Rede des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul
Spiegel, anlässlich der Öffentlichen Jahreshauptversammlung des
Verbandes Deutscher Bahnhofsbuchhändler e. V.
Journalismus und Demokratie:
"Die moralische Verantwortung der Presse"
In den vergangenen Wochen haben wir uns einen
neuen Begriff einprägen müssen: "embedded journalists", was man auf
Deutsch wohl ungefähr mit "eingebetteten Journalisten" übersetzen
kann. Sie wissen schon, die Rede ist von jenen Journalisten, die
zusammen mit der amerikanischen Armee an vorderster Front im Irak
mitfahren, um live und unmittelbar von den Kämpfen zu berichten, die
sich die alliierten Streitkräfte mit den Soldaten Saddam Husseins
liefern.
Ein ungewöhnlicher Vorgang, den wir so noch aus
keinem Krieg kennen: Wir, die Fernsehzuschauer, sind unmittelbar
Zeugen der Kämpfe, die sich die Kriegsgegner liefern, wir sind
direkt und live dabei, und sehen die Ereignisse aus der Perspektive
der westlichen Streitkräfte. Dies alles ist ein Tribut an die
heutige Mediengesellschaft und die darin enthaltene Gier nach immer
schnelleren aktuellen Informationen. Abgesehen davon, dass mancher
Fernsehzuschauer durch diese "embedded journalists" den ultimativen
Adrenalin-Kick am Feierabend erwartet, abgesehen davon, dass es
geradezu unheimlich ist, daheim, vom gemütlichen Sofa aus dem
Sterben von Menschen unmittelbar zuzusehen, ist der Informationswert
dieser neuen Form der Kriegsberichterstattung sehr gering, wenn
nicht gleich Null – was in den vergangenen Wochen von den Medien
selbst immer wieder betont wurde.
Erinnern wir uns an den Golfkrieg 1991 – damals war der Krieg
sauber, klinisch, geradezu distanziert. Die Journalisten konnten
nicht aus dem Irak berichten, sie mussten mit den Informationen
leben, die ihnen die täglichen "Briefings" der US-Truppen sparsam
und sehr ausgewählt anboten. Und wir alle wussten, dass wir nur
einen Blickwinkel der Ereignisse kennen. Heute scheint auf den
ersten Blick alles anders: Wir werden mit einer Flut von Bildern
überschüttet und sind vermeintlich dabei. Doch inzwischen ist jedem
von uns klar, dass wir keinen Deut besser informiert sind als 1991.
Und wenn wir einen Blick in die drei wichtigsten arabischen
TV-Sender werfen, wenn wir also Al-Jasira oder Al-Arabia oder
Abu-Dabi-TV sehen, dann werden uns in diesen Sendern eben ganz
andere Bilder geliefert als in CNN oder BBC. Und wenn wir ehrlich
sind, dann denken die meisten von uns: Ja, wenn wir ein wenig
arabisches und ein wenig amerikanisches Fernsehen gucken, dann haben
wir ein nahezu objektives Bild des Krieges. Das haben wir sicherlich
nur zum Teil. Denn die Propaganda steht auf beiden Seiten im
Vordergrund. Und beide Seiten, natürlich auch die arabische, zeigen
uns nur das, was sie wollen, dass wir sehen.
Es gilt also wieder einmal: Wir wissen, dass wir nichts wissen. Und
wahrscheinlich wird es auch nach diesem Krieg so bleiben – dass wir
letztendlich auch später nie wirklich erfahren werden, was sich auf
dem Schlachtfeld, "on the ground", wie das auf Englisch heißt,
wirklich abgespielt hat. Beide Seiten werden ein massives Interesse
haben, die Niederlagen und Grausamkeiten des Krieges zu verschweigen
und vermeintliche oder echte Erfolge hervorzuheben. Dürfen wir über
diese Art der Kriegsberichterstattung überrascht sein? Die Antwort
ist ein klares Nein! Spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg wissen
wir, was Propaganda ist, welch wichtige Funktion die Medien in
Zeiten des Krieges haben, dass der Krieg eben auch ein Medienkrieg
ist. Die Älteren unter uns werden sich gewiss noch an die
Propagandamaschinerie des Joseph Goebbels erinnern, der seinen
Auftrag im Dienste des "Führers" in einzigartiger Weise erfüllte.
