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Kein Sitzen mehr auf gepackten Koffern

Eine der dynamischsten Gemeinschaften weltweit:
Die jüdische Renaissance in Deutschland und in Berlin

Y. Michal Bodemann

Wer über Juden in Berlin und Deutschland reden will, muß über zwei grundverschiedene jüdische Gemeinschaften sprechen:

Die erstere Gruppe besteht im wesentlichen aus Ignatz Bubis, dem Zentralratspräsidenten, aus Andreas Nachama, dem Berliner Gemeindevorsitzenden, seinem verstorbenen Vorgänger Heinz Galinski, auch etlichen anderen Repräsentanten und wenigen Repräsentantinnen: anderen Bubis , Nachamas und Galinskis; dieses Judentum besteht auch aus vielen kleinen Albert Einsteins, Sigmund Freuds, Mendelssohns, Warburgs und Oppenheims.

Bekanntlich ist diese jüdische Gemeinschaft sehr religiös: in exotischer Verkleidung beten sie im Fernsehen, zu Hause segnen die Eltern die Sabbatkerzen, den Wein und das Brot am festlich gedeckten Tisch, umgeben von ernsthaft dreinsehenden, wohlerzogenen Kindern.
Zwar gibt es auch irritierende Aspekte in dieser Gemeinschaft, die man freilich nur hinter vorgehaltener Hand erwähnen sollte, wie die Rolle der russischen Mafia oder die Immobilienskandale am Kollwitzplatz, doch von diesen Dingen abgesehen: was tun diese Juden, wenn sie nicht gerade dabei sind, Klezmer-Musik zu spielen oder andere wichtige Beiträge zur deutschen Kultur zu liefern?
Hierauf kann es nur eine Antwort geben: Sie verbringen ihre Zeit damit, des Holocaust zu gedenken, und bald haben sie hier noch mehr zu tun, wenn Helmut Kohl und Lea Rosh ihnen nämlich das Mahnmal bauen am Brandenburger Tor.

Diese jüdische Gemeinschaft wird auf ein bis eineinhalb Millionen Personen in Deutschland geschätzt, knapp 300 000 in Berlin.
Diese Zahl entnehme ich Umfragen, in denen Deutsche gefragt wurden, wie viele Juden es denn hier in Deutschland gebe. Viele Deutsche sind von dieser Zahl fest überzeugt, obgleich sie die einzigen Juden, die sie je gesehen haben, nur vom Fernseher her kennen.
Man sollte hier auch erwähnen, daß diese Juden, wieder hinter der vorgehaltenen Hand und ja durchaus wohlwollend-kritisch gemeint doch ziemlich viel Macht in Deutschland haben, sie feiern Riesenhochzeiten in Israel, sind unersättlich und wollen immer mehr Geld von Deutschland.

Dies und anderes sind Fragmente, auch widersprüchliche, eines Phantombildes des imaginären Judentums in Deutschland. Doch eines sollte nicht vergessen werden: Wie phantastisch sie auch sein mögen, Imaginationen haben reale Folgen, sowohl im Rahmen der deutschen nationalen Wahrnehmung als auch in der Art und Weise, in der das real existierende deutsche Judentum sich hier durch diese Imaginationen prägen läßt.

Im deutschen nationalen Gedächtnistheater hat das Judentum eine klare Rolle zu spielen, und keine andere deutsche Stadt besitzt derart geeignete Bühnen wie die deutsche Hauptstadt, besonders im östlichen Zentrum.

Doch zur zweiten, real existierenden jüdischen Gemeinschaft: Knapp vierzig Jahre lang, nach den starken Fluktuationen der Nachriegszeit, stagnierte das Judentum in der alten Bundesrepublik um die 25.000 bis 30.000 Mitglieder, davon in Westberlin zwischen 5.000 und 6.000 Personen.

