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Kahlgeschoren:
Magdeburg - als sei nichts geschehen?

Von Frank Stern

Endstation. Sieben Messerstiche und ein paar Stiefeltritte gegen den Kopf. Das Krankenhaus, keine 200 Meter entfernt, war zu weit in jener Nacht. Als man den 17jährigen an der Endhaltestelle der Linie 3 findet, ist er schon fast leergeblutet. Die Ärzte haben es noch versucht, aber er ist nicht mehr aufgewacht. "Hat mich damals nicht gewundert, als ich gehört habe, daß er tot ist", sagt eine Frau, die ihn gekannt hat. "Dauernd hat er sich mit irgendwelchen Skins angelegt. Dabei war er nur so 'n schmales Hemd. Hätte er denen nicht aus dem Weg gehen können?"

Punks sind immer so schmale Hemden. Schon mal aufgefallen? "Deutschland verrecke" haben sie vor zehn Jahren gerufen. Dabei wußten sie noch gar nicht, was kommen würde. Keiner wußte es. Das "Wir sind ein Volk"-Volk hat gejubelt. Auch in Magdeburg - "moderne sozialistische Großstadt" in den letzten Zügen, größter Binnenhafen der DDR und Zentrum des Schwermaschinenbaus. Glaubt heute kaum mehr einer.

Frank Böttcher war neun zu der Zeit. Und in Neu-Olvenstedt, wo er acht Jahre später verblutet, da haben sie noch gebaut. Als eine Art Experimentierfeld war Magdeburgs jüngster Stadtteil gedacht. Um "neue Möglichkeiten des Wohnungsbaus sowie seine sozialen Aspekte" zu erkunden, hieß es. Ist dann irgendwie aus dem Ruder gelaufen. Alles ist irgendwie aus dem Ruder gelaufen. Die großen Schwermaschinenbaubetriebe, das Rückgrat der Stadt, sind allesamt den Bach runter. Jeder fünfte ist ohne Job.

Der Kasten steht am Moritzplatz. Ein roter Klinkerbau aus der Gründerzeit. Mitten in Magdeburg-Neustadt. Gehörte einfach dazu. Zwei Stockwerke, nicht besonders groß. Ein bißchen düster vielleicht, aber eigentlich nicht bedrohlich. Dahinter die Schule. Sehen konnte man sie nicht - klar, wie denn auch. Aber die Pausenklingel, die hörte man. Alle dreiviertel Stunde. Außer am Wochenende natürlich. Und kurz danach die tobenden Kinder.

Hat sich viel getan seit der Wende. Sagt jeder. Kaum eine freie Fläche, wo sie nicht irgendein Kaufhaus oder einen Büropalast hingesetzt hätten. Da, wo jetzt das neue Maritim steht, war früher das Hotel International. Hatte ein bißchen das Flair der großen weiten Welt - oder was man sich halt so darunter vorstellte. Selbst als Ost-Gast wurde man dort halbwegs freundlich bedient - soweit das DDR-Kellnern eben möglich war. In den 70ern sind dort auch mal Hoeneß und Co. abgestiegen. Irgendein Europapokalspiel. Weil sie den Ostköchen nicht trauten, sind sie zum Essen immer in ihren Mannschaftsbus runter. Das Spiel haben sie dann gewonnen.

Um den Alten Markt herum hat sich dagegen nicht viel verändert. Vorn an der Ecke, wo früher das "Stadt Prag" war, ist McDonald's eingezogen, und das "Centrum"-Warenhaus heißt jetzt Karstadt. Aber ansonsten findet man sich auf Anhieb zurecht. Vietnamesen verhökern auf der Straße Pullover und Schuhe und so Zeug. An Zigaretten kommt man bei ihnen auch billig, wenn man will. Fidschis. Die Leute nennen sie Fidschis.

Christi Himmelfahrt 1994. Ausländerklatschen. Dort hatte es angefangen. Was der Auslöser war, kann keiner mehr so genau sagen. Ob ein paar Schwarze an jenem Tag vorm Karstadt wirklich ihre Hosen runtergelassen und den Leuten im Café gegenüber die Sonne gezeigt haben - keine Ahnung. Ist auch egal. Es war, als hätte jemand ein Signal gegeben. Von einer Minute auf die andere war die Stadt kahlgeschoren - und ist es im kollektiven Gedächtnis bis heute geblieben. Da können sie noch so viele deutsch-vietnamesische Freundschaftsvereine aufmachen.

"Es gibt nicht nur Neonazis hier", versucht Andreas, das Bild zu korrigieren. Hat an der Uni in Leipzig Journalistik studiert. Noch zu DDR-Zeiten. Warum hätte die Stasi gerade da einen Bogen drum machen sollen? Ich frage ihn nicht. Ist nicht mehr wichtig.

"Die meisten hier", sagt er, "sind gegen Gewalt, wollen einfach nur über die Runden kommen. Wie woanders auch." Und hat die Stadt nicht alles mögliche getan? Haben sie nicht den Flüchtlingsrat, einen dunkelhäutigen Ausländerbeauftragten und das Zentrum für Menschenrechte? Haben sie nicht Millionen nach Olvenstedt gepumpt und rechte Jugendliche mit "akzeptierender Sozialarbeit" von der Straße geholt?

