.. 21. Oktober 1943
Zum Gedenken an
Meier Andorn 1872 - 1943
v. Eva Nimmert
Sachor:
Der Lehrer und Kantor Meier Andorn
(1872 - 1943)
Über viele
Generationen lässt sich die Geschichte der jüdischen Familie Andorn
zurückverfolgen, deren deutsche Heimat das landschaftlich sehr reizvolle
Wohratal im Kreis Frankenberg war. Dort in der kleinen Ortschaft Gemünden
steht im Steinweg 25 eines der ältesten Fachwerkhäuser Hessens, das in der
Bevölkerung noch heute als das Jakob-Andorn-Haus bekannt ist.
In den Akten wird Andorn
als Familienname erstmals im Jahre 1759 erwähnt. Zwischen 1861 und 1905
hatte Gemünden 1.800 Einwohner, 72 von ihnen waren Juden. Diese besassen
seit 1823 bis zum Abriss durch die Nazis im Jahre 1938 eine Synagoge im
Zentrum der Stadt, eine Mikwe (Ritualbad), einen Friedhof und eine
israelitische Volksschule. Ihren Lebensunterhalt verdienten die jüdischen
Familien hauptsächlich durch den Vertrieb von Teer und Pottasche sowie als
Viehhändler.
Den kulturellen
Mittelpunkt dieser kleinen Gemeinschaft bildete das Stammhaus der Familie
Andorn, die auch bei Nichtjuden ein hohes Ansehen genoss. So vereinigten
sich beispielsweise in der Person Israel Andorns (1864 - 1945), der im
Brotberuf Viehhändler und ehrenamtlicher Vorbeter der Synagogengemeinde war,
jüdische Kultur und deutsches Bildungsbürgertum: Er schrieb jüdische Lieder,
studierte hebräische Texte, liebte aber auch Mozart und die deutsche
Literatur. Seine Mitgliedschaft im Schützenverein zeigt, dass Juden sich
damals zur Gesamtgemeinschaft zugehörig fühlen konnten. So wurde, um ein
weiteres Beispiel zu nennen, das Amt des Vorstehers der Gemündener
Stadtverordneten viele Jahre lang zur allgemeinen Zufriedenheit von dem
Juden Elias Höxter ausgeübt.
Diese positiven Ansätze
schienen ein Zeitalter der Vernunft und Toleranz zu verheissen. Die
deutschen Juden hofften in dieser Zeit, dass nach Jahrhunderten der
Diskriminierung und Verfolgung endlich ihre bürgerliche Gleichstellung auf
allen Gebieten des sozialen Lebens Wirklichkeit werden könnte.
Meir Andorn
Am 28. September 1872
wird der Familie Andorn ein weiterer Sohn geboren. Er erhält den Vornamen
Meier, der sich ableitet vom hebräischen Wort "mejir", das glänzend,
erleuchtend bedeutet und sich als glücklich gewählt herausstellen wird:
Meier Andorn ist begabt, lernt mit grossem Eifer, erwirbt sich im Laufe
seines Lebens ein umfangreiches Wissen. Sein Wesen zeichnet sich aus durch
Klarheit, Wahrheitsliebe und Mut. Wie sein Vetter Salomon Andorn (1863 -
1942) wird Meier Andorn Lehrer.
Die Reichsverfassung von
1869/1871 scheint zumindest die rechtliche Gleichstellung der jüdischen
Bevölkerung zu garantieren. Im Geburtsjahr Meier Andorns wird in Berlin die
"Hochschule für die Wissenschaft des Judentums" als Ausbildungsstätte für
liberale Rabbiner gegründet, an der später sein Sohn Hans studieren wird. Im
selben Jahr wird in Hattingen die von Liefmann Gumperz gestiftete Synagoge
unter freundlicher Anteilnahme der christlichen Bevölkerung feierlich
eröffnet. Hier in der Bahnhofstrasse 8a befand sich auch die jüdische
Volksschule mit der Lehrerwohnung. In der Kleinstadt Hattingen am Rande des
Ruhrgebiets wird Meier Andorn über drei Jahrzehnte leben und arbeiten.