Und die Älteren werden sich vielleicht auch noch erinnern, welch
wichtige Funktion der Hörfunksender der BBC für jene im "Reich"
hatte, die es wagten, ihm heimlich zu lauschen: BBC – das war nicht
nur die "Wahrheit" über den Krieg, sondern es war auch die Stimme
der Hoffnung in einer dunklen Zeit. Und die wenigsten damals machten
sich Gedanken, dass vielleicht auch dieser Sender seine eigenen
Interessen beziehungsweise die seines Landes vertreten könnte. Dass
er zwar der Sender eines demokratischen, freiheitlichen Systems war,
aber eben doch auch ein bestimmtes Ziel verfolgte – die
Demoralisierung des Feindes, von dem man wusste, dass er zuhört.
Krieg, Propaganda und Medien sind längst ein Thema für zahlreiche
Dissertationen geworden, und ich denke, ich muss die Verstrickung
von Journalismus und Politik diesbezüglich nicht weiter ausführen.
In diesen Wochen müssen wir leider auch erleben, wie sehr sich Teile
der US-Medien zum unreflektierten Sprachrohr ihrer Regierung machen.
Dazu gehört leider auch die berühmte und renommierte "New York
Times". Eine Ausnahme macht da, wenn überhaupt, ihr großer
Konkurrent, die "Washington Post". Wenn man die Op-Ed-Seiten dieser
Zeitung, liest, die einst die Watergate-Affäre aufgedeckt hat, wenn
man also die Meinungsseite der "Post" aufschlägt, so wird man
zumindest da entdecken, dass dieses Blatt wiederum einem
unverzichtbarem Postulat demokratischer, offener, ehrlicher und
kritischer Berichterstattung huldigt: Man findet nach wie vor einen
Kommentar für den Krieg neben einem Kommentar gegen den Krieg, einen
für Präsident Bush neben einem gegen Bush usw. Und der Leser hat so
die Möglichkeit, sich aus der Meinungsvielfalt, aus
unterschiedlichen Überlegungen und Argumenten sein eigenes Bild zu
machen, das – zugegeben – natürlich auch immerzu bruchstückhaft
bleiben wird. Doch wer glaubt, aus irgendeinem journalistischen
Medium die GANZE WAHRHEIT zu erfahren, der irrt sowieso – oder er
sollte dazu übergehen, noch einmal die russische PRAWDA aus der
kommunistischen Ära zu lesen, denn "PRAWDA" heißt auf Russisch:
Wahrheit. Womit man sehen kann, wie Manipulation in totalitären
Regimes schon beim Namen einer Zeitung beginnt. Denn selbst wenn ein
Regimekritiker früher etwas aus dem offiziellen Organ des
Sowjetregimes zitieren wollte, musste er auf Russisch sagen: "Die
Wahrheit schreibt..." oder: "In der Wahrheit steht...".
Was wir in diesen Wochen also erneut erleben müssen, ist, dass man
vorsichtig sein muss mit dem, was die Korrespondenten, egal ob in
den USA, Europa oder der arabischen Welt zu berichten haben. Dass
die Informationen, die wir erhalten, mit einer gewissen Skepsis und
gesundem Misstrauen zur Kenntnis zu nehmen sind.
