Antisemitismus in Frankreich (IV):
Antisemitismus und die französische Mehrheitsgesellschaft
Von Bernard Schmid
Feindprojektionen auf "Juden" sind keine
originär "islamischen" oder "migrantischen" Mechanismen, die vorrangig in
der muslimischen Einwanderungsbevölkerung entstanden wären. Tatsächlich
waren sie in Frankreich nicht nur vorhanden, sondern virulent, bevor es zu
einer zahlenmäßig stärkeren Einwanderung aus den damaligen nordafrikanischen
Kolonien kam.
Der israelische Historiker Zeev Sternhell -
ein eminenter Spezialist der französischen faschistischen und
präfaschistischen Bewegungen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert
schrieb zu Ausgang des vorletzten Jahrhunderts hätte man die Metropole des
europäischen Antisemitismus, wo sich eine brisante Mischung aus "nationaler"
und "sozialer Frage" zusammenbraute, wohl in Paris und nicht in Berlin
angesiedelt (1). Im Zuge der sogenannten
Dreyfus-Affäre, in deren Verlauf die Anhänger und Gegner einer Amnestierung
des unschuldig wegen "Spionage" verurteilten Militärs jüdischer Abstammung
Alfred Dreyfus zusammenstießen, mobilisierte eine antisemitische
Massenbewegung in den Sälen und auf der Straße.
Doch von dieser Zeit ab hat es in der
französischen Gesellschaft auch mächtige Gegenbewegungen gegeben, und der
politisch organisierte Antisemitismus hat wichtige Niederlagen einstecken
müssen. Den ersten bedeutenden Rückschlag musste er in der Debatte um das
Dreyfus-Urteil einstecken. Als erste griffen anarchistische,
libertär-sozialistische Gruppen auf militante Weise antisemitische
Veranstaltungen an. Nach einigem Zögern warf die organisierte sozialistische
Arbeiterbewegung unter Jean Jaurès ihr bereits erhebliches Gewicht in
die Waagschale, und verbündete sich mit den liberalen Republikanern gegen
die antisemitische Bewegung, die drohend die Dritte Republik herausforderte.
Bürgerliche und fortschrittliche Intellektuelle, wie Emile Zola (mit seiner
berühmten Schrift "J¹accuse") engagierten sich und spielten eine
Schlüsselrolle in der politisch-moralischen Debatte.
Die GegnerInnen des Antisemitismus hatten
Erfolg: Das Urteil gegen Dreyfus wurde aufgehoben, und am Ende der
innenpolitischen Auseinandersetzung stand die 1905 beschlossene Trennung von
Kirche und Staat. Der bis heute institutionell festgeschriebene französische
Laizismus ist ein direktes Ergebnis des Ausgangs der Dreyfus-Affäre. Eine
zweite erhebliche Niederlage für die antisemitische Massenagitation
bedeutete die Wahl des französischen Juden Léon Blum zum Premierminister der
linken Front populaire-Regierung (2) im
Mai 1936. Der sozialistisch orientierte Jurist war zuvor zur Zielscheibe
einer systematisch angelegten antisemitischen Massen- und Hasskampagne
geworden. In deren Verlauf wurde u.a. behauptet, Blum heiße in Wirklichkeit
Karfunkelstein und stamme aus Bessarabien, insgeheim sei er reich und man
wisse nichts von der Herkunft seines Vermögens. Die rechte Massenpresse
bezeichnete ihn nach einem klassischen antisemitischen Topos als juif
errant, also wurzellosen und "umher irrenden (oder streunenden) Juden".
Dennoch ist der Name Léon Blums bis heute im Massenbewusstsein eher mit
positiven Dingen verbunden, namentlich mit der erstmaligen gesetzlichen
Einführung von Jahresurlaub.
Der staatliche Antisemitismus, wie er wenige
Jahre später in Vichy zum Programm wurde und zur
NS-Vernichtungsmaschinerie beitrug -, ist hingegen eng mit der deutschen
Besatzung und ihren Kollaborateuren verbunden, und daher zumindest im
Nachhinein in weitesten Kreisen fraglos diskreditiert. Dagegen lebt er
natürlich in Kreisen der extremen Rechten fort. Doch innerhalb der extremen
Rechten existieren (wie zu anderen ideologischen Fragen) verschiedene
Standpunkte nebeneinander her. Denn ein Teil des politischen
Rechtsextremismus hat in den 50er Jahren, weniger aus Ablehnung des
Antisemitismus als vielmehr aufgrund außenpolitischer und internationaler
Konstellationen, pro-israelische Positionen angenommen.
