Durch
Fehlalarm am Rand des Krieges
Mossad-Agent täuschte Israels Regierung über syrische Absichten
Der 63jährige Yehuda Gil, ein pensionierter
Mossad-Veteran, steht hinter dem neuesten Skandal um den israelischen
Auslandsgeheimdienst, der offenbar jahrelang Fehlinformationen über die
syrischen Absichten gegenüber Israel aufgesessen ist. Ein Gericht in Tel
Aviv hob am Samstag die Zensur über Einzelheiten der Affäre auf, nachdem
eine Flut von Enthüllungen seit ersten Andeutungen der Zeitung Haaretz
nicht mehr zu bremsen war. In zahlreichen Talk-Show-Auftritten setzten
sich daraufhin Politiker und ehemalige Mossad-Chefs mit dem
angeschlagenen Mythos der israelischen Geheimdienste und den politischen
Konsequenzen auseinander. Im September war der Mossad bereits wegen
eines gescheiterten Anschlags gegen einen Hamas-Agenten in Amman ins
Zwielicht geraten.
Yehuda Gil wurde vor zwei Wochen verhaftet und soll am
17. Dezember wegen Hochverrats vor Gericht kommen. Ihm wird vorgeworfen,
die Sicherheit Israels durch Falschinformationen gefährdet und die für
seine nicht existierenden „Informanten“ bestimmten Gehälter
unterschlagen zu haben. Gil war 1970 vom Mossad rekrutiert worden und
hatte seitdem, so einige seiner Ex-Kollegen, an etlichen waghalsigen
Operationen teilgenommen.
Seine Aktivitäten wurden 1990 von Victor Ostrovsky,
einem abtrünnigen Mossad-Agenten, in einem Enthüllungsbuch beschrieben.
Danach sammelte Gil etwa Informationen über den irakischen Atomreaktor,
den Israel 1981 bombardierte, und organisierte 1985 die „Operation
Moses“, die geheime Luftbrücke für äthiopische Juden vom Sudan nach
Israel. Ostrovsky beschrieb überdies, wie Gil 1985 einen hohen syrischen
Militärbeamten in Kopenhagen rekrutierte. Nachdem er 1989 in Pension
ging, wurde Gil weiter vom Mossad mit Sonderverträgen beschäftigt, die
auf seinem Ruf als Syrien-Spezialist basierten.
Als konkrete Informationsquellen versiegten, beschloß
Gil offenbar – aus Geltungsdrang, Geldgier oder ideologischer
Überzeugung –, alarmierende Informationen systematisch zu fabrizieren.
Die Desinformationen lösten im Herbst 1996 beinahe einen Krieg zwischen
Israel und Syrien aus, als der Mossad, gestützt auf die Einschätzungen
Gils, Truppenbewegungen an der Grenze als Signal für Kriegsabsichten des
syrischen Präsidenten Hafis el-Assad deutete. Verteidigungsminister
Yitzhak Mordechai verließ sich jedoch auf gegensätzliche Einschätzungen
der USA und des getrennt vom Mossad arbeitenden militärischen
Geheimdienstes.
Unterschiedliche Interpretationen beider Geheimdienste
über syrische Absichten gab es schon während der Madrider
Friedenskonferenz 1991 und während der israelisch-syrischen
Verhandlungen 1993/94. Obwohl der Mossad Syriens Friedenswillen stets
bezweifelte, setzten Premier Yitzhak Rabin und Außenminister Schimon
Peres ihre Bemühungen um Frieden mit Damaskus fort. Man habe instinktiv
gewußt, daß Syrien keinen vierten Krieg mit Israel riskieren wolle,
sagte Peres am Samstag. Politiker dürften nicht nur auf
Geheimdienst-Einschätzungen reagieren, sondern müßten angesichts einer
Fülle von Informationen ihren Verstand nutzen, unabhängig entscheiden
und führen. Offen bleibt, wieweit Ministerpräsident Benjamin Netanjahus
Abkehr von Bemühungen um Frieden mit Syrien von den Fehlinformationen
beeinflußt wurde.
Anne Ponger
SZ vom 08.12.1997
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