„Der Angriff auf die Juden endet nicht mit den
Juden!“
Dr. Shimon T. Samuels über den
Antisemitismus in Europa, Solidarität mit Israel und die antisemitischen
Angriffe auf der Weltkonferenz zu Rassismus in Durban
Vom 10. bis zum 12. Mai 2002
wurde auf der Konferenz „Es geht um Israel“, veranstaltet vom Berliner
Bündnis gegen IG Farben, über den steigenden Antisemitismus und die
Notwendigkeit der Unterstützung Israels diskutiert. Besonders die Linke
wurde für ihren Antizionismus und Antisemitismus scharf kritisiert, genauso
wie die Rolle Europas auf der Seite der Palästinenser und die deutsche Rolle
in der EU.
Dr. Shimon T. Samuels ist Direktor der europäischen Sektion des
Simon-Wiesenthal-Centers in Paris. Der Simon Wiesenthal Center arbeitet
weltweit gegen Antisemitismus und Rassismus. Auf der Konferenz in Berlin hat
Shimon Samuels ausführlich über die antisemitische Stimmung in Frankreich
und auf der UN Konferenz gegen Rassismus in Durban berichtet. In seinem
Redebeitrag auf der Demonstration für Israel am 12. Mai 2002 vor dem
Außenministerium in Berlin, hat er die EU ausdrücklich aufgefordert keine
europäische Intifada durch die Aufnahme der 13 Mörder von Bethlehem zu
provozieren.
In unserem Interview spricht er über die Notwendigkeit der Solidarität mit
Israel, den Antisemitismus und die gegenwärtige Situation in Europa und
Israel.
Wie gestaltet sich die Arbeit
des Simon-Wiesenthal Centers, besonders im Hinblick auf Israel und die
Organisation von Solidaritätsaktionen mit Israel?
Das Simon-Wiesenthal-Center ist
mit 440.000 Mitglieder die größte jüdische Menschenrechtsorganisation. Heute
machen wir das, worum Simon Wiesenthal gebeten hat. Unsere Arbeit ist modern
und zeitbezogen, universell und aktionistisch und sie bezieht die Tatsache
mit ein, dass der Kampf gegen Antisemitismus ein Kampf für das jüdische
Überleben überall auf der Welt und natürlich auch in Israel ist. Darum bin
ich auch besonders beeindruckt und fühle mich sehr geehrt, dass ich an der
Konferenz „Es geht um Israel“ und an der heutigen Demonstration teilnehmen
konnte. Hier stehen junge Menschen zusammen mit vielen Organisationen und
tragen unter anderem auch das Transparent des Simon-Wiesenthal Centers. Zu
sehen, dass es auf der Linken noch immer Menschen gibt, die sich mit Israel
solidarisch verbunden fühlen und gegen Antisemitismus vorgehen, ist sehr
ermutigend und ich hoffe, dass immer mehr von denen, die vielleicht noch zu
ängstlich sind, um herzukommen, ebenfalls durch dieses Treffen und die
Konferenz ermutigt werden, sich uns anzuschließen.
Wie schätzen sie die
gegenwärtige Situation in Europa ein, besonders natürlich die verschiedenen
Standpunkte der europäischen Regierungen, aber auch die Stimmung in der
Bevölkerung?
Wenn man sich die Länder
anschaut, in denen eine große jüdische Gemeinschaft lebt, wie z.B.
Frankreich oder Großbritannien, und dann auf die Länder schaut, in denen
viele Muslime leben, wie ebenfalls in Frankreich oder in Belgien, dann
erkennt man eine neue anti-jüdische Gewalt, die direkt von der Situation im
Nahen Osten beeinflusst ist. Unglücklicherweise sind seit Beginn der
Intifada die antisemitischen Übergriffe sehr gestiegen.
Am Beispiel von Deutschland, wo
es eine viel kleinere jüdische Gemeinde gibt, sieht man, dass jede
Verteidigung Israels, jeder Einsatz gegen Antisemitismus von Nicht-Juden
ausgehen muss, von Menschen, die sich im Klaren über die Verantwortung
Deutschlands für seine Vergangenheit sind. Diese Erinnerung an die
Vergangenheit ist ein Instrument, um heute Rassismus und Antisemitismus zu
bekämpfen.
Ich denke, es ist wichtig, dass
die deutsche Regierung eine Haltung einnimmt, die nicht der Haltung der EU
entspricht. Besonders weil Deutschland viel Einfluss in der EU hat, kann es
ein moralisches Beispiel abgeben. Wir waren sehr enttäuscht, als Deutschland
bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen die Enthaltung von Europa
bekräftigt hat, anstatt gegen die Resolution zu stimmen, die Israel genau in
dem Moment verurteilte, als es zu einem neuen schrecklichen
Selbstmordanschlag gegen die israelische Bevölkerung kam.