Diese Stagnation bestand nicht in den Zahlen allein; die gesamte Gemeindestruktur, die religiösen Orientierungen und die jüdische Rolle in Deutschland schienen festzementiert, die Gemeinschaft kontrolliert durch autoritäre Führung und bürokratische Patronage.
Kritische Stimmen wie etwa die der Jüdischen Gruppe wurden teils totgeschwiegen, teils offen attackiert.
In der DDR, trotz viel kleinerer Zahlen, verlief die Entwicklung ähnlich. Diese Stagnation schwächte sich bereits in den achtziger Jahren ab, doch erst nach der Wende sind die Dämme gebrochen.

Seit 1989 hat sich die Mitgliedschaft verdoppelt: von 30.000 auf 60.000 in Deutschland insgesamt, in Berlin von unter 6.000 auf über 11.000 heute,  dazu in Berlin schätzungsweise weitere 6 000 bis 9 000 Menschen jüdischer Herkunft, die freilich bei keiner Gemeinde registriert sind; bundesweit kommen wir dementsprechend auf eine Gesamtzahl von über 100 000 Menschen; immerhin wieder ein Fünftel der Zahl von 1933.

Die jüdische Gemeinschaft, im Osten wie im Westen, stagnierte demographisch und auch in ihrer gesamten Struktur knapp vierzig Jahre lang. Ihre Institutionen blieben erstarrt und wurden zu einer leeren Hülle äußerer Repräsentation.
Die Gemeinden verstanden sich weitgehend als provisorische "Liquidationsgemeinden", die von deutschem Boden schnell wieder verschwinden sollten.
Juden in Deutschland sprachen über Jahrzehnte nicht nur von den "gepackten Koffern"; die Koffer waren auch buchstäblich gepackt, selbst wenn sie mit der Zeit hinter die Treppe geschoben wurden und Staub ansammelten.

Bis in die achtziger Jahre erschienen Bücher jüdischer Autoren mit Titeln wie "Dies ist nicht mein Land", "Im Haus des Henkers", "Fremd im eigenen Land", und eine Zeitschrift dieser Exilierten nannte sich "Babylon".

Tatsächlich waren diese Juden Exilanten im klassischen Sinne: Sie waren Verweilende, jene Art von Fremden, die Georg Simmel, der Berliner jüdische Soziologe par excellence, Anfang des Jahrhunderts als jene beschrieben hätte, die heute kommen und morgen wieder gehen.
Doch hat sich dies in den letzten Jahren drastisch geändert. Wenn wir auch heute nicht wissen, ob sich das Rad nicht morgen wieder zurückdrehen könnte, wage ich doch die Diagnose, daß das heutige deutsche Judentum die dynamischste jüdische Diaspora in Europa und weltweit ist.

Vom dramatischen Wachstum der Gemeinden abgesehen, zeigt sich dieser Wandel darin, daß die Gemeinde, deren letzte beide Vorsitzende über siebzig Jahre alt waren, nun von einem 47jährigen angeführt wird, daß die Hälfte aller Mitglieder der 21köpfigen Repräsentanz unter 50, dabei nur drei über
sechzig Jahre alt sind; eine Jugendlichkeit, die wir dem Holocaust zu verdanken haben.

Mit diesem Generationswechsel brechen auch gänzlich neue Deutungen der eigenen Existenz hervor, die noch vor wenigen Jahren von der damaligen Gerontokratie scharf zurückgewiesen worden wären.
So stellte ein studentischer Kandidat zur Gemeinderepräsentanz bei den Wahlen im letzten Frühjahr fest: " als jüdische Gemeinde [stehen wir] an einem Punkt, an dem wir den Blick konsequent in die Zukunft richten müssen und nicht mehr in die Vergangenheit schauen dürfen.

Durch die enorme jüdische Zuwanderung haben sich für die Jüdische Gemeinde von Berlin großartige Chancen eröffnet Judentum in Berlin darf nicht aus Demut, sondern muß aus Freude gelebt werden, nicht um unsere jüdische Identität zu verteidigen, sondern um sie zu feiern."Noch sind es wenige Juden in Berlin, die sich so radikal von der Vergangenheit abwenden würden, doch wird auch die auf der Vergangenheit begründete Trennungslinie zwischen Deutschen und Juden immer deutlicher aufgehoben.