Doch parallel zu dieser
hoffnungsvollen Entwicklung breitet sich in Deutschland eine neue, extrem
aggressive, rassistische Variante des Judenhasses aus, die zusammen mit von
der Kirche jahrhundertelang genährten Vorurteilen ein gefährliches Amalgam
bildet. Durch zahllose Bücher, Zeitungsartikel, Politikerreden und
Stammtischgeschwätz wird diese antijüdische Hetze ausgestreut. Antisemiten
werden sogar in den Reichstag gewählt.
Centralverein
Die angefeindeten Juden
und Jüdinnen bewähren sich als Menschen mit Kultur. Sie versuchen sich mit
demokratischen, rechtsstaatlichen Mitteln zu wehren und gründen 1892 den
"Centralverein für deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens", der diese
Aufgabe mittels Aufklärung und wenn es sein muss mit juristischen Mitteln
erfüllen soll.
Nach einer kurzen
Tätigkeit in Brilon zieht Meier Andorn 1894 nach Hattingen an der Ruhr.
Hier ist er bis zum Jahre 1926 als Lehrer und nebenamtlicher Kultusbeamter
tätig. Zu dieser Zeit leben etwa 12.000 Menschen in Hattingen, die jüdische
Gemeinde umfasst im Jahre 1910 195 Personen. Seit 1894 gibt es den neuen
jüdischen Friedhof an der Blankensteiner Strasse. Die jüdische Volksschule
mit durchschnittlich 20 Schülern existiert gleichberechtigt neben den
katholischen und evangelischen Schulen. Der Stadtverordnetenversammlung
Hattingens gehören angesehene jüdische Bürger wie der Kaufmann Salomon
Gumperz an, der am 10. September 1910 gemeinsam mit anderen Honoratioren den
Segen zur Grundsteinlegung des neuen Rathauses spricht. Meier Andorn und
seine Frau Bella, geborene Stern (1873 -1926) sind geachtete Bürger
Hattingens. Zu ihrem Freundeskreis zählen jüdische und nichtjüdische
Menschen. Drei Söhne werden ihnen geboren: 1903 Hans, 1906 Berthold
(Baruch), 1910 Ludwig (Jehuda).
Mit dem Ausbruch des
Ersten Weltkriegs beginnen auch für die Bevölkerung Hattingens schwere
Zeiten. Meier Andorn und seine Frau leisten ehrenamtlich humanitäre Hilfe.
Die jüdische Gemeinde verliert sechs junge Männer, die als Soldaten an der
Front fallen:
Adolf Gumbert, Josef Gumperz, Artur Levy, Erich Löwenstein, Hermann Röttgen
und Walter Röttgen.
Meier Andorn enthüllt am 24. November 1926 im Rahmen einer Feierstunde eine
Gedenktafel für die Gefallenen der Synagogengemeinde.
Die Zeit der Hetze
Nach dem verlorenen
Krieg wird der jüdischen Minderheit die Schuld an allem Unglück angehängt.
Eine rationale Analyse der wirklichen Ursachen und Verursacher des Elends
findet im öffentlichen Diskurs so gut wie nicht statt. So setzt auch in
Hattingen anlässlich der Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919 eine
Schmutzkampagne gegen die Juden ein. Was besonders schändlich ist:
"Christliche" Lehrer missbrauchen ihre Autorität und hetzen in Schulen und
Sportvereinen die Jugendlichen auf. Die Verleumdungen sind leicht
widerlegbar. Dennoch finden sie Gehör.
Meier Andorn kandidiert
als Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei für den Hattinger Stadtrat.
Die DDP bekannte sich bis 1930 zur Republik, zur Religions- und
Gewissensfreiheit, zur Gleichberechtigung der Frau, zum
Selbstbestimmungsrecht der Völker und zum Pazifismus. Wegen ihres liberalen
Programms standen der DDP viele Juden und Jüdinnen nahe.