Wir haben den deutschen
Außenminister Joseph Fischer gebeten, beim Treffen der Außenminister der EU,
auf dem die Ausreise der 13 Serienkiller und Mörder von Bethlehem in
europäische Länder und ihre Freilassung beraten werden soll, diese
Freilassung nicht zu akzeptieren. Sie sollten von keinem zivilisierten Land
akzeptiert werden. Wenn Europa die Terroristen aufnimmt, wäre dies eine
Aufforderung zu neuer antijüdischer Gewalt und Intoleranz und zu einer
europäischen Intifada. Wir glauben, dass sie entweder in ein unzivilisiertes
Land wie Syrien, den Iran oder den Irak gebracht werden, oder nach Israel
zurückgeschickt werden sollten, um dort vor Gericht gestellt zu werden, weil
die Entscheidung, durch die sie überhaupt entkommen konnten, auf ihrem
vorherigen Missbrauch der religiösen Zuflucht in der Geburtskirche in
Bethlehem basierte.
Diese Frage verweist auch noch
einmal auf die UN-Konferenz gegen Rassismus in Durban. Dort wurde Israel als
rassistischer Staat beschimpft. Heute gibt es viele, die einwenden, die 13
Palästinenser müssten vor der rassistischen Politik in Israel beschützt
werden. Sie waren in Durban. Können sie uns etwas über ihre Eindrücke
berichten und erklären, warum die Konferenz in Durban für das Verständnis
der gegenwärtigen Situation Israels so wichtig ist?
Wir waren die einzige jüdische
Organisation, die zum internationalen Lenkungsausschuss der Konferenz in
Durban eingeladen wurde. In der Folge war ich mit einen so direkten
Antisemitismus konfrontiert, wie er mir in den dreißig Jahren meiner
professionellen Arbeit gegen Rassismus noch nie begegnet ist. Ich wurde
ausgeschlossen, ich wurde zum Schweigen gebracht, die Informationen wurden
zurückgehalten, ich wurde körperlich angegriffen und schließlich wurde ich
gezwungen, das Treffen zu verlassen. Und mehr als das hat das Geschehen in
Durban die Lüge gezeigt, die hinter der Aussage steckt, Antizionismus sei
etwas anderes als Antisemitismus. Als die Demonstration gegen Rassismus
nicht am Rathaus von Durban stoppte, sondern an einem Freitag Abend,
bis zur Synagoge weitergeführt wurde, wo dann von Demonstranten die
„Protokolle der Weisen von Zion“ verteilt wurden und Plakate zu sehen waren,
auf denen Hitler gezeigt wurde, der sagt: „Wenn ich gewonnen hätte, gäbe es
heute kein Israel und kein palästinensisches Problem!“, war das schierer,
purer Antisemitismus. So ist der Antizionismus in dieser Nacht vor der
Synagoge von Durban gestorben.
Aber Durban ist nicht vorbei. Es
wird noch Durban fünf und Durban zehn geben. 2006 soll der erste Teil des
Realisierungsprogramms von Durban beendet sein. Dieses Programm hat die
Zerstörung des jüdischen Staates zum Ziel auf Grundlage einer
Solidaritätskampagne gegen Israel als letzte Bastion der Apartheid. Wenn
Israel ein Apartheidsregime ist – Apartheid ist gerade in Südafrika ein sehr
wichtiges Wort und eigentlich auch in der gesamten Dritten Welt – dann wird
die Auseinandersetzung auf der Ebene der 60er, 70er und 80er Jahre geführt,
wie damals gegen Südafrika. Das war ein cleverer Schachzug der
Palästinenser. Israel wird so zum grundbösen Staat, zum Vergifter der Welt –
so wie die Juden schon im Mittelalter gesehen wurden – und zum Feind der
gesamten Menschheit.
Zweitens sollen Israelis im
Ausland festgenommen werden können, die z.B. in der Reserve der IDF gedient
haben, um sie wegen Kriegsverbrechen anzuklagen und vor Gericht zu stellen,
so wie gerade in Belgien.
Die Palästinenser forcieren einen
Handelsboykott gegen Israel und einen Sport-Boykott. Das hat bereits
begonnen. Wir müssen sehr wachsam sein, damit es nicht zu einer totalen
Isolation Israels und dem Abbruch von diplomatischen Beziehungen mit Israel
kommt.
Wir glauben nicht, dass Israel
über dem Gesetz steht. Israel muss selbstverständlich auch die
Menschenrechtsprogramme anerkennen. Aber Israel darf nicht der einzige Staat
sein, der für Angriffe ausgesondert wird, während die „Musterländer der
Menschenrechte“ wie Syrien, Algerien, Sudan, Saudi Arabien, Iran und Irak in
den Menschenrechtskommissionen vollkommen frei und ungestraft für ihr
eigenes Handeln sitzen und lediglich Israel kritisiert wird. Das ist nicht
gerecht und muss deutlich so gesehen werden.
