Vergangenheit -
Gegenwart
Studentin in der
Nazi-Zeit
Ilse Perlman
Liebe Freunde, liebe Teilnehmer
an einem historischen Treffen,
ich fühle mich privilegiert und
bin dankbar, daß ich als 82jährige Frau, hier in Deutschland vor Ihnen
stehen kann und die Gelegenheit habe, über meine Erinnerungen an eine
deutsch-jüdische Jugend zu sprechen. Ich bin von dem grausamen Schicksal der
Vielen verschont worden.
Für diejenigen unter Ihnen, die es
nicht persönlich erlebt haben, möchte ich historisch einleitend sagen, daß
die Weimarer Republik nach dem Ersten Weltkrieg den deutschen Juden ein
würdiges Leben mit voller Gleichberechtigung zu versprechen schien. Da ich
am Ende des Krieges kaum ein Jahr alt war, konnte ich nur aus Erzählungen
meiner Eltern und Verwandten lernen, was das Leben der Juden in der
Vorkriegszeit gebracht hatte. Wie viele waren die drei Brüder meiner
Großmutter zur evangelischen Religion übergetreten, um Berufe ausüben zu
können, die den Juden im allgemeinen verschlossen gewesen waren.
Antisemitismus war, wie wir es im Englischen sagen, ein "fact of life".
Meiner eigenen Familie war die
Tatsache unserer Zugehörigkeit zum Judentum selbstverständlich. Wie waren,
wie ein Großteil unserer eigenen Freunde eng mit dem Judentum verbunden.
Feiertage wurden zu Festtagen, meine kleinen Freundinnen und ich gingen an
diesen Tagen nicht zur Schule, sondern oft zusammen zum Tempel. In unserer
eigenen Schulklasse waren ein Viertel oder ein Drittel der Mädel jüdisch und
wir hatten jüdischen Religionsunterricht. Ich habe in letzter Zeit viel
darüber nachgedacht, ob dies möglicherweise ein Fehler war. Wir hatten in
unserer, der Fürstin-Bismarck-Schule, eine ausgezeichnete Religionslehrerin,
Frl. Dr. Littmann, und mit diesem Unterricht begann mein tieferes
Verständnis für das Judentums. Aber - die evangelischen Mädel gingen in ihre
eigene Religionsklasse, und die katholischen Mädel in ihre Klasse, was uns
gleich voneinander separierte. Wäre es nicht vielleicht besser gewesen, so
erscheint es mir heute, wenn wir alle zusammen vergleichenden
Religionsunterricht bekommen hätten, was uns möglicherweise zusammengebracht
hätte?
Meine Familie wohnte im Berliner
Westen. Verfassungsmäßig waren wir als Juden rechtlich gleichgestellt - aber
waren wir wirklich alle gleich??? Obgleich die Mitglieder des
Central-Vereins es nie zugegeben hätten - nein, wir waren segregiert,
wenn auch nicht gesetzlich; aber sozial waren die Verbindungen mit unserer
christlichen Umwelt nie überbrückt worden. Menschliche, freundschaftliche
Beziehungen mit Nichtjuden waren die Ausnahme. Die Freunde meiner Eltern
waren alle jüdisch. Unsere jüdischen Klassenkameradinnen waren unsere
einzigen wirklichen Freunde; in den höheren Klassen saßen wir sogar in einer
Reihe.
Zu dieser Zeit war der
Religionsunterricht für mich sehr wichtig. Wir begannen Hebräisch zu lesen,
lasen die Bibel und erhielten eine solide Grundlage für unser jüdisches
Wissen. Eine unserer Klassenkameradinnen war mit einem etwas älteren
jüdischen Mädel, Hilde Goldschmidt befreundet, die, nach dem Tode seiner
ersten Frau, Rabbiner Joachim Prinz heiratete. Dieser amtierte als Rabbiner
im Friedenstempel (Fasanenstraße) - ein Tempel der von den Großeltern meiner
besten Freundin, Hilde Altmann, gebaut worden war. Für mich war der
Friedenstempel schon vor 1933 eine geistige und besonders jüdische Heimat
gewesen. Rabbiner Prinz war dort ein Sprecher des Berliner Judentums und vor
allem ein Propagandist des Zionismus. Er hatte einen unglaublichen Einfluß
auf die liberalen jungen Juden in Berlin. Neben allen anderen Aktivitäten im
Tempel wurde eine Jugendgruppe gebildet, der ich gleich beitrat. Ich wurde
aktive Zionistin!
In der Zwischenzeit hatte ich mein
Abitur gemacht, und wollte mehr über mein Judentum wissen. Ich erinnere mich
nur, daß ich selbst die Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums
(ab 1934 durfte sich die Hochschule nur noch Lehranstalt nennen, d.Red.)
entdeckt hatte, an der ich mich einschrieb. Schon lange vorher war ich der
zionistischen Jugendorganisation Makkabi Hazair beigetreten. "Führerinnen"
waren gesucht, und ich wurde bald eine Gruppenführerin von 13- bis
14jährigen Mädels. Wir nannten unsere Gruppe "Hineni" ("Hier bin ich!") und
begannen ein Gruppenbuch zu schreiben, das ich noch heute mit Freude lese.
