Der Antisemitismus nach und wegen Auschwitz
5.3. Besonderheiten sekundär antisemitischer Muster
Wie unter 5.1. gezeigt, beinhaltet die
Abwehraggression eigener Schuld, dass die Opfer von Auschwitz und deren
Nachkommen in die Position einer moralischen Instanz, eines veräußerten
Über-Ichs, erhoben werden, mit dem permanenten Bestreben dieses aggressiv zu
demontieren.
Das autoritär subjektivierte Individuum verbindet diese mit einer weiteren
Projektion, welche auf dem Stereotyp der ‚jüdischen Rachsucht’ beruht. Die
Juden seien von "Natur rachsüchtig, ihre Rachsucht ist unausrottbar,
pathologisch."
Das wissen darum was den Juden angetan wurde lässt die Antisemiten nicht
ruhen und schürt die Paranoia. Der eigene Sadismus wird auf die Juden als
Gruppe projiziert und lässt diese als so rachsüchtig erscheinen, wie man
selber ist. Hier scheint im sekundären, der alte Antijudaismus auf, nur ohne
dessen christlichen Beiklang. Das Motiv der angeblichen jüdischen Rachsucht
betrifft noch die Nachfahren der Opfer oder diese selbst, wo sie auf
Entschädigung insistieren. Im Kampf der Überlebenden des Holocaust, um
Entschädigungszahlungen
amalgamieren die verschiedensten sekundär-antisemitischen Ressentiments. Die
unbewusste Sehnsucht nach Erlösung von Schuld, der die Überlebenden in
persona entgegenzustehen scheinen, verbindet sich mit den Stereotypen von
‚Rachsucht’ und ‚Geldgier’ und der angeblichen materiellen Ausbeutung des
Holocaust. Die Weigerung der deutschen Industrie den wenigen noch
überlebenden Opfern ihrer Ausbeutung im Nationalsozialismus eine
Entschädigung zu zahlen wird als ‚ausbeutendes Verhalten’ auf die Juden
projiziert:
">Geldgierig< ist in dieser die Realität verkehrenden Vorstellung nicht die
seit über 50 Jahren zahlungsunwillige deutsche Industrie, sondern die
Überlebenden Zwangsarbeiter, nicht die aus der Zwangsarbeit bis heute
profitierenden »schutzbedürftigen« Konzerne, sondern eine scheinbar von
mächtigen Juden verfolgte deutsche Wirtschaft."
Hier verbinden sich psychische mit handfest materiellen Interessen, die
nicht nur seitens der Industrie, sondern auch medial eine verzerrte Sicht
auf die Realität wiederspiegeln. In solchen Projektionen erscheinen die
jüdischen Opfer als "so schamlos und geldgierig, daß sie sogar ihre Stellung
als verfolgte Minderheit noch ausbeuten, um sich besondere Privilegien zu
sichern."
Gegenüber dem eigenen infantilen, regressiven Zustand erscheinen die Juden,
als personifizierte Moralinstanz, nicht nur groß und mächtig. Die eigene,
durch die Regression evozierte, anhaltende Kränkung scheint in diesem
Zusammenhang auch auf im Wunsch nach der Aufrichtung eines kollektiven
Selbstbildes in Gestalt der Nation. Deutlich wird das an der Haltung des
Bundeskanzlers Gerhard Schröder, wenn er im Zusammenhang mit den
Entschädigungsforderungen äußert, dass man den Kampagnen gegen den Ruf
Deutschlands den Boden entziehen müsse.
Der Mechanismus ist nicht neu. Bereits Adorno stellt fest, dass die "Abwehr
peinlicher und unangenehmer Erinnerungen höchst realitätsgerechten Zwecken
dient", wenn die Abwehrenden selber den Hinweis geben, "daß die allzu
konkrete und hartnäckige Erinnerung ans Geschehene dem deutschen Ansehen im
Ausland schaden könne."
Was man aber sich selber nicht zumuten mag, das soll den Opfern und deren
Nachfahren nicht zugestanden werden, die ihr Leid nicht verdrängen können
und für die eine Aufarbeitung der Geschichte einen Beitrag zur Verhinderung
einer Wiederholung bedeutet. Rachsüchtig und inhuman erscheinen den
Abwehrenden solche Gedenken. In der Projektion werden schließlich die Juden
zu den eigentlichen Tätern:
"Brutal waren also nicht die SS-Leute, die die Juden marterten, sondern die
Juden, die angeblich die Deutschen zwangen die Untaten der SS zur Kenntnis
zu nehmen."
Ähnliches findet sich auch bei Martin Walser, der in seiner bereits
erwähnten Friedenspreisrede kundgetan hat:
"Jeder kennt unsere geschichtliche Last, die unvergängliche Schande, kein
Tag, an dem sie uns nicht vorgehalten wird".
Walser benennt auch gleich das Motiv der "Instrumentalisierung unserer
Schande" durch "maßgebliche Intellektuelle".
Nicht nur verweist die Rede von der Instrumentalisierung auf die Juden, ohne
dass diese unmittelbar Erwähnung finden müssten. Walser bedient dieses bei
39 Prozent der Bevölkerung vorhandene sekundär antisemitische Stereotyp.
Auch bei der Nennung der Intellektuellen, die in Umkehrung des Sachverhalts
"für die Mängel verantwortlich gemacht" werden, klingt die "nur leise
verschleierte Stereotypie des Antisemitismus"
durch. Erklärlich wird der aufscheinende Anti-Intellektualismus des
Intellektuellen Walser, wenn man ihn betrachtet vor dem Hintergrund eines
Kulturbegriffs der ideologisch den Zusammenhang zwischen Bildung, als Teil
der Kultur, und der Sphäre des Gesellschaftlichen und damit des materiellen
Interesses, negiert und zugleich die Intellektuellen auf die Sphäre der
Vermittlung, den Juden ähnlich, festlegt. Der Zusammenhang von Kultur und
Gesellschaft wird im Kapitel 6. näher dargelegt werden, da er auch auf die
Grenzen und Möglichkeiten politischer Bildungsarbeit verweist. Die im
Bereich der Erinnerungsabwehr mitschwingende Frage an eine politische
Bildungsarbeit gegen Antisemitismus wäre, sofern sie bereit und in der Lage
ist sich von ideologischen Diskursen abzusetzen, die auf die Stabilisierung
und Vormacht des Nationalen unter Funktionalisierung von Auschwitz zielen,
und wie sie dazu beitragen kann, die Vergangenheit in der Gegenwart präsent
zu machen.
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