Wie gut haben wir es doch dagegen in Deutschland: Die großen,
seriösen Blätter, von FAZ bis "Süddeutsche Zeitung", schalten immer
wieder zwischen ihren täglichen "Irak-Seiten" kleine
Informationskästchen in eigener Sache, in denen sie darauf
hinweisen, dass die Redaktion den Wahrheitsgehalt der Meldungen
nicht immer überprüfen kann, die Herkunft dieser Nachrichten
deswegen genau kennzeichnet und somit hofft, dass der Leser weiß,
dass nicht alles, was da Schwarz auf Weiß geschrieben steht, die
Wahrheit sein muss. ARD und ZDF, N-TV und N-24 werden nicht müde, in
schöner Regelmäßigkeit auf dieselbe Problematik hinzuweisen und
darüber hinaus immer wieder Beiträge zu zeigen, die sich mit der
Manipulation der Medien in den USA und anderswo beschäftigen. Wir
scheinen also in einer glücklichen Demokratie mit einer geradezu
vorbildlichen Medienlandschaft zu leben. Doch Vorsicht: Auch diese
scheinbare Ehrlichkeit, diese scheinbare Offenheit über die Gefahr
der Manipulation, beinhaltet schon wieder ein manipulatives Element,
das uns dazu verführen soll, eben diesem Medium in allen anderen
Bereichen Glauben zu schenken. Uns wird suggeriert, wir könnten den
Kommentaren und Analysen vertrauen, diese seien objektiv und
ehrlich. Doch wer sich z. B. die deutschen Tageszeitungen genauer
anschaut, wird beobachten, dass auch viele von diesen, natürlich,
ihre eigene politische Linie verfolgen. Und so glauben wir zu
wissen, dass die FAZ eher konservativ, die "Süddeutsche" eher
linksliberal und die ZEIT liberal ist. Aber was heißt das eigentlich
innerhalb des redaktionellen Gefüges?
Was ich anfangs über die Meinungsseite der "Washington Post" gesagt
habe, kenne ich in dieser Konsequenz, wenn überhaupt in Deutschland,
nur noch aus der ZEIT: Da kommt es in schöner Regelmäßigkeit vor,
dass Redakteur A einen Artikel schreibt und Redakteur B das genaue
Gegenteil in seinem Beitrag erklärt. Beide Artikel befinden sich
dann friedlich nebeneinander auf einer Seite. Gibt es das in der
FAZ? Oder in der links-l i b e r a l e n SZ? Leider nur höchst
selten. Und wer den Erzählungen freier Journalisten lauscht, die für
diese und andere Blätter regelmäßig arbeiten, der wird erfahren, wie
"Zensur" - und ich sage das mit aller Vorsicht und in den berühmten
Anführungszeichen - wie "Zensur" bereits im Vorfeld der
Veröffentlichung vorgenommen wird: Wie ein der Redaktion unbequemes
Thema entweder sofort abgelehnt wird oder die Veröffentlichung eines
Kommentars, der nicht auf Redaktionslinie liegt, so lange verschoben
wird, bis das Thema "durch" ist, wie man im Journalistenjargon sagt.
Wir erkennen also: Echte Meinungsfreiheit gibt es auch innerhalb
freiheitlichdemokratischer Redaktionen immer nur bis zu einem
gewissen Punkt, und der kritische Leser sollte sich dessen stets
bewusst sein. Ebenso wie er Bescheid wissen sollte, dass in den
öffentlich-rechtlichen Sendern die eine oder andere Staatskanzlei
einer Landesregierung schon mal gerne im Programm mitzumischen
versucht, respektive bei der Besetzung bestimmter
Schlüsselpositionen im redaktionellen Gefüge.
Die Geschichte von ARD und ZDF bietet dafür reichhaltige Hinweise –
nicht zuletzt in jüngster Zeit. Doch wollen wir nicht ganz so
schwarz malen: Die meisten Journalisten in Deutschland versuchen ja
nach wie vor ihrer moralischen Verantwortung gerecht zu werden, die
sie als sogenannte "Vierte Kraft" in dieser Demokratie innehaben.