Während einer
öffentlichen Parteiversammlung wird Meier Andorn zur Zielscheibe verbaler
Attacken fanatischer Judenhasser. Doch er hat die besseren Argumente auf
seiner Seite und entlarvt seine Widersacher als Rassisten. Einige Tage
später erscheint in der Hattinger Zeitung ein Leserbrief des
Volksschullehrers Hoffmann, der nichts anders darstellt als ein übles
antijüdisches Pamphlet. Doch es gibt in Hattingen auch Menschen, die sich
für ihre jüdischen Nachbarn einsetzen. Wir finden auf derselben Seite einen
zweiten Leserbrief, in dem es heißt:
"Herr Andorn war mir und
vielen anderen Andersgläubigen stets sehr sympathisch wegen seines
freundlichen, aufrichtigen Wesens gegen jedermann, seiner steten
Bereitschaft und Arbeitsfreudigkeit auf kommunalpolitischem Gebiete, in der
Kriegsfürsorge und in verschiedenen, der allgemeinen Wohltätigkeit dienenden
Vereinen, und wegen seines ernsten Strebens in Fragen der allgemeinen
Volksbildung. Man muss der jüdischen Gemeinde zu ihrem wackeren Lehrer und
Prediger gratulieren. Ich schätze ihn persönlich sehr und bin überzeugt von
dem Ernste, mit der er die Sache des Judentums vertreten. Hut ab vor solcher
Mannhaftigkeit!"
Bemerkenswert ist, dass
der Name dieses Schreibers nicht von der Redaktion veröffentlicht wurde.
Dann geht in Hattingen die Verleumdungswelle gegen die Andorns und andere
jüdische BürgerInnen weiter. Meier Andorn setzt sich für seine beiden
älteren Söhne ein, die aus einem Jugendverein ausgeschlossen werden, weil
sie Juden sind. Auf seinen Protest hin wird diesem Verein von der Verwaltung
das Recht zur Nutzung von Schulräumen entzogen.
Die Antwort der Judenhasser ist eine wüste Flugblattaktion. Meier Andorn
reagiert im Sinne des "Centralvereins" und gewinnt im Jahre 1920 einen
Prozess am Landgericht Essen, den er angestrengt hatte. Ein Nazi wird zu
einer Geldstrafe verurteilt.
Schon 1922 existieren in
Hattingen mindestens sieben rechtsextreme Gruppierungen. Wen wundert es da,
dass Hattingen sich zu einer Hochburg der NSDAP entwickelt? Bereits 1925 ist
die Ortsgruppe Hattingen die aktivste und einflussreichste im Ruhrgebiet. Es
herrscht in Hattingen bereits in den Zwanziger Jahren, also lange vor der
Pogromnacht des 9/10. November 1938, eine starke antijüdische Stimmung: So
wird beispielsweise schon vor der Machtübernahme der Nazis das Kaufhaus der
Familie Urias im Jahre 1927 von Randalierern attackiert und beschädigt.
1926 wird die jüdische
Schule in Hattingen wegen Schülermangels geschlossen. Jüdische BürgerInnen
ziehen fort in grössere Städte, in denen sie sich sicherer fühlen. Meier
Andorn findet eine Anstellung als Konrektor der israelitischen Volksschule
in Dortmund in der damaligen Lindenstrasse.
Dann trifft ihn und
seine Söhne ein Schicksalsschlag: Im November 1926 verstirbt Bella Andorn
nach kurzer schwerer Krankheit.
Bis zum Jahre 1934 war
Meier Andorn als Lehrer tätig. Sein ehemaliger Dortmunder Schüler Henry
Birnbrey, der 1938 in die USA flüchten konnte und als angesehener Fachanwalt
in Atlanta (Georgia) lebt, erinnert sich noch heute lebhaft an seinen
menschenfreundlichen und klugen Lehrer:
"Eines war ganz offensichtlich: Meier Andorn liebte Kinder, und die Kinder
liebten ihn. Er war es, der mir die Freude am Lernen vermittelte, der mich
lehrte, meine jüdischen Wurzeln zu erkennen und zu pflegen. Wir waren alle
sehr traurig, als er 1934 in den Ruhestand versetzt wurde."
Meier Andorn zog mit
seiner zweiten Frau Anna, geborene Löwenstein, die er 1930 geheiratet hatte,
nach Essen in die Moorenstrasse in ein bürgerliches Wohnviertel in der Nähe
des heutigen Universitätsklinikums und des Grugaparks. Wie in Dortmund
lebten einst mehr als 4.500 jüdische Menschen in Essen, gab es ein
vielfältiges Gemeindeleben mit einer Reihe herausragender Persönlichkeiten.
