Michel Friedman
diskutierte mit Schüler/innen in Baisingen:
Ermutigung zum Streit con brio
Er formuliert druckreif, aber
nie papieren: Der 43jährige Rechtsanwalt und Politiker Michel Friedman,
unter anderem Präsidiumsmitglied Mitglied des Zentralrats der Juden in
Deutschland, kam, eingeladen von der CDU-Bundestagsabgeordneten Annette
Widmann-Mauz, am 15. November in die ehemalige
Baisinger Synagoge. Den rund fünfzig Schülerinnen des Rottenburger
Eugen-Bolz-Gymnasiums hielt er ein anregendes, das Denkvermögen seines
Publikums provozierendes Kurzreferat, hierin wie in der anschließenden
Diskussion zum Streit ermutigend.
Friedmans Eltern überlebten den
Massenmord an den europäischen Juden, weil sie auf "Schindlers Liste"
standen, die durch Steven Spielbergs Film weltbekannt wurde. Eltern von
Schulfreunden hätten ihm in den 60er Jahren häufig versichert: "Auschwitz
haben wir nicht gewollt!", berichtete Michel Friedman, "und ich habe den
meisten geglaubt". Aber was heiße das schon, Auschwitz nicht gewollt zu
haben – "reichte es nicht, was vorher geschah? Wann beginnt die Ermordung
von Menschen", fragte er, die für sich schon verbrecherische Vorgeschichte
des Holocaust skizzierend, etwa die Pogromnacht des 9. November 1938, als
Gotteshäuser brannten (und die Baisinger Synagoge wegen Brandgefahr für die
Nachbarhäuser "nur" geschändet und demoliert wurde), die "Rassegesetze"
1935, schließlich die Kanzlerschaft des Adolf Hitler 1933, der "demokratisch
gewählt wurde – die >Machtergreifung< ist eine Legende".
Keine Angst vor der Vielfalt,
sondern vor der Einfalt
Ähnlich wie der im August gestorbene
Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland Ignatz Bubis,
thematisiert Friedman die Nazi-Geschichte nicht, wie gern unterstellt wird,
um irgendein Kollektivschuld-Bewußtsein wachzurufen, sondern um dem
Fortleben des Nazitums in der demokratischen Gegenwart entgegenzutreten.
"Wann beginnt heute die Gewalt gegen Menschen? Wenn in Solingen, Mölln und
anderswo Häuser von Türken angezündet werden, oder wenn von Kanaken,
Scheiß-Türken und Drecksjuden gesprochen wird?" Schon gegen solches Gerede
vernehmlich zu protestieren, forderte er die Schüler/innen auf, in der
Gleichaltrigen-Gruppe, in der Familie, in der Schule und überhaupt Streit zu
riskieren. "Lassen Sie sich nicht einreden, Sie müssten sich anpassen", riet
er, "zeigen Sie, woran Sie glauben, zeigen Sie Ihr Gesicht" – ein Aufruf zur
Individuation, zur Mündigkeit in der Tradition der Aufklärung, den er noch
einmal variierte: "Falls Sie sich für eine politische Partei entscheiden,
werden Sie nie ein hundertprozentiger Anhänger – bei allem >Wir<, vergessen
Sie nie, dass Sie ein >Ich< sind". Seine Partei, die CDU, nahm er mehrmals
von Kritik nicht aus.
Ob man denn wirklich die familiäre
Harmonie durch Widerspruch und Kritik aufstören solle, lautete die erste
Frage aus dem Schüler/innen-Auditorium. "Für mich ist Streit der größte
Ausdruck von Respekt", antwortete Friedman, regte an, Gegenpositionen
auszuhalten, Argumente auszutauschen: "Ich habe keine Angst vor der
Vielfalt, sondern vor der Einfalt". Die (bildungs)-politische Apathie der
heutigen Schülergeneration erstaunt ihn: "Ich war Schulsprecher, da ging die
Post ab", bekannte er glaubwürdig, "und wenn damals so viele Schulstunden
einfach ausgefallen wären: Der Direktor hätte die Hölle gehabt".
Rücksicht auf rechte Hirne
nehmen?
Mehrere Fragen galten den aktuellen
Verhandlungen um die Entschädigungsleistungen für Zwangsarbeiter – ob denn
die Regierung, ob die Industrie überhaupt soviel zahlen könne, wie gefordert
werde, ob nicht die Forderungen selbst rassistische, antisemitische Affekte
wecken könnten. Wenn er darauf Rücksicht nehmen wollte, was in rechten
Hirnen vorginge, "könnte ich mich gleich klonen lassen, vielmehr wegklonen,"
erwiderte Friedman unter anderem, stellte klar, dass Dreiviertel der noch
Lebenden Zwangsarbeiter Nichtjuden sind – die als "jüdisch" von den Nazis
zur Vernichtung vorgesehenen Arbeitssklaven wurden in Auschwitz und
andernorts ja ermordet – wies darauf hin, die Frage von Entschädigung immer
wieder vertagt worden ist, mehr als fünfzig Jahre lang, und dass es sich
schließlich nicht um eine Gefälligkeit handelt, sondern schlicht um den
Anspruch auf verweigerten Lohn.
"Ich schäme mich für die deutschen
Manager", sagte er, "eigentlich wären die Verhandlungen abbruchreif",
informierte über den Riesen-Extraprofit, den die deutsche Industrie aus den
aktiv von ihr angeforderten Sklavenarbeitern presste, und erinnerte an die
selbstverständlich geleisteten Rentenzahlungen für Nazi-Größen und
Kriegsverbrecher aller Grade.
Eine freie Gesellschaft
Die Lebens- und Bildungschancen in
"einer freien Gesellschaft" wahrzunehmen und auch gegen mancherlei
Widerstände durchzusetzen, ermunterte Friedman sein junges Publikum
mehrfach, con brio.
Dass seine Imperative: "Tut was,
streitet Euch, nehmt Eure immensen Chancen wahr", für Gymnasiasten gelten
mögen, räumte ein Schüler ein, mit einem kleinen Denkfehler vielleicht: "Wir
kommen ja sozusagen aus guten Häusern – was aber ist mit den schon materiell
weniger gut ausgestatteten Jugendlichen – da sind doch Ihre Vorschläge
ergänzungsbedürftig". Und Friedman gab ein kleines Lehrstück produktiven
Streits, kritisierte, "erstens", die Formulierung "aus guten Häusern" ("da
sind oft bloß die Vorhänge dicker") und setzte fort: "Zweitens: Sie haben
völlig recht. Aber wie wär es denn, wenn Sie das auch zu Ihrer Sache
machten, hilfreiche Angebote für Jugendliche, die nicht so gute Startchancen
haben – ich würde dabei mitmachen".
Th.
Ziegner
/ haGalil 22-11-99