Und sie sind als Einzelpersonen –wie sie meinen als kleine
Journalisten - natürlich nicht in der Lage, die große Linie ihres
Blattes oder ihres Senders zu bestimmen. Sie können sich nur schwer
gegen die Versuche großer Konzerne wehren, die Meinungsvielfalt
durch eine Monopolisierung des Pressemarktes zu ersticken, und sie
haben natürlich ebenfalls nur wenig Einflussmöglichkeiten auf die
Ernennung von Chefredakteuren und Fernsehdirektoren, von
Herausgebern und Intendanten. Doch sie können, sollen und müssen
ihre eigene Integrität genauestens überprüfen. Und das jeden Tag
neu.
Doch wie viele tun das wirklich? Im Zuge des journalistischen
Alltags, der zumeist von einer Hektik geprägt ist, die wir uns kaum
vorstellen können – es ist ja kein Zufall, dass die
durchschnittliche Lebenserwartung dieses Berufsstandes gerade mal
bei 55 Jahren liegt – im Zuge ihres Alltags vergessen die
Journalisten schon mal, was ihr gesellschaftspolitischer Auftrag
ist. Und sie bemerken manchmal nicht mehr, wo sie sich im Laufe der
Jahre haben korrumpieren lassen: Sie nehmen wahrscheinlich gar nicht
mehr wahr, dass sie bestimmte Themen ihren Redaktionen gar nicht
mehr anbieten, weil sie wissen, dass diese sowieso nicht akzeptiert
werden, sie nehmen nicht wahr, dass sie bei manchen Themen die
Meinung der Redaktion – oder gar der öffentlichen Meinung –
ungeprüft übernehmen, weil sie sozusagen "common sense" ist.
Nur ein Beispiel: Gerhard Schröders NEIN zum Irak-Krieg. Es wurde
kaum hinterfragt oder kritisiert. Allenfalls kritisierte man die Art
und Weise, wie Schröder Nein sagte: also die mangelnde Sensibilität
gegenüber den USA, die Bereitschaft, das deutschamerikanische
Verhältnis zu gefährden, die offensichtliche Taktik, mit dem Nein
die Wahlen zu gewinnen, und so weiter. Doch erst in den letzten
Tagen habe ich einige wenige Artikel gelesen, die das Nein
prinzipiell in Frage stellten, die sich also der Frage ernsthaft
annahmen, ob es nicht ein Fehler ist, wenn k e i n Krieg gegen
Saddam geführt wird, oder noch genauer: wenn Deutschland sich an dem
Krieg gegen Saddam nicht beteiligt. Artikel, die das Pferd quasi von
hinten aufzäumen und das, was in Deutschland längst als politically
correct gilt, in Frage stellen. Natürlich konnte man Kritik in den
eher konservativen Medien lesen, doch diese waren leider allzu oft
orientiert an parteipolitischen Interessen. Ebenso selten war eine
seriöse Auseinandersetzung in sogenannten "linken" Blättern zu
lesen, die das Unaussprechliche auszusprechen wagten: Vielleicht
muss Deutschland doch mit in den Krieg ziehen?
Meine Damen und Herren, Sie sind sicher darüber verblüfft, dass
gerade mir, dem Präsidenten des Zentralrates der Juden, solch ein
Satz so locker über die Lippen geht: Dass Deutschland vielleicht in
den Krieg ziehen muss. Doch ich möchte sie darauf hinweisen, dass es
mir hier nicht um die Frage geht, was denn nun richtig oder falsch
ist – ob Schröder lieber hätte Ja sagen sollen und ob ich deutsche
Soldaten gerne vor Basra und Bagdad gesehen hätte. Das ist hier
nicht mein Thema. Mir geht es darum, dass die Presse als "Vierte
Kraft" nicht nur die moralische Verantwortung sondern geradezu die
Verpflichtung hat, alles, aber auch wirklich alles zu hinterfragen
sowie Sinn, Wahrheit und Richtigkeit jeglicher Information
anzuzweifeln. Verstehen Sie mich bitte richtig: Ich erwarte, dass
die Medien "Heilige Kühe" schlachten. Und nur, wenn sie das tun,
wenn sie den Mut dazu haben, Selbstverständliches für gar nicht
selbstverständlich zu halten – erst dann sollten, müssten sie zu
einem Ergebnis kommen, was sie uns, den Rezipienten, anbieten
sollten, um uns das zu geben, worauf wir ein demokratisches
Grundrecht haben: freie, offene sowie ehrliche Information und
Meinungsbildung.