Die beiden Essener Synagogen an der Steeler Strasse und am Isinger Tor
galten als die schönsten Deutschlands. Wäre die politische Lage in
Deutschland eine andere gewesen, hätte man Meier und Anna Andorn darum
beneiden können, Essen als Alterssitz gewählt zu haben.
Mörder und Räuber
an der Macht
Aber seit 1933 ist
Deutschland eine verkehrte Welt, in der Mörder und Räuber an der Macht sind,
während unschuldige wehrlose Menschen in Gefängnisse und Konzentrationslager
verschleppt und umgebracht werden. Den deutschen Juden wird durch Hunderte
von schikanösen Gesetzen und Verordnungen, die darauf abzielen, sie von der
übrigen Bevölkerung zu isolieren und ihnen Schritt für Schritt alle Rechte
zu nehmen, das Leben zur Hölle gemacht. Doch das ist nur das Vorspiel:
Auschwitz wird das Symbol der absoluten Menschenverachtung und Barbarei.
Meier Andorns Söhne
Berthold Baruch (1906 - 1985) und Ludwig Jehuda (1910 -1972) können ins
damalige Palästina auswandern und ihr Leben retten. Baruch wird ein
erfolgreicher Ingenieur, Jehuda ein renommierter Hebräist im neuen Staat
Israel.
Meier und Anna Andorn
sind schliesslich ebenfalls zur Auswanderung oder besser gesagt: Flucht
entschlossen. Aber es ist zu spät. Sie müssen ihre Wohnung verlassen und
werden in das Internierungslager Holbeckshof in Essen-Steele gezwungen. Von
dort werden sie am
21. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert. Die Transporte finden in aller
Öffentlichkeit statt. Nur eine unscheinbare Gedenktafel gegenüber dem
Hauptbahnhof Essen erinnert heute daran.
Anna Andorn gelang
während des Transports mit Hilfe eines SA-Mannes, dem sie als
Krankenschwester während des Ersten Weltkriegs das Lebens gerettet hatte,
die Flucht, und sie fand Hilfe bei einem katholischen Geistlichen, der sie
versteckt hielt. Meier Andorn hatte sie gedrängt, diese Chance wahrzunehmen.
Als sie erfuhr, dass ihr geliebter Mann schwer erkrankt war, verschaffte
Anna Andorn sich Zutritt zum KZ Theresienstadt.
Dort verstarb Meier Andorn am 21. Oktober 1943 in ihren Armen an den Folgen
der unmenschlichen Lagerhaft.
Meier Andorn musste den Tod seines ältesten Sohnes Hans, der promovierter
Rabbiner war und mit Frau und Tochter ins KZ Bergen-Belsen verschleppt
wurde, wo er am 26. Februar 1945 ums Leben kam, nicht mehr erleben.
Annas Spur verlor sich in Auschwitz.
Verwendete Quellen
Alte Synagoge Essen:
Gedenkbuchprojekt. Gedenkurkunde für Anna Andorn von Petra Gross
ANDORN, Baruch:
Die Familie Andorn; Tel-Aviv 1980
BÖHNKE, Wilfried:
Die NSDAP im Ruhrgebiet 1920 - 1933; Bonn/Bad Godesberg 1974
SZIGAN, Christoph:
Juden in Hattingen;in: VHS Hattingen (Hrsg.): Alltag in Hattingen
1933 - 1945. Eine Kleinstadt im Nationalsozialismus; Essen 1985; S. 208 -219
HATTINGER Zeitung vom 27.12.1918
HATTINGER Zeitung vom 02.01.1919
HATTINGER Zeitung vom25.11. 1926
NIMMERT, Eva:
Der Volksschullehrer Meier Andorn (1872 - 1943);
in: Zeitschrift "AUFBAU", New York 14. Februar 1997, S. 24
NIMMERT, Eva:
Die Transporte finden in aller Öffentlichkeit statt;
in: Die BRÜCKE, Saarbrücken 1997, Heft 95, S. 69 - 72
VÖLKER, Karl-Hermann:
Herausragende Persönlichkeiten der Familie Andorn;
In: Frankenberger Heimatkalender, 17. Jahrgang, Korbach/ Bad Wildungen 1999,
S. 123 - 131
15.10.99
Eva Nimmert, Hattingen
Hattinger Opfer der Shoah
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