DIE WELTWOCHE
Zürich
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Yassir Arafat ist krank:
Auch ein Rais lebt nicht ewig
Von Pierre Heumann
Als er zu Beginn letzten Jahres eine starke Grippe hatte,
machte sich Yassir Arafat über die Medienberichte lustig, die seine
Gesundheit in Frage stellten. «Unsinn», wurde er zitiert, «ich habe
Anschläge auf mein Leben überstanden, bin bei einem Flugzeugabsturz
davongekommen, habe General Ariel Sharons Panzern in Beirut getrotzt
glauben Sie wirklich, dass eine lumpige Grippe mich umbringen wird?»
Arafats «Gesundheit» ist in Gaza nach wie vor tabu. Er selbst
bezeichnet alle Vermutungen als «dumme Gerüchte». Als das
palästinensische Fernsehen, dessen Studio im Machtzentrum Arafats
domiziliert ist, diese Woche einen Bericht über das Wohlbefinden Arafats
ausstrahlen wollte, wurde die Sendung unterbrochen weil angeblich der
Strom ausgefallen war. Inzwischen machen sich aber nicht nur
Journalisten Gedanken über das Befinden des PLO-Chefs.
So berichteten Diplomaten, dass Arafat bei Sitzungen starr vor
sich hinblicke und Gedächtnislücken zeige. In Bern konnte sich am
vorigen Samstag auch die amerikanische Aussenministerin Madeleine
Albright vom angeschlagenen Gesundheitszustand Arafats überzeugen: Er
wirkte schwach und sprach mit schleppender Stimme, seine Lippen
zitterten. Schliesslich mussten die Palästinenser den neunten
Unabhängigkeitstag ohne ihren Mr. Palestine zelebrieren: Arafat fühlte
sich zu kraftlos, um an den Feiern teilzunehmen.
Die Gründe für Arafats nachlassende Rüstigkeit? Der Jerusalemer
Neurologe Avinoam Reches meinte am Montag vor laufenden Kameras, dass
das Zittern der Lippen Arafats, die langsame Reaktion und das Zucken
seines Kiefers auf Parkinson hinweisen würden. Der israelische
Geheimdienst dagegen hat die These von der Krankheit Arafats als Märchen
abgetan.
Auch der persönliche Berater Arafats, Achmed Tibi, der bei
Reches Medizin studiert hat, weist die Vermutung, der Rais leide unter
Parkinson, entschieden zurück. Vielmehr spüre er die neurologischen
Folgen einer Operation, die nach einem Flugzeugabsturz nötig geworden
war: Damals wurde ihm ein Blutgerinnsel operativ aus dem Hirn entfernt.
Die Schwächezeichen Arafats seien allein als Ermüdungssymptome zu
interpretieren: «Arafats Problem ist, dass er siebzehn Stunden am Tag
arbeitet. Wir bitten ihn, sich zu schonen, aber er weigert sich», sagte
Tibi gegenüber dem israelischen Radio.
Tatsächlich kann der 68jährige Arafat sein gewaltiges Pensum nur
dank Aufputschmitteln meistern; er hält sie stets auf seinem
Schreibtisch bereit. Mitverursacht werden die gesundheitlichen Strapazen
durch sein rastloses Reiseprogramm. Ebenso durch den eisernen Willen,
nicht nur über Grundsätzliches, sondern auch über sämtliche Details in
den palästinensischen Gebieten selbst zu entscheiden. Kein Dollar kann
ausgegeben werden, ohne dass Arafat den Scheck unterschrieben hat.
Während über den Gesundheitszustand des Rais spekuliert wird,
hat hinter den Kulissen der Kampf der Diadochen begonnen. Dabei ist eine
explosive Situation entstanden, die jederzeit eskalieren könnte. Dies
jedenfalls ist die Ansicht der in London erscheinenden arabischen
Zeitung «Al Hayat»: Das politische Establishment der Palästinenser halte
sogar einen politischen Mord für möglich. Gute Chancen auf die Nachfolge
Arafats rechnen sich diejenigen aus, die mit ihm im tunesischen Exil für
den palästinensischen Staat gekämpft haben. Als engster Vertrauter
Arafats gilt heute Abu Mazen (Mahmud Abbas), der an der Universität
Moskau über Zionismus promoviert hat. Als Generalsekretär der PLO hat er
durch zahlreiche Reisen in den besetzten Gebieten seine Machtbasis
ausbauen können. Seine Aussichten sind um so besser, als sein Rivale Abu
Ala von Arafat zurückgebunden wurde, nachdem diesem in den
palästinensischen Parlamentswahlen ein Spitzenergebnis gelang.
Wiederholt von Arafat zurückgebunden wurde in den letzten Monaten auch
Feisal Husseini, der im Verlaufe der Ras-al-Amud-Krise zu einer
Mini-Intifada aufgerufen hatte. Arafat löste die Krise auf dem Wege der
Diplomatie und liess Husseinis Forderung unbeantwortet.
Neben Politikern wie Abu Mazen, Abu Ala oder Feisal Husseini
träumen auch Offiziere von politischer Macht. Am häufigsten genannt
werden Dschibril Radschub, Chef des Sicherheitsdienstes auf der
Westbank, und Muhamad Dahlan, oberster Geheimdienstmann in Gaza. Bereits
wird darüber spekuliert, ob die von Arafat geschaffenen
Sicherheitskräfte unter sich um das Erbe des Rais kämpfen werden oder ob
sie am Ende zusammenspannen, um sich die Macht zu teilen. Radschub, der
während 17 Jahren in israelischen Gefängnissen sass, verfügt über eine
breite Machtbasis, die er derzeit ausbaut. Um den Aufstieg des
ehrgeizigen Offiziers zu verhindern, hat Arafat eine Kommission
beauftragt, Radschubs Verhalten unter die Lupe zu nehmen
möglicherweise ein taktischer Zug, um ihn zu einem geeigneten Zeitpunkt
zu entlassen.
Auch wenn sich ein Chaos um die Nachfolge Arafats vermeiden
lässt: Von all den zur Verfügung stehenden Politikern und Militärs, so
glauben viele Palästinenser, wäre kaum einer stark und kompetent genug,
Israel in den Friedensverhandlungen entgegenzutreten. Zumal Arafat und
seine Nachfolger seit der Rückkehr von Scheich Yassin nicht mehr als
unangefochtene Alleinherrscher anzusehen seien.
Sorgen um das Leben ihres Mannes und ihre eigene Zukunft macht sich
inzwischen auch die First Lady der Palästinenser, Suha Arafat. Sie
befürchtet, dass sie nach Jihan Sadat und Lea Rabin die nächste Witwe im
Nahen Osten werden könnte.
Archiv 1998
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