Unmittelbar nach dem Kriegsbeginn waren die
Lebensbedingungen der tschechischen Häftlinge im KZ Dachau derart schwer, dass
sich ihre Handlungen und ihre Gedanken stets um ihr eigenes Überleben drehten.
In der minimalen Freizeit, die ihnen von der SS zugestan-den wurde, waren sie
kaum in der Lage, sich in irgendeiner Weise kreativ zu betätigen. Doch es gab im
Lager Augenblicke der Sehnsucht und der Melancholie, die auch in dieser tristen
Situation an den Häftlingen nicht regungslos vorbeigingen. Edgar
Kupfer-Koberwitz erinnert sich an die anfänglich stumpfe Stimmung an Weihnachten
1940 in der Stube der "Strafkompanie": "Da begannen die Tschechen in ihrer
Ecke zu singen. Es war ein Weihnachtslied in ihrer Muttersprache. Das klang
beruhigend, daraus ergoß sich etwas wie Frieden in die Gemüter. [...] Es war,
als ließe sich jetzt ein wenig freier atmen."
Dieser spontane Akt verdeutlicht das Bedürfnis vieler Häftlinge, gerade an
solchen Tagen in ihren Gedanken zu ihren Familien in die Heimat zu entfliehen.
Die gemeinsame nationale Identität, welche die Tschechen unter anderem aus dem
nationalen Kulturgut schöpften, ermöglichte es ihnen, in diesen besonders
drückenden Momenten, in denen der Schmerz über die Trennung von den Liebsten am
stärksten war, einen größeren Zusammenhalt zu schaffen und damit wenigstens für
eine kurze Zeit die gefährliche Hoffnungslosigkeit zu überbrücken.
Erste Ansätze organisierter kultureller Aktivität kamen
jedoch erst kurz vor Weihnachten 1941 auf und fielen mit der Gründung des
"Klubs der Kameraden" zusammen. Aus spontanen Gesprächen und Ideen
entwickelten sich mit der Zeit konkrete Pläne, ein kulturelles Programm
zusammenzustellen, welches im "tschechischen Block" aufgeführt werden sollte, um
die traurige Weihnachtszeit geschlossen zu überwinden. Dem "Pessimismus, der
sich unter den Tschechen wie das Gift"
verbreitete, sollte auf diese Weise Einhalt geboten werden. Im Laufe der KZ-Haft
ergaben sich dann viele unter-schiedliche Anlässe, doch die Weihnachtsfeiertage
stellten stets den Hauptrahmen für die kulturellen Abende, die mit sehr viel
Hingabe buchstäblich aus dem Nichts entstanden. "Wir hatten keine
tschechische Literatur und einfach nichts, wonach man sich richten konnte. Also
haben wir in unserem Gedächtnis gefischt. Es ist mir gelungen, mit Hilfe einer
Geige, die es da gab, einige Lieder niederzuschreiben, an die ich mich aus dem
Zivilleben erinnern konnte."
Die Vorbereitung der kulturellen Abende, die angesichts der Umgebung, in der sie
stattfanden, stets einen improvisatorischen Charakter aufwiesen, bedeutete für
die Häftlinge nicht nur die Ablenkung vom gewalttätigen KZ-Alltag, sondern galt
auch "als Aufputschmittel und zugleich als gewaltlose, innere Rebellion gegen
die Täter."
Nach Angaben von Emanuel Faltus, der die kulturellen Programme auf der dritten
Stube des zehnten Blocks leitete, waren sehr viele Stubenbewohner mit großem,
bis dahin ungekanntem Enthusiasmus an der Planung beteiligt. Einige bereiteten
Parodien, Witze, Erzählungen, Gedichte sowie Lieder vor, andere schmückten
wiederum den Raum, bauten Requisiten auf oder "organisierten" einen
Weihnachtsbaum. Die verschiedenen Veranstaltungen bezogen sich dabei stets nur
auf eine einzige Stube des "tschechischen" Blocks und waren lediglich möglich,
weil sich die SS an den Abenden kaum mehr im Bereich des Schutzhaftlagers
aufhielt. Der Blockälteste musste zudem sein Einverständnis geben. František
Kadlec erinnert sich, dass zwar nicht alle Tschechen am Programm interessiert,
dass aber mehr als zwei Drittel der Stubenbewohner ganz und gar begeistert
waren. An einem solchen Abend habe sich kaum jemand als Häftling gefühlt. Die
Veranstaltungen hinterließen bei allen einen sehr starken Eindruck und bleiben
daher in kaum einem Erinnerungsbericht unerwähnt.