Dieser Auftrag jedoch – um zu unserem kleinen Journalisten
zurückzukehren – dieser Auftrag geht ihm in seinem Alltag allzu oft
verloren. Und so ist er sich gar nicht mehr bewusst, wie sehr bei
ihm schon die "Schere im Kopf" eingepflanzt ist, wie sehr er sich
also schon beim Abfassen seines journalistischen Beitrages verbiegt,
um nicht anzuecken. Und weil dieses Verhalten ihm schon zur zweiten
Haut, zur Gewohnheit geworden ist, merkt er gar nicht mehr, was er
da tut. Das geht vielleicht soweit, dass er im Zuge einer eiligen
Recherche zu irgendeinem Thema sich aus dem Zeitungsarchiv ein paar
ältere Artikel heraussuchen lässt, diese überfliegt und dann seinen
eigenen Beitrag schreibt, dreht, schneidet. Mit dem Ergebnis – alle
Journalisten kennen das – dass er zuweilen – und wahrscheinlich auch
unbewusst - falsche Informationen übernimmt. Wenn man also über eine
Person des öffentlichen Lebens erfährt, dass sie am liebsten, na
sagen wir mal unverfänglich, am liebsten täglich zartbittere
Schokolade isst, und das steht dann unbefragt in -zig Artikeln, dann
wird auch unser Journalist dies ebenso übernehmen. Und irgendwann
hören wir ein Live-Interview mit jener Person im Fernsehen und
müssen erfahren, dass diese Info völlig falsch ist und auf einem
Missverständnis beim Interview mit jenem Journalisten beruht, der
diese Behauptung einst zum ersten Mal in seinem Artikel
niedergeschrieben hat. Das alles stört unseren Journalisten nicht.
Er hat genug Argumente, warum er nichts dafür kann, eine falsche
Information so zu übernehmen: Zeitdruck – das ist immer die beste
Ausrede, die Glaubwürdigkeit der journalistischen Recherche. Und es
ficht ihn auch nicht an, eine politische Meinung zu Vorgängen zu
haben, die er nicht aus eigener Erfahrung kennt, weil er noch nie
vor Ort gewesen ist.
In einer öffentlichen Podiumsdiskussion wurde der Leiter der
Auslandsredaktion einer großen deutschen Tageszeitung scharf für
seine Kommentare angegriffen, die er über die politische Entwicklung
in einer bestimmten Krisenregion dieser Erde geschrieben hat. Er
beharrte auf seiner Meinung. Als er von dem Moderator dann gefragt
wurde, wie oft er denn schon vor Ort gewesen sei, erklärte er: Zwei
Mal. Ich wiederhole: Zwei Mal! Als das Publikum entrüstet reagierte,
entschuldigte sich der gute Mann damit, dass er ja erst seit kurzem
Auslandschef und sein Spezialgebiet eine ganz andere Krisenregion
sei. Muss ich dieses Beispiel noch näher erläutern? Oder darf ich es
mit einigen anderen Beispielen noch ergänzen: Da ist der Journalist,
der mit einer vorgefassten Meinung zu einem Thema loszieht, um sich
genau die "O-Töne" abzuholen, die er für seine Meinung oder These
braucht. Das gelingt ihm, indem er sich die entsprechenden Personen
sucht und der gegenteiligen Stimme gar nicht erst Gehör verschafft,
oder indem er einen Interviewpartner, der ihm sozusagen die
"gewünschte Aussage" verweigert, mit Fragen dermaßen manipuliert,
dass schließlich eine Äußerung fällt, die der Journalist endlich für
seine Zwecke verwenden kann.