Ich denke es ist wichtig, dass
die Linke versteht, dass die aufgeklärte Linke versteht, dass dies eine
Kampagne ist, die sich nur gegen einen einzigen Staat richtet, eine
Kampagne, die zum Ziel hat, die jüdische Souveränität zu schwächen und zu
zerstören. Nur den Juden wird abgesprochen, ihre nationale
Befreiungsbewegung zu haben, ihre eigene Souveränität. Das ist klarer
Antisemitismus, ein Wideraufleben der Sprache, der Sturkturen und der
Verhaltensweisen des Holocaust.
Denken sie, dass heute die
Menschenrechte zu einem Instrument geworden sind, Israel anzugreifen, z.B.
jetzt in Dschenin?
Selbstverständlich. Wenn man sich
die Karikatur in der Le Monde anschaut, auf der das Warschauer Ghetto mit
Dschenin verglichen wird, das ist ein absolut unzulässiger Vergleich. Aber
die Verwendung der Sprache des Holocaust, um heute Israel zu beschreiben,
ermöglicht es den Europäern, die mit den Nazis kollaboriert haben, ihre
eigenen Gefühle, ihr schlechtes Gewissen und ihre schlechten Erinnerungen,
wegzuschieben, indem sie sagen: „Nun, wenn Israel sich wie die Nazis verhält
und die Palästinenser die neuen jüdischen Opfer sind, dann waren wir in
Europa ja gar nicht so schlimm.“ Das ist eine psychologische Projektion der
eigenen Schuld. Das ist ziemlich gefährlich, weil man sich damit auf sehr
glattes Eis begibt. Die Medien schaffen ein Klima, das Verbrechen aus Hass
ermöglicht. Rabbi Abraham Joshua Herschel hat einmal gesagt, dass Auschwitz
nicht mit Brettern und Steinen gebaut wurde, sondern mit Worten. Worte
können töten. Es entsteht ein Klima und das ermöglicht das gegenwärtige
Ansteigen des Antisemitismus in Westeuropa.
In Deutschland wird heute
offensiv eine Entschädigung für vertriebene Sudetendeutsche gefordert.
Implizit steht das Potsdamer Abkommen, dass die Neuregelung Europas nach
Ende des Nationalsozialismus zum Inhalt hatte, zur Disposition.
Sudetendeutsche treffen sich heute auch mit Palästinensern und entdecken
gemeinsame Fluchterfahrungen. Was denken sie darüber?
Ich denke, das ist eine Form des
Revisionismus, die Relativierung des Verhältnisses von Tätern und Opfern.
Was den Sudetendeutschen und den Flüchtlingen aus Ostpreussen geschehen ist,
ist dem sehr ähnlich, was in anderen Flüchtlingsbewegungen überall in Europa
geschehen ist. Außenminister Joseph Fischer hat dem Wiesenthal Center vor
einiger Zeit mitgeteilt, dass er die Israelische Haltung gegenüber der
palästinensischen Forderung nach einem Rückkehrrecht versteht und
unterstützt, weil dieses Rückkehrrecht den Staat Israel zerstören würde. Es
sagte, dass wenn dieses Prinzip in Europa nach Ende des Zweiten Weltkrieges
allgemeine Geltung finden würde, das zu einem allgemeinen Chaos führen
würde. Es würde eine Situation entstehen, in der nicht nur deutsche Sprecher
von Vertriebenenverbänden, die Polen oder Tschechien verlassen mussten,
diese Forderung stellen, sondern auch in anderen Ländern, die der EU
beitreten oder in naher Zukunft beitreten werden, Bewegungen entstehen, die
sich absondern wollen, z.B. wenn Ungarn in Transsilvanien auf eine Rückkehr
nach Ungarn pochen. Das nähme kein Ende. Die Grenzen in Europa sollten
endlich als feststehend anerkannt werden und die verschiedenen Gruppen
sollten innerhalb einer europäischen Einheit unabhängig sein ohne die
Notwendigkeit, dass ehemalige Flüchtlinge zurückkehren.
Die meisten Länder haben ihre
Flüchtlingsprobleme seit Ende des Krieges längst gelöst. Die Griechen und
die Türken haben einen Austausch vorgenommen. Indien und Pakistan haben die
Flüchtlinge aus ihrem Krieg von 1948 integriert. Die Juden, die aus den
arabischen Ländern nach Israel geflohen sind, ungefähr 900.000, sind
ebenfalls in Israel erfolgreich integriert worden. Nur die arabischen
Staaten beuten noch immer die palästinensischen Flüchtlinge, die von UN
Geldern der Mitgliedsstaaten unterstützt werden, aus. Sie belassen sie in
armen Verhältnissen und unter schlechten Bedingungen um das Gift zu
erhalten, dass sich dann gegen Israel richtet.
