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Süddeutsche ZeitungAntisemitismus: „Da ist eine neue Qualität“
Ein Schwein kennt keine Scham

Was es für Juden in Deutschland bedeutet, daß Beleidigungen und Drohungen immer unverhohlener werden – und warum so wenig davon publik wird

Von Evelyn Roll

Berlin, 6. Dezember – Es geschah am 28. Oktober gegen 16 Uhr. Und es stand nicht im Polizeibericht. Unbekannte Täter trieben an diesem Mittwoch nachmittag, als der Streit um Martin Walsers Friedenspreisrede gerade zweieinhalb Wochen alt war, ein Schwein über den Berliner Alexanderplatz. Auf den Rücken des etwa vier Monate alten Tieres hatten sie mit blauer Farbe einen zehn Zentimeter großen Davidstern gemalt, dahinter in roter Farbe fünf Buchstaben, jeder 25 Zentimeter hoch: B U B I S.

Sie geben solche Sachen meistens nicht an die Öffentlichkeit. Der Sprecher der Berliner Polizei erklärt diese seltsame Zurückhaltung mit der „begründeten Angst des Staatsschutzes vor Nachahmungstätern“. Wirklich bemerkenswert aber ist die erste Antwort, die dem Polizeisprecher in dieser Angelegenheit einfällt, wenn man mehr als einen Monat später noch einmal bei der Pressestelle anruft, um sich nach dem Stand der Ermittlungen zu erkundigen: „Dem Schwein geht es gut“, sagt er. Die Farbe sei zum Glück nur auf die Haut aufgetragen gewesen und nicht eingeätzt. „Insofern ist das Tier nicht verletzt. Es wurde im Tierheim Lankwitz untergebracht.“

Dreck vom Band

Dem Schwein geht es also gut. Und während man mit dem Pressesprecher noch ein wenig darüber verhandelt, ob die Medien tatsächlich wegen der Angst des Staatsschutzes vor Nachahmungstätern keine Berichte über solche abstoßenden Übergriffe veröffentlichen sollen, kommt man plötzlich auf eine Idee, auf ein Erklärungsmuster möglicherweise: Vielleicht kann der laute Streit um den richtigen Umgang mit der Realität der deutschen Vergangenheit gerade deswegen zur Zeit nicht redlich zu einem anständigen Ende geführt werden, weil wir uns nicht einmal über die Realität der deutschen Gegenwart wirklich Rechenschaft ablegen.

Vielleicht verdrängen und vergessen die großen Debattanten vor lauter Vergangenheitsbewältigung, was gegenwärtig möglich und real ist in Deutschland. Nur die können das natürlich nicht vergessen und verdrängen, deren Namen im Jahr 1998 auf Schweinehaut geschrieben werden, und deren Briefkästen und Anrufbeantworter Woche für Woche den antisemitischen Dreck schlucken müssen, und ganz konkrete Morddrohungen ja auch. Und vielleicht ist dies die Erklärung dafür, daß die einen die anderen nicht verstehen können.

Am Telephon in Washington bittet Ignatz Bubis um Nachsicht. Ja, sicher, hat er von dieser Geschichte auf dem Alexanderplatz gewußt, als er am 9. November in der Berliner Synagoge an der Rykestraße auf Walser geantwortet hat. Aber er mochte damals und möchte auch heute nicht darüber sprechen. Hat er uns nicht schon oft genug davon erzählt, wie viele Drohbriefe und Anrufe er und seine Familie Woche für Woche bekommen? Und hat der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland nicht auch öffentlich gemacht, daß die Schreiber dieser Briefe neuerdings nicht einmal mehr glauben, anonym bleiben zu müssen, weil sie ihre Ansichten und Drohungen längst wieder für salonfähig halten?