Auch in der offiziellen Selbstdarstellung macht sich der Wandel bemerkbar. In der Nachkriegszeit hatte die Berliner Jüdische Gemeinde noch ihre eigene Gemeindezeitung, "Der Weg". Diese wurde in den Jahren der Stagnation eingestellt, zunächst noch formell in die "Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland" integriert. Erst 1984 erschien wieder, zaghaft, ein monatliches Nachrichtenblatt, der "Kulturspiegel". Fünf Jahre später wurde daraus die "Berlin-Umschau" und seit Anfang dieses Jahres nun ein farbenfrohes Blatt auf Glanzpapier, das "jüdische berlin".
In den 15 Jahren präsentierte sich die Gemeinde also zunächst als "Spiegel" reflektiv auf sich selbst bezogen; als "Umschau" richtete sie sich deutlicher auf ihr Umfeld, und mit dem neuen Namen sieht sie sich bejahend als Teil Berlins.

Im vergangenen Jahrzehnt hat sich nicht nur die äußere Repräsentation der Gemeinde, sondern vor allem das innere Leben in einer bis dahin kaum vorstellbaren Weise intensiviert. Ein Vergleich der Veranstaltungskalender von 1987 und 1997 zeigt, daß sich das Programm vervierfacht hat, bei Verdopplung der Mitgliederzahl. Theater-, Kunst- und Computergruppen sind entstanden, neue egalitäre Formen des Gottesdienstes, Folklore und Traditionsgruppen haben sich gebildet und selbst, den russischen Einwanderern sei dank, einen Veteranenklub des Großen Vaterländischen Krieges gibt es jetzt in Berlin.

Diese als "Renaissance" bezeichnete Entwicklung ist vor allem drei Faktoren geschuldet. Der erste ist zweifellos die Einwanderung osteuropäischer Juden. Ein zweiter Grund ist die stetige finanzielle und mit spezifischen Einschränkungen auch politische Unterstützung der jüdischen Gemeinschaft.
Von dem 47-Millionen-Etat der Gemeinde erhält sie von der Stadt vor allem für Schulen und Kindergärten, die allerdings oft auch nichtjüdischen Institutionen zuständen 44 Millionen vom Senat und anderen öffentlichen Quellen; etwa drei Millionen kommen aus dem eigenen Steueraufkommen durch die Gemeindemitglieder. Das politische Wohlwollen ist eng verbunden damit, daß sich in Deutschland ein judeophiles Umfeld und ein breites Interesse am Judentum entwickelt hat.

Der dritte, wichtige Grund sind die inneren sozialen Strukturveränderungen zum einen, was der Münchener Historiker Michael Brenner als die Neuentstehung einer weltlich, jüdisch gebildeten Schicht bezeichnet hat, und zum anderen, innerhalb dieser Schicht, die neugefundene Rolle der Frauen.
Sie drängen auf Reformen im Ritus und entwickeln mit gleichgesinnten Männern neue, egalitäre Gottesdienste, engagieren sich stärker in den Gemeinden.
Neben der Einwanderung wird in den nächsten Jahren nichts die Gemeinde so nachhaltig verändern, jüdisches Leben so nachhaltig bereichern wie dieser Vormarsch der Frauen und der neuen Intellektuellenschicht im öffentlichen Terrain der Gemeinde.