Zunächst ging es durch eine Schleuse. Bevor die zweite Stahltür zur Seite fuhr, mußte die erste, die zum Moritzplatz hin, geschlossen sein. Dann raus aus dem Wagen und die Treppe runter in einen fensterlosen Raum. Irgendwann holten sie einen zur Vernehmung. Die dauerte bis zum nächsten Morgen. Sie wechselten sich ab.

Die Straße zum Wasserfall an der Elbe hat vom Aufschwung noch gar nichts mitgekriegt. Holpriges Kopfsteinpflaster. Wie seit dem 30jährigen Krieg wahrscheinlich. Dort müssen sie langgezogen sein. Auf der linken Seite ist jetzt die Begegnungsstätte der Landeskirchlichen Gemeinschaft. "Christ, der Retter, ist da" steht am Eingang. Wenige Schritte weiter haben drei Jahre nach der Wende ein paar Punks Geburtstag gefeiert. "Elbterrassen" hieß die Kneipe. Es ging alles ziemlich schnell. Plötzlich waren überall Skinheads und schwangen ihre Baseballschläger. Torsten Lamprecht kam nicht mehr schnell genug weg. Auf dem Foto, das die Zeitung später von ihm veröffentlichte, sah er irgendwie sanft aus und verträumt. Wie man mit Anfang 20 eben so aussieht. Sie haben ihm den Schädel eingeschlagen. Die Kneipe gibt es nicht mehr. Drei Villen haben sie hingestellt mit 22 Eigentumswohnungen. "Inklusive Tiefgaragen, Wintergärten und exklusiver Ausstattung", steht auf der Tafel davor. Hat sich viel getan. Wie gesagt.

Obdachlosenheime und Suppenküchen. Gewohnheitssache irgendwie. Daß einem da ein total abgerissener Typ entgegenkommt, der einem zeigt, wo es langgeht, wenn man nicht mehr mitschwimmt. Nicht im Fernsehen oder so, sondern hautnah, mit Rotz und Dreck und allem. Über 200 von den Totalverlierern hängen schon auf der Straße rum, hocken sich zum Aufwärmen in die Straßenbahn, schlucken, was sich greifen läßt. Aber nur jeder dritte davon läßt sich in den Obdachlosenheimen blicken. Schämen sich, sagen kirchliche Betreuer. Verkriechen sich lieber in leerstehenden Häusern oder in Erdlöchern irgendwo im Freien.

Im Dom, da, wo sich im Herbst 1989 an die 10 000 Menschen drängten und auf das Wunder hofften, haben sie letzten Winter grüne Handzettel verteilt. Schlafsäcke und Isomatten sollten die Leute vorbeibringen für "die Obdachlosen unserer Stadt". Weil Zeitungspapier und Kartons und Dosenbier eben nicht reichen, wenn es richtig kalt wird da draußen. Man brauchte aber auch nur seine Adresse hinterlassen. Das Zeug wurde dann abgeholt. Eine Handvoll, sagt der Küster. Von denen, die vor zehn Jahren mit ihren Montagsgebeten einen Staat ins Wanken brachten, sei eine Handvoll geblieben.

Die Zelle hieß bei ihnen Verwahrraum, und das Fenster bestand aus Glasbausteinen. Zwei Reihen, gegeneinander versetzt. Durch den Schacht dazwischen kam frische Luft rein. Und das Geschrei der Schüler von nebenan. Verwahrraum. Pro Tag konnte man eine halbe Stunde raus. In einen Betonkasten von vielleicht drei mal fünf Meter. Zum Himmel hin hatten sie ein Drahtgitter gespannt.

Ob sie Jüdin sei, wollte der Anrufer von meiner Mutter wissen. Muß so kurz nach der Wende gewesen sein. "Sind Sie Jüdin?" Dann hat er aufgelegt. Vielleicht war es der selbe, der ihr einige Zeit später mitteilte, er habe ihren Sohn entführt und werde ihn töten, wenn sie seine Anweisungen nicht befolge. Im Hintergrund wimmerte eine Stimme "Mutti, hilf mir". Klang wohl ziemlich echt. Am Telefon hören sich gefolterte Söhne alle gleich an. War aber nur Spaß, wie die Polizei später feststellte.

Hat mich früher nie interessiert, ob in Magdeburg irgendwann mal Juden gelebt haben. Kann mich auch nicht erinnern, daß wir in der Schule je darüber gesprochen hätten. Jude war ein Wort aus einer anderen Welt. Die guten waren tot, die anderen in Israel. Und da hießen sie Zionisten. Klang irgendwie gemein: Zionisten - mit diesem scharfen Z am Anfang. Kein Gedanke daran, daß der eigene Name die Brücke hätte sein können. Manchmal ist es einfach nur der Klang eines Wortes. "Zionist". War auf seltsame Weise von Auschwitz losgelöst.

