmann neben der Schutzhaft und der
Vorbeugungshaft eine der drei möglichen Haftarten, die sich "außerhalb des
ordentlichen Strafrechts"
befanden. Sie wurde für Personen angeordnet, die etwa wegen "Arbeitsuntreue"
verhaftet worden waren. Die Haftdauer war zwar zeitlich befristet, um den
Produktionsprozess aus dem die Häftlinge herausgerissen wurden möglichst wenig
zu stören. Doch die Frist wurde meist nicht eingehalten.
Die Arbeitserziehungshäftlinge erhielten offenbar eigene Nummernserien und
wurden auf der Häftlingskleidung mit dem Buchstaben "E" von den übrigen
Häftlingsgruppen unterschieden.
Die überwiegende Mehrheit wurde im Laufe der KZ-Haft in andere Haftanstalten
überführt. Welche das waren, ist leider unbekannt.
Neben den Winkeln verwendete die SS in den
Konzentrationslagern noch etliche andere Kennzeichen. Darunter etwa die
"Fluchtpunkte", welche diejenigen, die in den Augen der Bewacher einen
Fluchtversuch gewagt hatten, als weiß-rote Zielscheibe auf der Brust und auf dem
Rücken tragen mussten. Angehörige der "Strafkompanie" mussten wiederum zwischen
der unteren Winkelspitze und der Häftlingsnummer einen schwarzen Punkt tragen.
Insgesamt gesehen stellten die sonstigen Kategorien
jedoch nur einen winzigen Bruchteil der tschechischen Häftlingsgruppe dar. Wenn
man beachtet, dass sich viele Kategorien überlappten, verkörpern die Häftlinge,
die nicht ausschließlich aus politischen Gründen im Lager inhaftiert waren,
weniger als 3 % der Tschechen im KZ Dachau.
Zur Diskussion im Forum:
[Nationalsozialistische
Konzentrationslager]
-
Zámečník, Dachau, S. 102.
-
Die Aufzeichnungen von Karel Kašák, S. 176.
-
Zum Begriff Häftlingshierarchie siehe Kapitel 2.4.
-
Zámečník, Dachau, S. 102.
-
Pingel, Häftlinge, S. 93.
-
Das "Revier" war im KZ Dachau das Häftlingskrankenhaus.
-
Die Aufzeichnungen von Karel Kašák, S. 176.
-
Christian Knoll war nach Aussagen vieler Häftlinge einer der brutalsten
Kapos im KZ Dachau. Zámečník, Dachau, S. 154.
-
Interview zwischen Erich Kulka und Falk Pingel. Zitiert nach Pingel,
Häftlinge, S. 268, Anm. 151.
-
Kašák, Karel: Dvojí setkání s Drafem. [Zweifaches Treffen mit Dr. A. F.],
in: Almanach Dachau. Kytice
událostí a vzpomínek.
[Almanach Dachau. Ein Strauss von Ereignissen und
Erinnerungen], Prag 1946, S. 34.
-
Henych, Ludvík: Konec Dra Alfreda Fuchse v Dachau. [Das Ende des Dr. Alfred
Fuchs in Dachau], in: Almanach Dachau.
Kytice událostí a vzpomínek.
[Almanach Dachau. Ein Strauss von Ereignissen und
Erinnerungen], Prag 1946, S. 35.
-
Pingel, Häftlinge, S. 95.
-
Begriff von Falk Pingel. Er bezeichnet vor allem die politische Orientierung
oder die sozialen Verhältnisse vor der KZ-
Haft. Pingel, Häftlinge.
-
Sofsky, Die Ordnung des Terrors, S. 145.
-
Kupfer-Koberwitz, Die Mächtigen, Bd. 1, S. 162.
-
Da sich die Lebensbedingungen sowie die Behandlung der jüdischen Häftlinge
bedeutend von der der übrigen politischen
tschechischen Gefangenen unterschieden, und da diese Kategorie
am wenigsten auf gemeinsamer Nationalität basierte, bleibt sie bei den
nächsten Untersuchungen der Arbeit weitgehend ausgeklammert.
-
Weinmann, Martin (Hrsg.): Das nationalsozialistische Lagersystem,
Frankfurt/Main 42001, S. LIII.
-
Sofsky, Die Ordnung des Terrors, S. 141.
-
Ebenda, S. 141. Um die grünen Kategorien voneinander besser unterscheiden zu
können, mussten nach Sofsky die PSVer seit dem Jahr 1943 ihre Winkel mit der
Spitze nach oben tragen. Dieses Kennzeichnungssystem ist für das KZ Dachau
bislang allerdings nicht bekannt.
