Pogrom in Jedwabne
war kein EinzelfallWarschauer
Institut stellt unfassende Studie über Progrome von Polen an Juden während
des 2. Weltkrieges vor
GABRIELE LESSER
WARSCHAU taz - Das Pogrom im nordostpolnischen Jedwabne
war nicht das einzige seiner Art. Im Sommer 1941, kurz nach dem Einmarsch
der Wehrmacht in Ostpolen und der Sowjetunion, ermordeten Polen in
mindestens weiteren 30 Städten rings um Bialystok ihre jüdischen Nachbarn.
Zu diesem für viele Polen schockierenden Ergebnis kommt das Institut für das
Nationale Gedenken (IPN) in seinem Weißbuch "Rund um Jedwabne". Pawel
Machcewicz, Herausgeber der 1.500 Seiten umfassenden Studie, stellt die
beiden Bände heute der breiteren Öffentlichkeit in Polen vor. 30 Historiker
und Staatsanwälte des IPN, der Polnischen Akademie der Wissenschaften und
der Universität in Bialystok haben zwei Jahre an der Studie gearbeitet.
Im Mai 2000 löste der in New York lebende Historiker und
Soziologe Jan Tomasz Gross mit dem Buch "Nachbarn" die größte und wichtigste
Geschichtsdebatte in Polen seit Kriegsende aus. In dem Buch schilderte
Gross, wie die katholischen Einwohner Jedwabnes ihre jüdischen Nachbarn bei
lebendigem Leibe in einer Scheune verbrannten. Zwar waren bei dem Massaker
im Sommer 1941 acht deutsche Gendarmen vor Ort, sie nahmen aber an dem
Verbrechen nicht aktiv teil. Für viele Polen war dies ein Schock, hatten die
polnischen Historiker doch über Jahrzehnte hinweg immer wieder versichert,
dass Polen nicht mit den Nazis kollaboriert hätten. Dass sie gar an Pogromen
beteiligt gewesen sein könnten, zu denen die Nazis die örtliche Bevölkerung
in ganz Osteuropa aufstachelte, wiesen Polen immer entschieden zurück.
Anfang September 2000, nur vier Monate nachdem das Buch
"Nachbarn" in Polen erschienen war, nahm das Institut für das Nationale
Gedenken (IPN) die Ermittlungen im Fall Jedwabne auf. Zum 61. Jahrestag des
Pogroms am 10. Juli 2002 stellte Chefermittler Radoslaw Ignatiew den
Abschlussbericht vor: "Es waren Polen, die die entscheidende Rolle bei der
Ermordung der Juden von Jedwabne spielten". Das Massaker, bei dem hunderte
von jüdischen Männern, Frauen und Kindern umgekommen waren, sei von den
deutschen Besatzern inspiriert worden. Anfang Oktober hat das IPN noch
einige Zeugenaussagen aus Israel erhalten, so dass damit zu rechnen ist,
dass der bislang nur mündlich bekannt gegebene Abschlussbericht demnächst
publiziert wird.
Das Weißbuch "Rund um Jedwabne" ist parallel zu den
Ermittlungen entstanden. Der erste Band enthält 32 Berichte von jüdischen
Zeitzeugen, die direkt nach dem Zweiten Weltkrieg in der Jüdischen
Historischen Kommission in Bialystok aufgezeichnet wurden. Allein diesen
Zeugen zufolge haben Polen im Sommer 1941 in 23 Orten rund um die 150
Kilometer von Warschau entfernte Stadt Bialystok Juden ermordet. Im zweiten
Band werden Akten aus 61 Nachkriegsprozessen vorgestellt, in denen gegen 93
Polen verhandelt wurde, die sich des gemeinschaftlichen Mordes oder der
Beihilfe zum Mord an Juden schuldig gemacht hatten. Verurteilt wurden am
Ende nur 17 Personen, darunter eine zum Tode. Hunderte Nachkriegsprozesse
gegen Einzelpersonen, denen Mord an Juden, Raub, Vergewaltigung und die
Schändung von Synagogen oder Friedhöfen vorgeworfen wurde, warten noch auf
eine eingehende Untersuchung.
GABRIELE LESSER
taz Nr. 6895 vom 4.11.2002, Seite 11, 108
TAZ-Bericht GABRIELE LESSER
taz muss sein: Was ist
Ihnen die Internetausgabe der taz wert? Sie helfen uns, wenn Sie diesen
Betrag überweisen auf: taz-Verlag Berlin, Postbank Berlin (BLZ 100 100 10),
Konto-Nr. 39316-106
© Contrapress media GmbH
Vervielfältigung nur mit Genehmigung des taz-Verlags
hagalil.com
12-11-2002
|