Exkurs: Die extreme Rechte, Israel und der
Antisemitimus - Ein komplexes Verhältnis
Hintergrund dieser Tatsache ist, dass der
Staat Israel damals eng mit Frankreich verbündet war, als dieses seine
Kolonialkriege gegen arabisch-nordafrikanische Länder führte, vor allem in
Algerien (1954 bis 1962) sowie gegen Ägypten (mit der "Suezexpedition"
1956), da im nasseristischen Kairo die Ursache für die vermeintlich sonst
unbegreifliche Rebellion gegen die französische Herrschaft gesucht wurde.
Dem ultrakolonialen Lager verpflichtete Rechte, die selbst aus
antisemitischer Tradition kamen und die mit der innenpolitischen
Aufheizung während des Algerienkrieg wieder aus ihren Schlupflöchern und
Vichy-nostalgischen Zirkeln hervor an die Öffentlichkeit kamen - , wurden in
dieser Situation dennoch (in außenpolitischer Hinsicht) zu Unterstützern
Israels.
Sie schafften es, das nicht in Widerspruch zu
ihrer antisemitischen Grundhaltung zu bringen: Sie gingen davon an, nunmehr
die "jüdische Frage" in Europa dadurch lösen zu können, dass die jüdische
Bevölkerung künftig geschlossen nach Israel gehen solle. "Ethnische
Reinheit" sollte so mit militärischen Allianzen im kolonialen "Hinterhof"
des Landes einhergehen. Kulminationspunkt dieser Entwicklung ist die
"Suezexpedition" im Oktober 1956 (Frankreich, Großbritannien und Israel
greifen zusammen Ägypten an, nachdem dieses den Suezkanal nationalisiert
hat). An ihr nimmt Jean-Marie Le Pen als freiwillig dienender Unteroffizier
teil, bevor er drei Monate später in Algerien an Folterungen teilnimmt.
Später hat Le Pen seinen Biographen von der Faszination erzählt, welche die
israelischen Truppen in diesen Tagen auf ihn ausgeübt hätten. (3)
Ein Teilbereich der extremen Rechten setzt
diese Parteinahme bis heute in ähnlicher Form fort: Ihm gilt Israel, ähnlich
wie in ihren Augen Europa, als "Insel im Meer der barbarischen Dritten
Welt". Diese müsse auf ähnliche Weise verteidigt werden, wie Europa sich
muslimischer Zuwanderer zu erwehren habe. Die Sympathie für eine israelische
Politik, der militaristische Positionen und eine reine Strategie der Stärke
"empfohlen" werden, beruht also im Wesentlichen auf einer Projektion
gemeint ist vielmehr Europa selbst und "seine" Abwehr afrikanischer oder
asiatischer Einwanderer. Oftmals schwingt bei dieser Variante der extremen
Rechten der Gedanke mit, dass "die jüdische Lobby" (im Land oder auf
internationaler Ebene) angeblich so stark sei, dass man sich besser nicht
oder noch nicht! mit ihr anlegen möge.
Solche Positionen nahm etwa der
nationalkonservative Flügel des FN ein, der eine Brücke zum rechten Flügel
den bürgerlichen Parteien hätte bilden können und der Ende der 80er Jahre
mehrheitlich absprang. Einer seiner Köpfe war damals Olivier d'Ormesson, der
vor allem einen der führenden Südafrika-Lobbyisten (also
Pro-Apartheid-Politiker) in Frankreich bildete. Er kehrte dem FN Ende 1987
den Rücken; Jean-Marie Le Pen würde ihn später öffentlich als "israelischen
Agenten" bezeichnen (in "National Hebdo" vom 27. Februar 1997).
