Das Krebsgeschwür des Antisemitismus in Europa
Von Jeff Jacoby,
The Boston Globe,
14.03.2004 Schon länger
wollte ich über das Wiederaufleben des Antisemitismus in Europa
schreiben, ein Thema, dem ich mich zuletzt in einer Kolumne im April
2002 gewidmet habe. Juden, schrieb ich damals, "sind der
Kanarienvogel in den Kohleminen der Zivilisation. Wenn Sie das Ziel
von Barbareien und Hass werden, dann bedeutet das, dass die Luft
vergiftet wurde und bald eine Explosion erfolgen wird."
Damals ärgerte sich ein großer Teil des offiziellen Europas über die
Aufmerksamkeit, die der Rückkehr des antisemitischen Hasses auf dem
Kontinent geschenkt wurde, auf dem sechs Millionen Juden zwischen
1938 und 1945 ermordet wurden. "Hören sie auf zu sagen, dass es in
Frankreich Antisemitismus gibt," wies der französische Präsident
Jacques Chirac einen jüdischen Herausgeber zurecht, "es gibt keinen
Antisemitismus in Frankreich."
Das offizielle Europa nimmt die Angriffe auf Juden, die meist
das Werk muslimischer Immigranten aus dem Nahen Osten sind, heute
etwas ernster. Bei einer Konferenz in Brüssel letzten Monat räumte
Romano Prodi, der Präsident der Europäischen Kommission, ein, dass
es heute "Überreste des historischen Antisemitismus" in Europa gäbe.
"Ein Angriff auf einen Juden ist gleichsam ein Angriff auf die
französische Republik," sagte der französische Premierminister
Jean-Pierre Raffarin. Chirac versicherte dem Präsidenten Israels
während eines Staatsbesuches, dass er bei der Ausrottung des
Antisemitismus "kompromisslos" sein werde.
Und doch verbreitet sich der Hass.
An der Universität Genf wurde eine jüdische Forscherin, die
einen kleinen Davidstern um den Hals trug, im Aufzug des Campus von
arabischen Studenten angegriffen. Als sie den Vorfall meldete, wurde
sie angewiesen das Halskettchen nicht in der Öffentlichkeit zu
tragen.
In Hasselt, Belgien, schwenkten muslimische Fans bei einem
Fußballspiel zwischen der israelischen und belgischen
Nationalmannschaft Hamas- und Hisbollah-Fahnen, und sangen: "Juden
in die Gaskammern!" und "Erwürgt die Juden!"
Die britische Political Cartoon Society verlieh den ersten Preis
ihres jährlichen Wettbewerbs einem Cartoon, das einen gigantischen,
nackten Ariel Sharon zeigte, der den Kopf eines arabischen Babys
abbeißt. "Was ist los," sagt die Bildunterschrift, "haben Sie noch
einen Politiker gesehen, der ein Baby küsst?"
In Deutschland sind unzählige jüdische Gräber und
Holocaust-Gedenkstätten geschändet worden. Auf dem Friedhof von
Beeskow zum Beispiel, wurde "Heil Hitler" und "Scheiße auf die
Sechsmillionenlüge" auf die Grabsteine geschmiert. In
Langenstein-Zwieberge, einem Zweiglager des berüchtigten
Konzentrationslagers Buchenwald, pflasterten Vandalen die Wände mit
Kopien antisemitischer Zeitungen aus dem 'Dritten Reich' voll.
Nach einer
Umfrage der
Europäischen Union im letzten Herbst sehen 59 Prozent der
EU-Bürger Israel als die größte Gefahr für den Weltfrieden – noch
vor dem Iran, Irak und Nordkorea. Im Dezember konnten Millionen
Europäer mit TV-Sattelitenempfang
"Al Shatat"
sehen, einen syrischen Film, der Juden als Blut trinkende Monster
darstellt, die sich verschwören, um die Weltherrschaft zu erlangen.
In einer führenden griechische Zeitung schrieb ein
Journalist, dass die Juden "die Verfolgungen der Nazis
gerechtfertigt haben ... Sie verdienten einen solchen Hinrichter
[wie Hitler], denn sie stellten sich selbst als Mörder heraus." Bei
einem öffentlichen Empfang, der die Publikation seiner Memoiren
ehrte, verleumdete
Mikis
Theodorakis, der Komponist von "Zorbas dem Griechen", die
Juden. "Dieses kleine Volk ist die Wurzel des Bösen," adressierte er
ein Publikum, in dem auch zwei Mitglieder des Kabinetts saßen –
keiner der beiden reagierte auf diese antisemitischen Ausbrüche.
Am augenscheinlichsten war der
Hass in
Frankreich. Es gab so viele Angriffe auf Juden in der
letzten Zeit, dass der Oberrabbiner religiöse Jungen und Männer dazu
angehalten hat, Baseballmützen anstelle von Kippot außerhalb ihrer
Häuser zu tragen. Im November wurde ein neugebauter Flügel der
Merkaz Hatorah – Schule durch Brandstiftung ein Raub der Flammen.
Letzte Woche beschrieben sechs französische Wissenschaftler in einem
Zeitungsartikel mit dem Titel "Jüdische Kinder sind in Gefahr"
aktuelle Episoden antisemitischer Gewalt in Pariser Schulen. In
einer dieser Episoden wurde ein Mädchen zu Boden geworfen und von 20
Schülern geschlagen, die "dreckiger Jude, dreckiger Jude" riefen.
Bis zum späten Freitagnachmittag, etwa 36 Stunden nach dem massiven
Bombenattentat, das Madrids Nahverkehrsnetzwerk zerriss, erreichte
die Zahl der Opfer 199 Tote. Weitere 1500 Opfer wurden verletzt,
viele davon schwer. Die arabische Zeitung Al-Quds al-Arabi
berichtet, dass sie ein Bekennerschreiben, ausgestellt angeblich im
Namen von Al Kaida, erhalten hat. Das Schreiben beschreibt das
Attentat als "Teil der Begleichung einer alten Rechnung mit Spanien,
dem Kreuzfahrer, und Amerikas Verbündetem bei seinem Krieg gegen den
Islam." Die spanische Polizei hat einen Lieferwagen mit sieben
Zündern und einem arabischen Band mit Versen des Koran gefunden.
Ob dieses Massaker, wie die in Istanbul und Bali und die im
Pentagon und World Trade Center, das Werk radikaler Islamisten war,
wird die Welt früh genug erfahren. Was die Welt bereits wissen
sollte, aber so oft vergisst, ist, dass die Juden der Kanarienvogel
in den Kohleminen der Zivilisation sind. Antisemitismus ist wie ein
Krebsgeschwür; unkontrolliert kann es Metastasen ausbilden und den
ganzen Körper krank machen. Wenn die zivilisierten Nationen es
versäumen, gegen die Judenhasser in ihrer Mitte aufzustehen, ist es
oft nur eine Frage der Zeit, bis die Judenhasser in ihrer Mitte
gegen sie aufstehen. ©
Copyright 2004 Globe Newspaper Company
Übersetzung aus dem Englischen:
Thorsten Schmermund
hagalil.com
19-03-2004
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