Einige der Jugendbewegungen in Berlin, mit denen ich allmählich bekannt
wurde, waren "stark links", wie der Shomer Hazair, und sehr verschieden vom
Makkabi, der "middle of the road" war. Am meisten fühlte ich mich jedoch zu
den "Werkleuten" hingezogen. Diese Gruppe war aus dem "Kreis"
hervorgegangen, der im Jahre 1927 von Herrmann Gerson mit begründet worden
war. Die Bücher "Vom Werden des Kreises" und "Werkleute" von Herrmann Gerson
stehen noch heute in meiner Bibliothek, ab und zu vertiefe ich mich wieder
in sie. Viele der Mitglieder der Werkleute strebten eine akademische
Karriere an, und die von ihnen geschriebenen Bücher waren oft nicht einfach
zu lesen. Ich hatte Ernst Bauer kennengelernt, der an der Lehranstalt
studierte. Er war der damalige Führer der Berliner Gruppe und wurde ein
Vorbild für mich.
Ich trat den Werkleuten bei und nahm
meine Gruppe mit. Viele Mitglieder waren bereits auf Hachschara und lebten
als Gruppe zusammen. Sie wanderten später nach Palästina aus und gründeten
unter vielen Schwierigkeiten den Kibbuz "Hasorea". Auch ich hoffte, nach
Palästina auszuwandern, was sich aber nie verwirklichte.
Heute habe ich Schwierigkeiten, mir
vorzustellen, wie ich genügend Zeit fand, all meine Interessen zu
vereinbaren. Ich nahm Hebräischunterricht bei Dr. Kaleko in der
Meineckestraße, hatte außerdem noch hebräische Privatstunden, ging zu
Seminaren, Treffen, sang in einem Synagogenchor, führte die "Gruppe", hatte
ein halbes Jahr lang Griechischunterricht bei Dr. Grumach, der aus
Königsberg an die Lehranstalt gekommen war, und studierte selber an der
Lehranstalt. Meine Eltern beklagten sich, daß ich nie
zu Hause war!
Unser Studium begannen wir in der
sogenannten "Präparandie", wo ungefähr zehn von uns Studenten, darunter drei
Mädchen, die das Abitur bestanden hatten, anfingen, Tanach und Talmud zu
lesen. Erfreulicherweise waren wir alle nach ungefähr einem halben Jahr
fähig, den "richtigen" Vorlesungen an der Lehranstalt zu folgen. Mein
wirklich hochverehrter Professor wurde Ismar Elbogen, der Jüdische
Geschichte lehrte und dessen "Geschichte der Juden in Deutschland" noch
heute hier in Berlin in der Jüdischen Buchhandlung zu bekommen ist. Er war
das Herz der Lehranstalt.
Alle Studenten interessierten sich
natürlich für die Gottesdienste in Berlin. An Sonnabenden gingen wir oft in
Gruppen in die liberalen Synagogen des Westens, um die verschiedenen
Rabbiner und ihre Predigten zu hören. Danach ging es dann oft zum Hause
Elbogens, wo seine gastfreundliche Frau und er selbst uns junge Studenten
die wunderbare Gelegenheit gab, mit ihnen persönlich über das, was uns am
Judentum interessierte, "gelehrte" Unterhaltungen zu führen.
Trotz der meist recht unathletischen
Haltung unserer Studenten brachte ich es fertig, eine Art von
Studentenverbindung zu organisieren und - leider nur einmal - eine
Gruppenfahrt in die Berliner Umgebung zu unternehmen. Mitten im Grünen wurde
dann gedawnet, komplett mit Tallesim und T'fillen!
Die Möglichkeit, an der Lehranstalt
zu studieren, war für mich ein wunderbares Erlebnis. Wir wurden in das
Studium aller Fächer - Geschichte, Talmud, Homiletik, klassisches Hebräisch
- von den besten Rabbinern und Professoren eingeführt, und hatten alle
Freude am Lernen. Da wir eine verhältnismäßig kleine Gruppe waren, kannten
wir einander, und es entstanden Freundschaften für das ganze Leben.
Dies alles war noch im Deutschland
von 1934-37 möglich, was erstaunlich erscheint. Die Tatsache, daß wir unter
einem barbarischen Regime lebten, war uns immer bewußt, aber innerlich
hatten wir das unglaublich wunderbare Erlebnis: das gemeinsame
Studium mit gleichgesinnten Menschen, denen das Judentum zum Inhalt ihres
Lebens werden sollte.
Als ich versuchte diese Erinnerungen
lebendig zu machen fällt mir der Vergleich mit den Erlebnissen von Anne
Frank ein, die so beredt darüber geschrieben hat, daß das innere Leben unter
den furchtbaren Bedingungen der Außenwelt bewahrt werden konnte.
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