Meine Damen und Herren, was ich ihnen hier schildere, gilt zwar
nicht für alle Journalisten in diesem Land, aber es sind auch keine
Einzelfälle – es ist leider allzu häufig die Praxis journalistischen
Schaltens und Waltens. Ganz zu schweigen von gewissen
Gefälligkeiten, die man Politikern erweist, von denen man sich für
die eigene Karriere noch etwas erhofft: Sei es ein besonders
unkritisches, freundliches Interview, sei es einfach ein Bericht
über irgendeine Wohltätigkeitsveranstaltung, die unter der
Schirmherrschaft jenes Politikers steht, von dem man einen Schub für
die eigene Zukunft erwartet. Da wird zwar nicht gelogen, nicht
betrogen, nein, da wird einfach etwas ganz nett berichtet und damit
aber Sendezeit verschenkt, die man vielleicht sonst für ein sehr
viel brisanteres Thema verwenden könnte - vielleicht gar für einen
Bericht über den Spendenskandal in der Partei jenes Politikers.
Die Fallen, die sich dem verantwortungsbewussten Journalisten
tagtäglich stellen, sind vielfältig. Gewisse Dinge sind
praxisübliche Kleinigkeiten. Und da sie jeder macht, können sie ja
nicht unmoralisch sein, nicht wahr? Es spielt also auch keine Rolle,
wenn ein Auslandskorrespondent die Sprache des Landes, in dem er
arbeitet, nicht beherrscht. Wozu hat er denn auch jene orts- und
sachkundigen einheimischen Mitarbeiter, die ihm alles übersetzen und
ihn mit den entsprechenden Informationen beliefern? Dass diese – oft
ganz unbewusst – ihrer eigenen politischen Meinung gehorchen und bei
der Auswahl von Interviewpartnern, bei der Auswahl der
Zeitungsmeldungen entsprechend vorsortieren – was soll’s. Der
Zuschauer, der Leser daheim in Deutschland hat sowieso keine Ahnung
von der Materie, dem kann man alles vorsetzen. Gott sei Dank ist es
dann doch so, vor allem beim Fernsehen, dass der Zuschauer sehr wohl
spürt, wie authentisch der Korrespondent ist, wie selbstverständlich
er sich in seinem Berichtsland bewegt. Es ist kein Zufall, dass
gerade jene Korrespondenten, die dann entsprechend fließend
Russisch, Chinesisch, Arabisch, Englisch, Französisch oder Spanisch
können, die entsprechend aufregenden Filme machen, weil sie den
persönlichen Kontakt, den persönlichen Umgang mit den Einheimischen
suchen können und somit Lesern, Zuschauern oder Zuhörern ganz andere
Informationen, Erfahrungen und Erlebnisse präsentieren können als
jene, die sich immer alles übersetzen lassen müssen und in einem
Lokal am Abend nicht einfach mal "Volkes Stimme" lauschen können.
Schließlich möchte ich auf einen besonders wichtigen Aspekt der
journalistischen Arbeit zu sprechen kommen: Die moralische
Verantwortung für die Sprache. Wir erleben es ja in diesen Tagen
ganz deutlich, wie Sprache in Zeiten des Krieges manipuliert wird.