Nach innen wird die monolithische Kontrolle der Gemeindebelange im Korsett einer erstickend straffen, zudem vor allem orthodoxen Einheitsgemeinde, wie sie es vor 1933 nie gab und wie sie in den letzten Jahrzehnten erduldet wurde, kaum wieder möglich sein.
Die verschiedenen Interessen und Orientierungen werden sich so angesichts der neuen Pluralität nie wieder unter einen Hut bringen lassen. Deshalb haben sich auch autoritär führende jüdische Persönlichkeiten wie ehedem Heinz Galinski in Berlin, aber auch Ignatz Bubis heute, als Rolle längst überlebt; wir bewegen uns von autoritären Strukturen hin auf jenes Spektrum, das von oligarchischer bis hin zu demokratischer Führung liegt. In Berlin ist zweifelsohne Andreas Nachama der prinzipielle, weil gewählte, Repräsentant der großen Jüdischen Gemeinde; doch wer wollte leugnen, daß innerhalb und außerhalb der Berliner Einheitsgemeinde es auch andere maßgebliche Sprecher gibt?

Nach außen, auf das Berliner Umfeld hin, hat sich die politische Stärke der Gemeinde paradoxerweise gerade aufgrund ihres derzeitigen Aufschwungs merklich abgeschwächt.
Dies hat zwei Gründe. Zum einen ist durch die Ausdifferenzierungen und die neuen konkurrierenden politischen Pole innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, durch die jetzt entstandene größere institutionelle Vielfalt, der monolithische Machtkern verschwunden: die verschiedenen jüdischen Sprecher haben eben nicht immer dieselben Interessen, und jüdische Belange sind deshalb heute weniger durchsetzungsfähig als noch vor einem Jahrzehnt. Der Streit um das Jüdische Museum, in dem sich die Gemeinde in ihrem ureigenen Terrain nicht durchsetzen konnte und eine Lösung nur durch den Druck aus der Berliner Öffentlicheit zustande kam, belegt diesen Machtverlust.
Der zweite Grund hat mit der zunehmenden Entfernung vom Holocaust zu tun. Die zynische Bemerkung aus dem Berliner Senat, Andreas Nachamas Problem sei, daß er keine Tätowierung am Arm habe, liegt schon richtig, denn mit Schuldgefühlen können die nachgeborenen Juden den nachgeborenen Deutschen nicht mehr kommen.

Dieses Verschwinden einer monolithischen jüdischen Politik, die Schwächung jüdischer Positionen, heißt jedoch keineswegs, daß zukünftig die Beziehungen deutscher Politiker zur jüdischen Gemeinschaft einfacher werden.
Da es von nun an in Deutschland keinen exklusiven jüdischen Verhandlungspartner mehr gibt, wird politisches Einvernehmen schwerer herbeizuführen sein.

Welche Konsequenzen hat nun Berlin als neue Kapitale für die jüdische Gemeinschaft?
Zunächst ist auffällig, daß der starke jüdische Zustrom nach Berlin mit der Hauptstadtentscheidung zusammenfällt. Eine westliche Hauptstadt ohne ethnische Vielfalt, wie Bonn es war, ist ja noch denkbar, aber eine Hauptstadt, die auch Metropole, kosmopolitisch, sein will, kommt ohne ethnische Arbeitsteiligkeit nicht aus.
Und für westliche Länder heißt dies, daß die jüdische Präsenz unabdingbar ist. Jüdische Institutionen sind an die historischen jüdischen Orte in Berlins Mitte zurückgekehrt, haben die lieux de mémoire, die Orte jüdischer Geschichte, besetzt, die bislang das Zentrum der Ostberliner jüdischen Gemeinschaft waren.

Damit hat eine historisch präzedenzlose Zentralisierung jüdischer Institutionen eingesetzt, die jüdisches Leben in Deutschland insgesamt nachhaltig prägen wird. Die Vorstellungen der Deutschen von der mythisierten jüdischen Gemeinschaft werden mit der heutigen jüdischen Renaissance, aufgrund der vielleicht jüdisches Leben hier tatsächlich wieder selbstverständlich wird, langsam gegenüber dem real existierenden deutschen Judentum korrigiert. Und erst dann gehört das Gefühl des "Fremdseins im eigenen Land" endgültig der Vergangenheit an.

Der Autor lehrt Soziologie an der Universität von Toronto
und war 1982 Mitbegründer der "Jüdischen Gruppe" in Berlin.

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