Später, zu Anfang dieses Jahrzehnts hat der
vom FN abgespaltene Teil unter Bruno Mégret, der mit geringem Erfolg eine
eigene Partei (den MNR, Mouvement national républicain) gründete, diese
Haltung vor allem nach dem 11. September 2001 eingenommen. Und dabei
ziemlich lautstark bekundet, "gemeinsame Positionen mit den jüdischen
Organisationen Frankreichs" zu teilen, was allerdings auf kein Gegenecho
stieß. Aus verschiedenen Gründen, u.a. dem Mangel einer charismatischen
"Führer"figur (Mégret ist ein harter Ideologe, doch wirkt er wie ein blasser
Technokrat, und mit 1,62 Meter Körpergröße verkörpert er nicht den "starken
Mann" nach dem Geschmack eines autoritären Publikums) ist der MNR heute so
gut wie tot. Im benachbarten Belgien nimmt der Vlaams Blok vorwiegend diese
Position ein, namentlich in seiner Hochburg Antwerpen, wo er auf eine
Stillhaltetaktik gegenüber der starken örtlichen jüdischen Gemeinde setzt.
Dagegen hat ein anderer Teil der extremen
Rechten in den letzten Jahrzehnten verstärkt aus dem Fundus antisemitischer
Verschwörungstheorien geschöpft, an den Jean-Marie Le Pen ab Mitte der 80er
Jahre mehr oder minder offen anknüpfte. Oftmals (aber nicht immer) geht dies
auch mit außenpolitischer Ablehnung Israels einher, so beim offenen
Neonazi-Flügel innerhalb und am Rande des FN. Er wird vor allem durch die -
am 6. August 2002, nach dem Attentat eines jungen Mitglieds auf Präsident
Chirac, verbotene - Gruppierung Unité Radicale verkörpert, die nach ihrem
gesetzlichen Verbot vom vorigen Jahr im März 2003 eine (bisher erheblich
schwächere) Nachfolgeorganisation gegründet hat, den "Bloc identitaire".
Diese, einige hundert Aktivisten zählende, Fraktion ruft mitunter bei
Demonstrationen auch Slogans wie "In Paris wie in Gaza, Intifada".
Anlässlich einer Tagung ihrer Kader im September 2001 wurde etwa großsupurig
verkündet: "Die Palästinenser sind unsere objektiven Verbündeten (gegen die
Israelis). Wir gehen ein Stück Weges mit dem objektiven Verbündeten, und
danach verpassen wir ihm eine Kugel in den Kopf." (4)
Innerhalb des Front National, der
unbestritten führenden Partei auf der extremen Rechten, koexistieren heute
beide Positionen - ähnlich, wie es auch Unterstützer kroatischer (namentlich
auf dem katholisch-fundamentalistischen Flügel des FN) und serbischer
Ultranationalisten (namentlich in den "nationalrevolutionären" Fraktionen)
nebeneinander gibt. Allerdings entwickelte sich zwischen 1985 und 1995 der
damalige Mainstream der extremen Rechten (deren Kader- und
Intellektuellenpotenzial nach der Parteispaltung Le Pen/ Mégret von 1999
abgenommen hat) weg von in den 80er Jahren noch Ton angebenden
pro-amerikanischen und pro-israelischen Positionen, hin zu
völkisch-antiwestlichen.
Das ist auch mit der damaligen persönlichen
Entwicklung von Parteichef Le Pen verknüpft. Dieser war noch im Februar 1987
mit Vertretern des Jewish World Congress zusammengetroffen, unter ihnen
Vertreter der rechten Herut-Partei in Israel (die heute dem weit rechts
stehenden Wahlbündnis "Israel unser Haus" angehört); das Treffen hatte Jack
Torcyner organisiert. (5) Nachdem es
anscheinend zufrieden stellend verlaufen war und beide Seiten sich in
Augenschein genommen hatten, war Jean-Marie Le Pen offensichtlich fest davon
überzeugt, nun mit den "Strippenziehern" einer weltweiten "jüdischen Macht"
am Tisch gesessen zu haben, und sich bei ihnen seinen Frieden erkauft zu
haben. Als seine Auschwitz relativierenden Äußerungen im französischen
Fernsehen (Stichwort: "die Detail-Affäre" vom September 1987) sieben Monate
später in Frankreich für einen politischen Skandal sorgten, da fühlte Le Pen
sich schmählich verraten. Hatte er doch felsenfest geglaubt, nun mit der
jüdischen Weltverschwörung eine Art Stillhalteabkommen geschlossen zu haben.
Besonders in den darauf folgenden Jahren erging Jean-Marie Le Pen sich also
öffentlich in Verschwörungs-Thesen und Kritik an einem "Big brother", der
von der "amerikanischen Ostküste" aus die französische Politik dirigiere und
der auch dafür verantwortlich sei, dass die bürgerliche Rechte seine
Bewegung nicht für bündnisfähig erachte.