Doch das ist nicht nur in solch einer Extremsituation so, sondern
auch im ganz normalen Alltag. Und Journalisten sind dieser
Manipulation ganz besonders ausgesetzt. Denn sie werden immer und
jederzeit von allen Seiten als Multiplikatoren verstanden und
entsprechend sprachlich bombardiert. Ob das nun eine
Presseveranstaltung eines großen Autokonzerns oder das "Briefing"
des Pentagon ist, ob das das Communiqué einer EU-Sitzung ist oder
die offizielle Verlautbarung eines Terrorregimes: Jeder will seine
"Message" an den Mann, d. h. an den Journalisten bringen, und somit
dann unters Volk verbreiten. Der "Code", der dabei verwendet wird,
ist stets in Frage zu stellen, und niemals, ich betone: niemals,
dürfte ein Journalist diesen Code unbefragt übernehmen. Tut er aber
doch – aus Unachtsamkeit oder aus der Tatsache, dass sich bestimmte
Formulierungen längst als Allgemeingut durchgesetzt und ihr
Eigenleben entwickelt haben und kaum noch problematisiert werden.
Nehmen wir nur den Begriff des "Kollateralschadens", auf Englisch:
"collateral damage". Eine ziemlich euphemistische Bezeichnung für
das versehentliche Bombardieren und Töten unschuldiger,
nichtbeteiligter Menschen, zumeist Zivilisten, in einem Krieg. Diese
Formulierung wurde von der NATO vor allem während des Kosovo-Krieges
1999 benutzt. Da auch Deutschland an diesem Krieg beteiligt war,
hatten Bundesregierung und Bundeswehr natürlich ein gewisses
Interesse, solch einen verklausulierten Begriff zu benutzen und zu
verbreiten. Damals waren sich viele Journalismus des Zynismus dieser
Formulierung wohl noch bewusst. Und sie benutzten ihn daher fast
immer in Anführungszeichen oder mit dem entsprechenden Kommentar.
Nur vier Jahre später, also jetzt während des Irak-Krieges, entdecke
ich, dass Kollateralschaden in so manchem Artikel bereits ohne
Anführungszeichen geschrieben wird.
In diesem Zusammenhang lassen sie mich darauf hinweisen, dass gerade
die deutsche Sprache in ganz besonderen Nöten ist. Viktor Klemperer
hat ja schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg dargelegt, wie Nazis
mit der Sprache umgegangen sind, wie sie sie vergewaltigt und
zerstört haben. Und jeder ältere Schriftsteller, jeder ältere
Journalist wird erzählen können, wie schwer es ihm fiel und noch
fällt, so manches deutsche Wort unbefangen zu verwenden, weil es für
ihn für immer kontaminiert ist mit Begriffen aus der NS-Zeit.
Jahrzehntelang haben sich die großen Redaktionen die Mühe gemacht,
darauf zu achten, dass "Nazi-Sprache" nicht benutzt wurde. Und ich
meine damit Begriffe, von denen vor allem Jüngere nicht einmal mehr
wissen, dass sie kein "normales Deutsch" sind: Das Verb "ausmerzen"
zum Beispiel. In den letzten Jahren ist leider zu beobachten, dass
sich solche Worte wieder ihren Weg in die Umgangssprache und damit
auch in den seriösen Journalismus bahnen. Nun könnte man sagen, dies
sei doch auch ein gutes Zeichen – eine jüngere Generation geht
unbefangen mit Begriffen um, die für sie keinerlei negative
Assoziationen beinhalten. Doch irgendwie kann ich mich mit diesem
Gedanken nicht anfreunden. Ich bin ein Kind des 20. Jahrhunderts, in
denen die beiden schlimmsten politischen Systeme der Menschheit,
ohne freilich beide auf eine Stufe stellen zu wollen, der
Nationalsozialismus und der Sowjetkommunismus, mit dem Missbrauch
von Sprache Menschen zum Tode verurteilt haben. Ich kann, ich will
nicht akzeptieren, dass man als Mensch, dessen Handwerkszeug die
Sprache ist, sich über die Geschichte der Sprache der Terrors
hinwegsetzt und sich im Zweifelsfall auf das pure Nichtwissen
beruft. Nein, wer sich der aktuellen Missbräuche der deutschen
Sprache nicht bewusst ist, der wird auch kein Sensorium entwickeln,
um die aktuellen Manipulationen als solche wahrzunehmen. Und er wird
stattdessen den Code, der für eine bestimmte Message steht,
übernehmen und somit die Message weitertragen, die die seines
Informanten und nicht notwendigerweise seine eigene ist. Das kann,
das darf sich im deutschen Journalismus nicht durchsetzen.