Im Jahr 1942 erlebte das tschechische kulturelle Schaffen
im KZ Dachau seine absolute Blütezeit. Bereits in den ersten Wochen des neuen
Jahres fanden nach Kadlec und Faltus innerhalb des "Klubs" Besprechungen statt,
um neue Veranstaltungen ins Leben zu rufen. Unter der Bedingung, dass die
Beiträge ausschließlich aus dem KZ Dachau stammen mussten, entstanden auf dem
"tschechischen" Block zahlreiche neue Musikstücke, Zeichnungen,
Lieder oder Gedichte, darunter "Im Schatten der sieben Wachtürme" von
Fratišek Jan Kadlec, welches im Lager eine enorme Popularität erreichte.
Viele dieser Werke drücken eine ergreifende Sehnsucht nach der Heimat und die
tiefe Verzweiflung über die Gefangen-schaft aus. Doch die Veranstaltungen
beinhalteten auch humoristische Beiträge. Nahezu alle Überlebende erwähnen an
dieser Stelle den tschechischen Komiker Tonda Bartůnek, der mit seinen Witzen
und Parodien die ganze Stubenbelegschaft wunderbar aus dem KZ-Alltag
herausreißen konnte. Radovan Dražan erinnert sich, dass das Lachen an diesem Ort
das schönste Geschenk war, das sich die Häftlinge nur wünschen konnten. "Wir
vergaßen das ganze Elend, wir waren wieder Menschen, die lachen und singen
konnten – auch wenn zur gleichen Zeit viele Kameraden starben. So ist das
Leben."
Das Lachen brachte die Erleichterung, und die Erleichterung brachte wiederum
neue Hoffnung. Das Ergebnis der Abende war, "was die Moral betrifft [...],
umwerfend. Am meisten waren die Leute darüber erstaunt, dass es unseren Jungs
gelungen war, sich mit dem eigenen Willen über alles Leid zu erheben und unter
unmenschlichen Bedingungen und bei unglaublichen Erschwernissen ein Werk zu
schaffen, welches ein gewisses Niveau hatte."
Da es die erschöpfende Arbeit und die wenige Freizeit nicht
anders erlaubten, fanden die großangelegten Veranstaltungen nur sehr selten
statt, im Jahr 1942 lediglich vier Mal. Die erfolgreichste von ihnen war nach
Faltus die Willkommensfeier für den Frühling, die am 1. Mai 1942 stattfand, und
in der die ganzen Sehnsüchte, die nach dem durchlittenen Winter aufkeimten, zum
Ausdruck kamen. "Nicht nur, dass das Programm erstklassig durchgeführt wurde,
sondern es war auch, was die seelische Seite der Zuhörer betrifft, vollkommen
spontan. Wir waren alle gerührt, sowohl die Zuhörer, die Autoren, als auch die
Protagonisten."
Die außerordentlich hohe Motivation, mit dem kulturellen Schaffen fortzu-fahren,
unterbrach jedoch für mehrere Monate der Sommer 1942, der für alle Häftlinge in
Dachau bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit ging. Nicht nur, dass die
Arbeitszeit in dieser Jahreszeit viel länger und die Arbeit erschöpfender waren.
Es kam noch hinzu, dass sich die Essensversorgung derart katastrophal
verschlechterte, dass man in den Memoiren sogar über den "Hungersommer" spricht.
Die nächste Veranstaltung, mit dem Titel "Abend des tschechischen
Volksliedes",
fand daher erst am symbolischen 28. Oktober statt, dem Gründungstag der ersten
ČSR. Bei dieser Feier ging es um die Demonstration des tiefen tschechischen
Patriotismus und des nationalen Bewusstseins, wobei die Akteure ähnlich wie die
tschechische Bevölkerung nach der Besetzung erneut auf ihre kulturellen Wurzeln
zurück-griffen, um auf diese subtile Art und Weise ihre mentale Selbstbehauptung
auszudrücken. Dabei ist sehr interessant, dass der Rahmen des kulturellen Abends
allmählich erweitert wurde. An der herbstlichen Vorstellung nahmen nämlich nicht
nur tschechische Häftlinge aus anderen Stuben, sondern auch nationale
"Delegationen aus dem ganzen Lager"
als Zuschauer teil. "Diesmal spielte sich alles nicht mehr im Schlafsaal,
sondern in der Stube ab, wo viel mehr Platz war. Die Besucher saßen dort wie im
Theater. Der Raum war brechend voll [...]."
Nach Faltus war an diesem Abend auch der österreichische Häftling Viktor Matejka
anwesend, welcher nur wenige Monate später kulturelle Veranstaltungen für das
ganze Lager organisierte.