-
So war es etwa in Neuengamme, Flossenbürg oder
in Mauthausen, welches aufgrund der dortigen besonders schlechten
Lebensverhältnisse, zu denen die "grünen" Häftlinge offenbar deutlich
beitrugen, den Beinamen "Mordhausen" erhielt.
-
Illustrierter Beobachter vom 3.12.1936, zitiert nach Zámečník, Dachau, S.
94.
-
Offensichtlich befanden sich im Lagerkomplex des KZ Dachau auch einige
tschechische Frauen. Eine Recherche nach dem Geschlecht ist jedoch ohne sehr
großen Aufwand in der Häftlingsdatenbank leider nicht möglich. Auch sind die
Umstände, unter denen die tschechischen Frauen in Dachau inhaftiert waren,
bislang völlig unbekannt, da diese Angaben in den Häftlingskarteien für die
letzte Kriegsphase fehlen.
-
Darunter befanden sich allerdings auch Personen, die einfach als "asozial"
denunziert worden waren. Ayaß, Wolfgang: "Asoziale" – die verachteten
Verfolgten, in: DH 14 (1998), S. 50.
-
Ebenda, S. 53.
-
Ebenda, S. 50.
-
Unter den tschechischen Häftlingen befanden sich insgesamt fünfzehn
"Zigeuner", von denen sechs nicht gleichzeitig als AZR-Häftlinge nach Dachau
kamen. Sie wurden bis auf einen alle am 2. April 1945 aus dem evakuierten KZ
Natzweiler nach Dachau überführt und erlebten nur vier Wochen später die
Befreiung. Alle wurden im Lager mit dem schwarzen Winkel gekennzeichnet.
Vgl. Angaben der Häftlingsdatenbank.
-
Näheres zu dieser Versuchsreihe siehe Zámečník, Dachau, S. 292 – 295.
-
"Die Betroffenen verloren täglich bis zu 1 kg Gewicht und wurden sehr
schnell so schwach, dass einige nicht mehr gehen konnten. Der unerträgliche
Durst, gesteigert durch das pflichtgemäße Trinken des Wassers, brachte sie
häufig in einen unzurechnungsfähigen Zustand. Einige lagen apathisch da,
andere schrieen vor Verzweiflung. Sie warfen sich auf den frisch gewischten
Fußboden und saugten die Feuchtigkeit auf." Ebenda, S. 294.
-
Dies ist eine Rubrik in der Häftlingsdatenbank "Faust”.
-
Garbe, Detlef: Der lila Winkel. Die "Bibelforscher" (Zeugen Jehovas) in den
Konzentrationslagern, in: DH 10 (1994),
S. 12.
-
Ebenda, S. 14.
-
Zámečník, Dachau, S. 228; Garbe, a. a. O., S. 22 – 24.
-
Adamy, Herbert a kolektiv. Fialivé Trojúhelníky. Zapomenutá kapitola
holocaustu. [Lila Winkel. Ein vergessenes Kapitel des Holocaust], Praha
2000, S. 63.
-
Adamy, a. a. O., S. 38.
-
Knoll, Albert: Totgeschlagen – totgeschwiegen. Die homosexuellen Häftlinge
im KZ Dachau, in: DH 14 (1998), S. 82.
-
Zitiert nach: ebenda, S. 77; Zámečník, Dachau, S. 230.
-
Knoll, Totgeschlagen – totgeschwiegen, S. 86.
-
Das Schicksal von Maximilian Beran, der einer der beiden Geistlichen gewesen
war, ist bereits oben ausführlich geschildert worden.
-
Pingel, Häftlinge, S. 101.
-
Zámečník, Dachau, S. 227.
-
Weinmann, a. a. O., S. XXVIII.
-
Ebenda, S. XXVIII.
-
Ebenda, S. XXVIII; nach Kogon erhielten sie als Kennzeichnung einen
schwarzen Winkel mit dem weißen Buchstaben "A". Nach seiner Darstellung
waren sie "meist nur wenige Wochen im Lager." Kogon, a. a. O., S. 72.
-
Da sich außerdem, ähnlich wie bei den Juden, die Lebensbedingungen dieser
anderen Kategorien aufgrund ihrer Randstellung von der Mehrheit der
politischen Häftlinge in den meisten Fällen deutlich unterscheiden, bleiben
auch sie im weiteren Verlauf der Arbeit weitgehend außen vor.
5. ANHANG
5.1.1 Quellenverzeichnis
5.1.2 Literaturverzeichnis
5.2.0 Abkürzungen
Zur Diskussion im Forum:
[Nationalsozialistische
Konzentrationslager]
hagalil.com 08-2004 |