Später hat die Parteispaltung die
ideologische, programmatische Arbeit in den Hintergrund treten lassen. Denn
in ihrer Folge kümmerten sich die verschiedenen Fraktionen der extremen
Rechten zunächst vorwiegend darum, sich gegenseitig Schaden zuzufügen, wobei
ideologische Positionen in diesem Sinne instrumentalisiert wurden. Selbst
der scharfe Anti-Einwanderungs-Diskurs (der normalerweise beim FN im
Mittelpunkt steht) wurde dabei vorübergehend relativiert und abgeschwächt,
um der anderen Fraktion - in diesem Fall dem MNR - in der Öffentlichkeit
"Rassismus" vorwerfen zu können. Diese Phase dauerte in ihrer
zugespitztesten Form das gesamte Jahr 1999 über an. Die extreme Rechte hat
sie später überwunden und sich neu strukturiert, doch spielt die
Persönlichkeit von Le Pen heute ein viel zentralere Rolle (bzw. die
langfristige ideologische Arbeit der Kader heute eine geringere Rolle) als
vor der Spaltung. Das Parteileben des FN hat sich vorwiegend auf seine
Wahlkandidaturen konzentriert. Daher ist die Bedeutung ideologischer
Orientierungspunkte heute geringer als noch in den Neunziger Jahren, und
Jean-Marie Le Pen erlaubte sich geradezu eine ideologische Beliebigkeit in
weltpolitischen Fragen. So bezog sich Le Pen in den Tagen vor der
französischen Präsidentschaftswahl im April 2002 zugleich positiv auf Ariel
Sharon (seine eigene Algerien-Erfahrung lehre ihn ja, dass man im Kampf
gegen den Terrorismus eine harte Hand haben müsse) und auf "seinen Freund"
Saddam Hussein (die beiden Männer haben sich im November 1990 und im Mai
1996 getroffen). Auf politische Stimmigkeit kam es dabei nicht so sehr an,
sondern im Grunde vor allem darauf, möglichst alle Ressentiment-Potenziale -
sowohl das gegen Juden als auch jenes gegen arabische Einwanderer -
auszuschöpfen.
Zugleich bestehen an den aktivistischen
Rändern der extremen Rechten Strömungen, die ein klares und
unverwechselbares ideologisches Profil haben, auch in der Frage
"Antisemitismus oder antiarabischer Rassismus zuerst?". Aus beiden
Strömungen heraus gab und gibt es begrenzte Bemühungen, Mitglieder
jeweiliger Communities als Ansprech- oder zumindest als Vorzeige- und
Sparringspartner zu gewinnen. Einerseits gab es in den letzten Jahren eine,
vor kurzem durch die Gerichte unterbundene, Kooperation zwischen den
Webpages französischer Rassisten und französisch-jüdischer sowie
israelischer Rechtsextremisten. Insgesamt umfasst dieses Spektrum rund 30
Websites, die in den meisten Fällen im Laufe des 2003 gerichtlich zum
Abschalten gezwungen wurden. Das bekannteste Beispiel ist die gegenseitige
Verlinkung zwischen den beiden Homepages SOS Racaille ("SOS Gesocks") und
www.amisraelhai.org ("Das Volk Israels lebt"). Beide Internet-Sites
verwiesen aufeinander, auf beiden wurden arabische Menschen als "Ratten",
"Abfälle" und Ähnliches tituliert. Ihrem Treiben wurde jedoch durch die
Justiz ein Ende gesetzt, und der Hauptbetreiber von www.amisraelhai.org
Alexandre Attali stand am 30. September dieses Jahres in Paris vor Gericht,
wo noch an den Toren des Justizpalastes geladene Zeugen durch Extremisten
bedroht wurden. Am folgenden Tag wurde sein flüchtiger Webmaster in
Nordfrankreich verhaftet.
