So wie in Frankfurt sind in der
vergangenen Zeit einige jüdische Gemeinden in Deutschland wieder
gegründet worden oder durch neue Mitglieder überdurchschnittlich
gewachsen. In Kassel wurde letzte Woche der Grundstein für eine neue
Synagoge gelegt, und auch in Duisburg wird bald ein Gemeindezentrum
fertig. Überall im Land finden sich Anzeichen für eine Wiederbelebung
der jüdischen Kultur. So hat sich im Schatten der goldenen
Synagogenkuppel in Berlin eine jüdische Szene mit koscheren Restaurants
und Geschäften etabliert. In größeren Städten finden jährlich jüdische
Kulturwochen statt, vereinzelt sind jüdische Kindergärten und Schulen
gegründet worden. Seit 1995 sind insgesamt 30 Neu- oder
Wiederaufbauvorhaben für Synagogen in Gang – so viele wie nie zuvor in
der Geschichte der Bundesrepublik.
Jüdisches Leben findet nicht
mehr nur in Sälen statt. Die dunklen Prophezeiungen, daß auf der von
Blut getränkten deutschen Erde keine jüdische Zukunft mehr möglich sei,
haben sich nur zum Teil bewahrheitet. Ignatz Bubis, der
Zentralratsvorsitzende der Juden in Deutschland, hat beim traditionellen
Neujahrsempfang in Berlin vergangene Woche mitgeteilt, die jüdische
Gemeinde in Deutschland sei seit 1990 um 45 000 Mitglieder auf jetzt 75
000 „Seelen“ gewachsen. Keine jüdische Gemeinde außerhalb Israels wächst
derzeit schneller. Die meisten neuen Gemeindemitglieder kommen aus den
Ländern der ehemaligen Sowjetunion – viele ohne Habe, manche ohne
Kenntnisse von der Religion ihrer Vorfahren.
Für Andreas Nachama, den
Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Berlin, ist die Integration der
russischen Juden die wichtigste Aufgabe. „Das ist der Auftrag, den wir
haben“, hat er nach Antritt seines Amtes im Juni 1997 erklärt. Die
Zuwanderung bewertet er als Bereicherung für das Gemeindeleben, als ein
Wunder. Mitte der sechziger Jahre habe ihm ein Rabbi vorausgesagt, im
Jahr 2000 würden nur noch 800 Juden in Berlin leben. Daß es gegenwärtig
fast 11 000 sind, sieht er positiv.
Trotz des Wachstums: Von einer
neuen Blüte jüdischer Kultur darf hierzulande eigentlich nicht
gesprochen werden. Dies zeigt der Vergleich mit der Zeit vor 1933, als
allein in Berlin etwa 160 000 Juden lebten. Die Zahl der gegenwärtig in
Deutschland lebenden Juden ist viel zu klein, als daß ein solcher
Vergleich Bestand haben könnte. Hinzu kommt, daß im deutschen Bewußtsein
jüdisches Leben nach dem Holocaust kaum Niederschlag findet. Die meisten
Deutschen kennen persönlich keine Juden mehr. Immer noch zerschellt die
Normalität „an der unsichtbaren Mauer zwischen den Menschen“ , wie es
Jerzy Kanal, einstiger Vorsitzender der Berliner Gemeinde, formulierte.
Marc Hoch in der SZ