Ich denke, dass das
palästinensische Flüchtlingsproblem auf jeden Fall gelöst werden muss. Es
muss durch eine gerechte finanzielle Entschädigung gelöst werden, vielleicht
durch eine Verteilung der Flüchtlinge in den arabischen Ländern und unter
Berücksichtigung eines Ausgleichs zwischen den 900.000 Juden, die aus den
arabischen Ländern fliehen mussten, und den Palästinensern, die bis heute
noch nicht Teil der palästinensischen Autonomiebehörde sind.
Aber man muss sehen, dass die
meisten palästinensischen Flüchtlinge in den Autonomiegebieten leben. Die,
die in Israel geblieben sind, sind israelische Staatsbürger. Es sind
diejenigen, die im Libanon oder in Syrien leben, ungefähr 400.000, deren
Probleme schnell gelöst werden müssen. Denjenigen, die in den
Autonomiegebieten leben, kann finanziell geholfen werden auf der Basis von
Gerechtigkeit und Menschlichkeit.
Glauben sie, dass ein
friedlicher Ausgleich zwischen Palästinensern und Israel mit der
gegenwärtigen palästinensischen Führung zu erreichen ist?
Ich habe viele Freunde, die in
den palästinensischen Gebieten leben. Sie sind Palästinenser, die Hebräisch
gelernt haben, als ich Arabisch gelernt habe. Ich habe mit ihnen zusammen
gelebt und weiß, dass sie Opfer sind, ich weiß, dass sie leiden. Ich
bedauere sehr ihre Lage. Und ich bedauere, dass sie eine Führung haben, die
sie zu Opfern macht, durch die Korruption in der Autonomiebehörde, den
Diebstahl durch die Führungselite und die Tatsache, dass diese Führung kein
besonders großes Interesse an der Staatsgründung hat.
Ich denke, dass wir nicht in der
Lage sind, zwischen den Zeilen zu lesen. Ich war bei einem Essen zwischen
Palästinensern und ein sehr wichtiger palästinensischer Bauherr hat dort den
palästinensischen Minister für öffentliche Angelegenheiten scharf
angegriffen und gesagt: „Ihr wollt keinen Staat, weil ihr dann unter die
Kontrolle des internationalen Fiskus kommt. Es ist viel leichter den Status
Quo beizubehalten, damit ihr weiter Geld auf eure Privatkonten in die
Schweiz transferieren könnt.“ Ich glaube nicht, dass das der einzige Grund
ist, aber es ist ein Ausdruck der Frustration in den palästinensischen
Gebieten. Das Problem muss gelöst werden, aber es kann nicht durch die
Zerstörung Israels gelöst werden.
Was können wir heute gegen die
Angriffe auf Israel und den steigenden Antisemitismus in Europa tun? Glauben
sie, es wäre möglich ein internationales europäisches Netzwerk für die
Solidarität mit Israel zu schaffen?
Was das Berliner Bündnis gegen IG
Farben hier gemacht hat, dieses Bündnis aus Gruppen und Organisationen zu
schaffen, sollte ein Modell für die Linke in ganz Europa sein. Keine Frage.
Ich denke es gibt solche Leute wie ihr es seid in allen 15 Mitgliedsstaaten
der EU und sie sollten zusammenkommen und sie sollten im nächsten Monat
versuchen zehn Freunde mit ihren Argumenten davon zu überzeugen, wie
notwendig die Unterstützung Israels heute ist. Dann werden die 300, die
jetzt hier sind demnächst 3000 sein. Und das wird weiter ansteigen.
Vielleicht werden wir es dann schaffen können, ebenso viele zu sein, wie
die, die immer noch die Wahrheit verschleiern und damit die Terroristen
unterstützen. Wir können eine solche terroristische Internationale nicht
akzeptieren, die über Israel, die USA und schließlich die westlichen
Grundsätze angreift. Der Angriff auf die Juden endet nicht mit den Juden. Es
endet mit dem Angriff auf die Menschheit. Der Angriff auf die Juden ist nur
ein taktischer. Strategisch geht es um die Zerstörung demokratischer
Grundsätze und der Toleranz, die es in unseren Gesellschaften gibt. Durch
die Saat des Vorurteils werden Menschen gegen Menschen in Stellung gebracht.
Es beginnt mit den Juden, aber es endet nicht mit den Juden.
Vielen Dank für das Gespräch
Herr Dr. Samuels.
Interview: Tobias Ebbrecht und
Johanna Mueller
Kontakt:
t.ebbrecht@vis-a-vis-filmkombinat.de
http://hagalil.com/austria/wiesenthal
hagalil.com
18-04-2002
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