Die Aktivisten dieses Milieus kommen aus zwei
Richtungen. Einerseits aus dem Umfeld (vor allem) der Ligue de Défense Juive
(LDJ, Jüdische Verteidigungs-Liga), dem französischen Ableger der
extremistischen Kach-Bewegung des Rabbi Kahane. Diese ist in den USA sowie
in Israel verboten, vier ihrer Webpages wurden vor wenigen Tagen in den USA
auf die Liste terroristischer Organisationen aufgenommen. Andererseits
stammen sie aber auch aus rechtsextremen französischen Gruppen
(nicht-jüdischer Franzosen), denen es bei dieser begrenzten Kooperation vor
allem darum geht, mit allen erdenklichen Mitteln die Spannungen zwischen
Communities zu verstärken, um dem "globalen Rassenkrieg" den Weg zu ebnen. (6)
Aus ihren Reihen stammt etwa Florian Schekler
(mit richtigem Namen Jean-Florian Trouchaud), der am 24. September dieses
Jahres in Paris zu vier Jahren Haft verurteilt wurde, weil er ein -
vereiteltes - Selbstmordattentat auf die Pariser Zentralmoschee im 5.
Arrondissement geplant hatte. Er war im Februar dieses Jahres rechtzeitig
verhaftet worden.
Umgekehrt bemühten sich vor allem im Herbst
2000, kurz nach Beginn der zweiten Intifada, französische Neonazis und
Rechtsextremisten darum, mit jungen arabischstämmigen Einwandererkindern in
den Banlieues in¹s Gespräch zu kommen. Laut einem Polizeibericht, der im
November 2000 durch das Wochenmagazin "Le Point" zitiert wurde, gediehen die
Bemühungen aber in der Praxis nicht sehr weit.
Neben den militanten, aktivistischen Flügeln
innerhalb verfügt auch der "parlamentarische Arm", der "respektable" Teil
der rechtsextremen Großpartei, sowohl über seine Alibi-Juden als auch
daneben über seine "Arabes de service". Zu ersteren zählt etwa der (aus
Altersgründen nicht mehr aktive) Robert Hemmerdinger, der in den Neunziger
Jahren im Regionalparlament des Großraums Paris saß und sogar ehemaliger
Résistance-Teilnehmer war; er ist mittlerweile aus Altersgründen nicht mehr
aktiv, nachdem er 1992/94 eine gewisse Rolle bei der Aufdeckung von
Korruptionsskandalen der Parteigänger Jacques Chiracs gespielt hatte. Zu
zweiteren gehört der derzeitige Pariser Regionalparlamentarier Farid Smahi.
Die Hauptgründe für die Betätigung dieser Personen auf der extremen Rechten
liegen in beiden Fälle in einer Vorgeschichte in Gestalt des Algerienkriegs
begründet.
Dieser Krieg (1954 - 62) brachte eine Reihe
ehemaliger Résistance-Angehöriger, im Namen der Verteidigung der Republik
und ihres Kolonialreichs, im Rahmen neuer politischer Konstellationen an die
Seite von Rechten und extremen Rechten. Zugleich brachte der Algerienkrieg
eine Hilfsarmee von pro-französischen Kolonialsubjekten hervor, die damals
auf Seiten der "Metropole" (des kolonialen "Mutterlands") gegen die
algerische Unabhängigkeitsbewegung kämpften: Die "Harkis". Die Motivationen
dieser Harkis waren unterschiedlicher Natur: Manche kämpften aus
persönlicher Vorteilsuche als Hilfstruppe für die französische Armee (als
eine Art Kollaborateure im klassischen Sinne). In anderen Fällen dagegen
sind die Ursachen in den inneren Brüchen der traditionellen algerischen
Gesellschaft selbst zu suchen, welche die Kolonialmacht sich zunutze machen
konnte. Bspw. in Phänomenen von (lang zurückreichender) Rache zwischen
verschiedenen algerischen Familien, die etwa einen Teil eines Dorfs auf die
Seite der französischen Armee brachte, weil andere Teile des Dorfes am Kampf
für die Unabhängigkeit teilnahmen. Ein Teil dieser "Harkis" ließ sich
Verbrechen wie etwa die Teilnahme an Folterungen und persönliche
Vorteilnahme bei Plünderungen zuschulden kommen, andere sind im Endeffekt
eher als Opfer des Konflikts zu betrachten. Ein Teil der nach 1962 in
Algerien verbliebenen Harkis wurden bei Racheakten getötet oder massakriert,
während andere an anderen Orten unbehelligt blieben. Die in größerer Zahl
nach Frankreich geflüchteten Harkis wiesen später oft
Eingliederungsschwierigkeiten in die französische Gesellschaft auf. Vor
diesem Hintergrund, verbunden mit einer Art Minderwertigkeitskomplex
gegenüber der französischen Gesellschaft (und dem Willen zu einem
unbedingten, extremen Loyalitäts- oder französischen Identitätsbeweis),
wurden einige Harkis beim Front National aktiv. Manche von ihnen auch an
führender Stelle. Sie sollten Jean-Marie Le Pen als öffentlichen Nachweis
demokratischer Reinheit dienen: Wie könne man seine Partei denn als
rassistisch oder faschistisch bezeichnen, wo doch "Araber und Juden bei ihr
Mitglied" seien - ein klassisches Alibi-Argument.