Das Thema meines Vortrages lautet: "Die moralische Verantwortung der
Presse" Und eigentlich hätte ich gleich zu Beginn dieses Vortrages
eine Frage stellen sollen, die ich aber nicht gestellt habe, weil
man eben meinen sollte, dass sie doch so selbstverständlich zu
beantworten ist. Die Frage nämlich, von welcher Moral wir eigentlich
sprechen? Was genau meinen wir, wenn wir von Moral reden? Ist es die
Moral des christlichen Abendlandes? Ist es die Moral Europas? Ist es
vielleicht die Moral Amerikas, also der westlichen Vormacht? Ist es
die Moral der Aufklärung?
Ich möchte hier nicht einen weiteren, zweiten, moralphilosophischen
Vortrag beginnen, der sich diesem höchst komplexen Thema widmet,
obgleich das sehr interessant werden könnte. Aber ich möchte hier,
an dieser Stelle, darauf aufmerksam machen, dass der Moralbegriff,
so wie ich ihn verstehe, einige Konstanten hat, wie etwa, in unserem
Zusammenhang, die Konstante der meinungsfreiheitlichen,
demokratischen Information, die die Meinung des anderen stets
respektiert, dass aber der Moralbegriff auch einem Wandel
unterliegt, der immer wieder neu definiert werden muss, ganz so wie
eben auch die Frage, ob Deutschland Kriege führen soll und darf,
heute, im 21. Jahrhundert, möglicherweise ganz anders beantwortet
wird als noch vor 60 und auch noch vor 50 Jahren.
Eines muss den Journalisten jedoch immer bewusst sein: Dass sie
einen wichtigen, wenn nicht sogar erheblichen Teil zur Bewahrung der
Demokratie beitragen. Denn die Presse wird immer mehr zum wachsamen
Auge der Öffentlichkeit über die drei anderen Säulen der Demokratie,
nämlich die Legislative, die Judikative und die Exekutive.
Insofern ist Journalismus in seiner vornehmsten Form vielleicht die
demokratischste aller Berufsgattungen. Und ich kann nur hoffen, dass
sich die Presse dieser Verantwortung, aber auch dieses Privilegs
immer wieder aufs neue bewusst wird.
Aus
der Reihe "Historische Reden":
Rede des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul
Spiegel, anlässlich der Öffentlichen Jahreshauptversammlung des
Verbandes Deutscher Bahnhofsbuchhändler e.V., im Maritim Hotel
Ulm, Basteistraße 40, Ulm am 08.04.2003
Am 9.
November 2000:
Der Aufstand der
Anständigen
Paul Spiegel, Präsident des Zentralrates der Juden in
Deutschland, am 9. November 2000 vor dem Brandenburger Tor,
Berlin...
RealVideo:
Paul Spiegel am 09-11-2000
Wolfgang Thierse:
Rede zu Erziehung, Unterricht und Rechtsextemismus
Rechtsextreme, ausländerfeindliche,
antisemitische Gewalttaten sind dramatische Warnzeichen für die
Ausbreitung von Vorurteilen und Hass gegen alles, was fremd ist und
gegen jeden, der fremd erscheint...
Was tun gegen Antisemitismus?
Strategien für ein friedliches
Miteinander
Es scheint im deutschsprachigen Raum inzwischen eine
merkwürdige Selbstverständlichkeit geworden zu sein, ausgerechnet
Juden zum Thema Antisemitismus zu befragen...
hagalil.com
19-10-2004
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