Es ist das, was ihn so bitter und resigniert gemacht hat in den letzten Jahren, oder? – „Bitte, haben Sie Verständnis dafür, daß ich in der jetzigen Situation nicht einen einzigen Satz dazu sagen möchte. Ich habe leider das Gefühl, daß alles, was ich jetzt überhaupt noch sagen könnte, nur wieder Öl ins Feuer meiner Gegner gießt.“ Michel Friedman fordert, Ereignisse, wie das mit dem Schwein auf dem Alexanderplatz, öffentlich zu machen: „Die Bevölkerung darf nicht im Dornröschenschlaf bleiben. Sie muß ein Bewußtsein dafür entwickeln, wie weit Menschen schon wieder gehen in diesem Land.“ Friedman, Präsidiumsmitglied des Zentralrats der Juden, bekommt im Monat 50 bis 80 antijüdische Briefe, Telephonate und andere Reaktionen.

„Das ist nicht nur viel mehr, als noch vor einigen Jahren, auch die Qualität hat sich geändert“, sagt er. „Sie sind allesamt schamloser.“ Außerdem sind sie jünger geworden. Friedman sieht das am Schriftbild, und er hört es auch am Telephon. Gerade am Dienstag mittag hat wieder so einer in seinem Anwaltsbüro in Frankfurt angerufen, hat seinen Namen gesagt, ist verbunden worden und hat dann „Beleidigungen und drohende Texte in mein Ohr gesprochen, so etwa: Halt endlich deinen Mund oder hau ab, sonst bringen wir dich um.“ Noch viel schlimmer als solche plumpe Gewaltandrohung ist für Friedman die intellektualisierte, subtil-agressive Form des Antisemitismus. Fast bei jedem öffentlichem Auftritt, ob es um das Holocaust-Mahnmal oder die Entschädigung von Zwangsarbeitern geht, wird er drei- bis viermal gefragt, ob man sich in Deutschland „das“ immer noch anhören müsse. „Auch die Entlastungsklischees kommen jetzt immer öfter. Nach dem Muster: Die Israelis machen mit den Palästinensern doch dasselbe wie die Nazis mit den Juden.“

Das erlebt er jetzt alles auch in bürgerlichen Kreisen, von Menschen, die Anzug und Schlips und manikürte Fingernägel haben. „Das ist es, was mir wirklich angst macht.“ Vor drei Wochen hat Michel Friedman einen Vortrag in Weimar gehalten. Nachher beim Empfang ist ein veritabler Minister des Landes Thüringen zu ihm gekommen und hat gesagt: „Ich bewundere Sie wirklich sehr dafür, wie gut Sie unsere Sprache sprechen.“ Friedman sagt, „die Wohlmeinenden sind zur Zeit am Schlimmsten. Das sind die, die mir sagen, hören Sie doch mit dieser Entschädigungssache oder der Walser-Debatte auf, das schadet Ihnen doch nur selbst und der jüdischen Sache auch. Man kann da jetzt offenbar, um persönliche Biographien zu entlasten, öffentlich Dinge sagen, die vor zehn Jahren nur in Hinterzimmern und rechtsradikalen Kreisen en vogue waren.“

Wenn Friedman einmal richtig in Fahrt ist, hört er so schnell nicht auf: „Die Headlines der Rechtsradikalen finden sich ja jetzt in öffentlichen Reden wieder. Und die jetzigen Protagonisten des Streits sind ja nur die Lautsprecher dieser Entwicklung.“ Im Oktober wurde am Grab des ehemaligen Gemeindevorsitzenden Heinz Galinski auf dem jüdischen Friedhof an der Heerstraße in Berlin ein Sprengsatz gezündet. Das Mahnmal in der Grossen Hamburger Straße im Berliner Bezirk Mitte wird fast jede Woche einmal beschädigt und beschmiert. „17 jüdische Friedhöfe pro Woche werden zur Zeit in Deutschland geschändet“, sagt Julius Schoeps, der Leiter des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien in Potsdam. Als Wissenschaftler müsse er es deswegen einmal ganz deutlich sagen: „Die von Walser angestoßene Debatte gefährdet die Juden in Deutschland.“ Er meine das wissenschaftlich, wertfrei und ohne Schuldzuweisung. Das sagt Schoeps auch noch. Schoeps bekommt seit Jahren regelmäßig Drohbriefe. „Man gewöhnt sich schon fast daran“, sagt er. In letzter Zeit habe sich das aber deutlich verstärkt. „Da ist eine neue Qualität.“ Neuerdings kämen – versandt aus den USA, aus der Schweiz, aus Dänemark und aus Schweden – Briefe und obszöne Zeichnungen, adressiert an „den Holocaust-Professor“. „Da ist dann zum Beispiel eine Figur, auf die mein Kopf montiert ist. Und die kopuliert mit einem Schwein.“