Anmerkungen:
(1) Einleitung zu in "La droite
révolutionnaire. Les origines françaises du fascisme", Paris, Editions du
Seuil, 1978.
(2) Die deutsche Übersetzung mit "Volksfront" ist mehr als nur ungenau, da
die französische Bezeichnung populaire wenig mit dem deutschen "Volks-" oder
"volkstümlich"-Begriff gemeinsam hat. Er bezeichnet eine, wenngleich
vergröberte, soziale Kategorie in etwa die "Unterschichten".
(3) Gilles Bresson und Christian Lionet: "Le Pen. Biographie." Paris, Seuil,
1994. Vgl. besonders S. 148, 156/157, 280.
(4) Zitiert nach "Le Monde" vom 17. 07. 2002.
(5) Vgl. Lothar Baier: "Firma Frankreich", Berlin 1988, S. 71.
Übereinstimmende Angaben machte der ehemalige Kommunikations-Beauftragte von
Jean-Marie Le Pen, der 1994 aus dem FN ausgetreten war, Lorrain de
Saint-Affrique, im Interview mit dem Verfasser dieser Zeilen (am 19. März
1997 in Paris).
(6) Bezeichnend bzw. erhellend ist dabei, dass im deutschsprachige Raum
gerade "antideutsche" Sekten, die sich aus ehemaligen Linken rekrutieren,
dieses Bündnis affirmieren und, wenngleich mit einigen rhetorischen
Vorbehalten, unterstützen. So jüngst Justus Wertmüller in der wichtigsten
Sektenzeitschrift dieses Milieus, "Bahamas", Nummer 42 ("Französische
Zustände. Antirassisten machen mobilŠ"). Dort streitet er zunächst die
Existenz solcher Kontakte ab, um sie dann im weiteren Verlauf des Artikels
aber (mit ein paar Abstrichen) zu affirmieren. So attestiert er dem Neo-
bzw. Altfaschisten Jean-Marie Le Pen, zwar wohl rassistische Äußerungen
abzugeben, aber auch "vernünftige Einwände gegen die ungebremste
Islamisierung". Ferner konstatiert er, Le Pen vertrete eigentlich richtige
"Kritik" gegen eine "irre gewordene Gesellschaft", wenngleich sie auf
"widerwärtigem Niveau" bleibe (denn um ein gutes Niveau zu erreichen, muss
man schon Wertmüllers Gruppierung beitreten). Ferner begeistert sich
Wertmüller förmlich für die Gewalttaten der LDJ. Das muss nicht verwundern,
denn für diese sehr deutschen "Antideutschen" bildet die Berufung auf den
von ihnen angeblich geführten Kampf gegen Antisemitismus oftmals nur die
ideologische Legitimation für ihre lebensgeschichtliche Abrechnung mit der
Linken, und für die ungehemmte Übernahme mitunter rassistischer Thesen. So
wird das Buch eines Autors aus Wertmüllers Blättchen, Karl Selent u.a. mit
folgendem Werbetext angekündigt: "Den Kosovo-Palästinensern dagegen würde er
gerne mal Arkan den Tiger zeigen." (ça ira-Verlag Freiburg) Besagter Arkan
war der Anführer paramilitärischer Banden in Serbien, an der Schnittstelle
zwischen politischer Gewalt und Organisierter Kriminalität, der im Jahr 2000
von Konkurrenten aus dem Weg geräumt wurde, nach Jahren des Raubens und des
Mordens. Den in Israel lebenden Menschen wird durch solche rechtsradikalen
Gewaltfantasien deutscher, vorgeblicher Philosemiten mit Sicherheit kein
Gefallen erwiesen.
hagalil.com
19-11-2002
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