Ein Schild am Eingang weist männliche Besucher an, eine Kopfbedeckung zu tragen. Ist so bei Juden. Interessiert aber auch keinen, wenn man keine aufsetzt. Die Toten stört es eh nicht mehr. Der jüdische Friedhof ist gar nicht weit von meiner ehemaligen Schule entfernt. Bin früher nie dagewesen. Selbst wenn ich gewußt hätte, daß es ihn gibt - was hätte ich da wohl verloren gehabt?

Laub auf Gedenktafeln. Todesdaten und Auschwitz und Ravensbrück und Theresienstadt und das Gestapohaus von Magdeburg. "Viel zu wenig vergast", steht auf der Rückseite eines Grabsteins. Ein Hakenkreuz darunter, in Hellblau. Ganz hinten erinnert ein Mahnmal an die Söhne der jüdischen Gemeinde, die im Ersten Weltkrieg gefallen sind - "für das deutsche Vaterland". Darüber der Davidstern.

"Deutschland den Deutschen", haben sie gegrölt. Die beiden waren ziemlich in Schleuder, und auf der Straße kam ihnen irgendein südländisch aussehender Typ entgegen. "Deutschland den Deutschen", riefen sie noch mal, und der rechte Arm schnellte hoch. Der Schwarzhaarige zuckte kurz zusammmen und machte einen Schritt zur Seite. Aber sie taten ihm nichts. "Kann überall passieren", sagt Andreas, als ich ihm davon erzähle. Und es klingt ähnlich hilflos wie der Bericht der Lokalzeitung über das hiesige Eine-Welt-Haus. "Das Wort Ausländer hat hier stets einen freundlichen Beigeschmack", hatten sie da geschrieben. Als würden die Neubürger alle auf der Panflöte spielen.

Jeder Himmelfahrtstag ist für die Polizei ein mittlerer Alptraum. "Eine verteufelte Situation", sagt der Oberbürgermeister, ein ausgewiesener Mutter-Beimer-Fan. "Die Stadt kann machen, was sie will, sie wird trotzdem immer wieder mit den bedauerlichen Vorfällen in Verbindung gebracht." Auch der Geschäftsführer der Auslandsgesellschaft versichert, Magdeburg sei kein Hort besonders hoher Fremdenfeindlichkeit. Selbst die Tatsache, daß Sachsen-Anhalt bei den rechten Gewalttaten noch hinter Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg rangiert, wird als Entlastung ins Feld geführt. Und dann greifen sich ein paar Schläger den Ausländerbeauftragten der Stadt und hauen ihm eins auf die Fresse.

Der Verteidiger kam nach einem Vierteljahr. Da war eigentlich schon alles gelaufen. Das erste, was er tat, war, auf eine Steckdose in der Ecke des Zimmers zu deuten. Dann legte er den Zeigefinger über die Lippen und schob ein Blatt Papier über den Tisch. Und während wir für die Galerie einige Sätze wechselten, schrieben wir das, was nicht gleich jeder hören sollte, auf diesen lächerlichen Zettel. War Teil des Spiels.

Nächtelang haben wir dagesessen und uns die Köpfe heißgeredet. Rosentaler Kadarka, selbstgemachte Pizza, selbstgemachte Gedichte. Alles schien möglich. War doch so, oder? Hätte wohl vieles schon vergessen, wenn es nicht einer akribisch festgehalten hätte. Ein Freund aus der Schulzeit, der beste vielleicht. Hat später Medizin studiert.

Erweiterte Oberschule "Geschwister Scholl". So weit reichen seine Aufzeichnungen zurück. Tragen alle einen Stempel. Marschiert sind wir damals und haben "Spaniens Himmel" gesungen. "Spaniens Himmel breitet seine Sterne / über unsre Schützengräben aus." Der Direktor, in eine Uniform gezwängt, war der Politoffizier, und wenn einer anfing, über seine Befehle zu diskutieren, hat er mit Schulverweis gedroht.

Man überlege, Maßnahmen gegen Dr. Bernd S. einzuleiten, hat die zuständige Ärztekammer mitgeteilt. Die Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit sei für die berufsrechtliche Würdigung jedoch nur dann von Belang, wenn das Ausspähobjekt ebenfalls dem Medizinerstand angehört habe.

"Geben Sie sich zu erkennen", hatte der Vernehmer immer gemeint und einem ganz tief in die Augen gesehen dabei. "Geben Sie sich zu erkennen." Heute wohnt er in einem kleinen Dorf nördlich von Magdeburg. Kommt ganz gut über die Runden, sagt er. Nur, daß sie ihm die Rentenansprüche für 25 Jahre Dienst beim Sicherheitsorgan - er sagt wirklich Sicherheitsorgan -, daß sie ihm die gekürzt haben, nun ja.

Vorm ehemaligen Schwermaschinenbaukombinat steht noch immer die alte Thälmann-Statue. Die Faust in die Höhe gereckt. Als sei nichts geschehen.

haGalil onLine - Dienstag 23-03-99

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