Weihnachten des Jahres 1942 bedeutete, darin stimmen alle
Memoirenautoren sowie Interviewpartner überein, den großen Höhepunkt der
tschechischen kulturellen Aktivität. Da es die SS-Führung seit Oktober 1942 den
Häftlingen gestattete, Lebensmittelpakete zu empfangen, verfügten die Tschechen
im Dezember bereits über genügend materiellen Besitz, um ihre Lebensbedingungen
in Dachau deutlich aufbessern zu können. Sie hatten nun die Möglichkeit, ein für
die Lagerverhältnisse besonders festliches Essen zu veranstalten und konnten
zudem die erhaltenen Lebensmittel in andere Güter eintauschen. In den Paketen
befanden sich außerdem etliche Bücher, so dass die Tschechen nun auch über
wertvolle nationale Literatur verfügten, aus der sie ausgiebig schöpfen konnten.
Emanuel Faltus erinnert sich, dass sich an diesem Heiligen Abend auf den Tischen
Sachen befanden, "von den wir schon seit langer Zeit nicht einmal mehr zu
träumen gewagt hatten. Weihnachtszopf, verschiedenes Gebäck und Süßigkeiten,
Fleisch usw. [...] Weihnachten 1942 war schon irgendwie im Zeichen guter
Hoffnung."
Als Krönung des Abends führten einige Häftlinge im Block ein Hörspiel mit dem
Namen "Sylvio Pelico" auf, welches von einem Mithäftling verfasst wurde.
Verschiedene Rollen wurden verteilt, und das Stück "professionell" hinter der
Kulisse eines überdimensionalen Radiogeräts inszeniert, welches František Kadlec
in seinem Kommando "organisiert" und gebastelt hatte. An dieser besonders
aufwendigen Veranstaltung kann man deutlich ablesen, dass sich die allgemeinen
Lebensbedingungen für viele Häftlinge zu diesem Zeitpunkt bereits fühlbar
verbessert haben, denn nur wenige Monate zuvor wäre ein derartiger
Energieaufwand vollkommen unmöglich gewesen. Das Konzentrationslager Dachau
wurde somit mit dem Beginn der Kommandantur von Martin Weiß zu einem ganz und
gar widersprüchlichen Ort.
Als gegen Ende des Jahres 1942 die erste Typhusepidemie
ausbrach, verhängte die SS-Führung über das Lager eine mehrwöchige Quarantäne.
Häftlinge, die außerhalb des Schutz-haftlagers arbeiteten, durften nun tagsüber
nicht mehr zur Arbeit ausrücken und hatten daher mehr Zeit, sich physisch und
psychisch von den Strapazen zu erholen. Die SS selbst mied zudem, aufgrund der
hohen Ansteckungsgefahr das Lager die meiste Zeit. Die Tschechen hatten nun
etwas mehr Muße, sich mit der Kultur zu befassen, so dass die Geselligkeiten in
dieser Zeit nach Kadlec nahezu wöchentlich stattfanden. Doch die Epidemie raffte
täglich zahlreiche Tschechen oder auch vertraute Häftlinge anderer
Nationalitäten dahin, so dass die Zusammenkünfte oft keinen fröhlichen Anlass
mehr hatten. Um sich von den Verstorbenen auch an diesem grauenhaften Ort, in
dem der Tod allgegenwärtig und anonym war, würdevoll zu verabschieden,
veranstalteten die Tschechen bewegende Trauerfeiern. "Damals war es im
Schlafsaal traurig, zum Ersticken traurig."
Auch diese Akte sind ein deutliches Zeichen der mentalen Selbstbehauptung sowie
der inneren, stillen Auflehnung gegen das System der unmenschlichen Barbarei.
Im Frühjahr 1943 wurden die tschechischen Häftlinge in
anderer Stubenzusammensetzung in den Block Nr. 20 verlegt, wodurch die
kulturelle Aktivität für längere Zeit ins Stocken geriet. Hinzu kam, dass im
Zuge der Veränderungen durch den "Totaleinsatz" viele Häftlinge nicht mehr nach
der Nationalität, sondern nach ihrem Arbeitskommando untergebracht wurden.
Dadurch zerbrach der "Klub der Kameraden" und seine Mitglieder zerstreuten sich
über das ganze Lager. Aus diesem Grund kam es immer seltener zu gemeinsamen
Treffen, so dass das kulturelle Schaffen auf nationaler Ebene langsam abflaute.
5. ANHANG
5.1.1 Quellenverzeichnis
5.1.2
Literaturverzeichnis
5.2.0 Abkürzungen
Zur Diskussion im Forum:
[Nationalsozialistische
Konzentrationslager]
hagalil.com
08-2004