Nach den Erkenntnissen der Staatsschützer in Köln sind noch im Jahr 1997 zumindest die antisemitischen Gewalttaten zurückgegangen. Die Zahlen müssen von den Bundesländern ermittelt und nach Köln weitergegeben werden. Wenn der Bundesinnenminister sie vorlegt, sind sie immer schon ein halbes Jahr alt. Bei Propagandadelikten, antisemitischen Beleidigungsdelikten und Volksverhetzung sind die Statistiken ohnehin schwierig zu führen. Es können nur die Delikte in der Statistik auftauchen, die von den Opfern angezeigt werden. „Das wichtigste ist also, daß Strafanzeige erstellt wird“, sagt die freundliche Sprecherin vom Verfassungsschutz in Köln. „Das machen viel zuviele nicht. Und dann stimmt unser statistisches Lagebild eben nicht mit der Realität überein.“

Julius Schoeps zum Beispiel heftet die meisten Briefe ganz einfach ab. „Nur die wirklich schlimmen Dingen gebe ich zur Polizei“. – Die zeigt er also wenigstens an? – „Nein, die Polizei nimmt eine Anzeige ja nur auf, wenn ich nach einer regelrechten Einbestellung zu einem von ihr festgesetzten Termin komme. Und dann drohen sie mir noch schriftlich an, was alles passiert, falls ich nicht auf der Polizeiwache erscheinen sollte.“ Das ist ein wirklich erstaunliches Prozedere. In der Beamtenstadt Berlin kommt die Polizeistreife doch sogar Nachts zu einem nach Hause, um eine Anzeige für eine im Kino gestohlene Brieftasche aufzunehmen. Schoeps hat sich auch schon einmal beim Innensenator beschwert. „Der hatte wirklich großes Verständnis. Aber geändert hat sich nichts.“

Was normal ist

Leider stimmen auch die Zahlen, die Bubis genannt hat, und für die er so heftig kritisiert worden ist. „Das ist die von der Sozialwissenschaft ermittelte Realität“, sagt Schoeps. „Es gibt 15 Prozent offene Antisemiten in allen Altersstufen. Dazu kommen noch einmal 30 Prozent latente Antisemiten. Die flippen immer erst aus, wenn so etwas ist wie jetzt gerade. Immer, wenn in diesem Land solche Debatten waren, Historikerstreit, Goldhagen oder auch, als der Film Holocaust im Fernsehen gezeigt wurde, steigen die Übergriffe an. Dann haben wir eben 17 Grabschändungen pro Woche. Normal ist in Deutschland ein geschändeter jüdischer Grabstein in der Woche.“

Was für ein Satz: Normal ist in Deutschland ein geschändeter jüdischer Grabstein pro Woche. Und was alles sonst noch normal ist in Deutschland: Daß die Statistiken der Staatsschützer nichts über die Realität aussagen. Daß die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit nicht mehr mit der antisemitischen Realität übereinstimmen kann, wenn die Polizei mit dem Argument der Nachahmungstäter die schlimmsten Sachen nicht öffentlich macht. In der Angelegenheit mit dem Schwein auf dem Alexanderplatz ermittelt der Staatsschutz nach wie vor wegen Volksverhetzung und Tierquälerei. Was genau ermittelt wird, darf der Polizeisprecher nicht sagen: „Es gibt diverse Ermittlungsschritte, über die ich Ihnen keine Auskunft geben kann.“

Die Täter jedenfalls hat man noch nicht. Und wird da nun ganz normal ermittelt, oder mit besonderer Anstrengung? Dumme Frage. „Wir ermitteln immer mit besonderer Anstrengung. Aber Sie müssen auch verstehen, daß der Aufwand bei einem Mordfall natürlich wesentlich höher wäre“. Ja, das müssen wir verstehen.

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haGalil onLine - Montag 07-12-98

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