Die Spezifik kolonialer Konzentrationslager

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Hat die „Shoah … ihre Wurzeln in Südwestafrika‘“, wie die französische Dramatikerin Penda Diouf in einem Theaterstück schreibt oder kann man gar von einem „African Holocaust“ sprechen, wie die postkoloniale Autorin Natasha Kelly meint? Das Werk des Historikers Jonas Kreienbaum ist eine wichtige Grundlage für die Kritik solcher Behauptungen.

Von Ingo Elbe

Funktionen kolonialer Konzentrationslager

Der Begriff ‚Konzentrationslager‘ wird heute vor allem mit dem nationalsozialistischen Lagersystem verbunden. Seinen Ursprung hat er allerdings im Kontext kolonialer Partisanenbekämpfung Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts. Kreienbaum zeigt eindrucksvoll, wie man die Geschichte dieser kolonialen Konzentrationslager schreiben kann, ohne postkolonialen Jargon zu verwenden und ohne die radikalen Differenzen zwischen europäischem Kolonialismus und Nationalsozialismus einzuebnen (nichtsdestotrotz zitiert er an wenigen Stellen pflichtschuldig postkoloniale Vertreter, ohne dass ein Erkenntnisgewinn damit verbunden wäre). Er untersucht detailliert die Funktionen der Lager im südafrikanischen Burenkrieg sowie im Herero- und Nama-Konflikt der deutschen Kolonialmacht in Deutsch-Südwestafrika (DSWA). Auch die Entstehung des Vernichtungsbefehls des Generals von Trotha im Herero-Krieg, die Intervention des deutschen Reichskanzlers und die schließliche Aufhebung dieses Befehls werden nachgezeichnet.

Dabei führt Kreienbaum insgesamt folgende (sich zum Teil ablösende oder auch gleichzeitig existierende) Funktionen der kolonialen Konzentrationslager auf, wobei einige Funktionen nur in Südafrika zu finden gewesen seien, andere in beiden Kolonien (Kap. III und VII):

Militärische Funktion der Partisanenbekämpfung – Trennung der Partisanen von der Zivilbevölkerung und Beendigung jeder Unterstützungsmöglichkeit der Partisanen durch Deportation und Konzentration der Zivilisten; begleitend eine Politik der verbrannten Erde im Sinne der Zerstörung der materiellen Infrastruktur oder ökonomischen Ressourcen der Partisanen.

Militärische Pazifizierungs- oder Sicherungsfunktion – Nähe zum klassischen Kriegsgefangenenlager (aber teilweise mit internierten Zivilisten). Kontrolle der Internierten und Verhinderung ihrer Rückkehr zur Guerilla.

Schutzfunktion – Schutz von mit der Kolonialmacht kollaborierenden Flüchtlingen vor der Vergeltung der Partisanen (v.a. in Südafrika).

Assimilierungsoder ‚Erziehungs’funktion – ‚Zivilisierungsmaßnahmen‘ im Sinne der Vermittlung ‚europäischer‘ Hygienestandards, Sittlichkeitsmaßstäbe und Arbeitsmoral. Zum Teil Versuche der Zerschlagung nomadischer Lebensweise oder unabhängiger agrarischer Arbeitskraft und Umwandlung in abhängige (Lohn-)Arbeitskraft. Damit verbunden in der Regel:

Ausbeutungs- oder ökonomische Funktion – exzessive Ausnutzung billiger Arbeitskraft, bzw. Anordnung von Zwangsarbeit für Infrastruktur- und militärische Maßnahmen oder andere ökonomische Zwecke.

Sanktionsfunktion – Vergeltungsmaßnahmen für ‚aufständisches Verhalten‘ durch Internierung und schlechtere Versorgung, teils verbunden mit der Erpressungsfunktion durch Inhaftierung von Verwandten der Partisanen. Im Zentrum steht die negative Spezial- und Generalprävention: Abschreckung der gefangenen Partisanen oder ihres ganzen Volkes, um zukünftige Aufstände zu verhindern.

Repatriierungsfunktion – Unterstützung der (vor allem wirtschaftlichen) Wiedereingliederung in die kolonialen Verhältnisse vor der und im Laufe der Freilassung.

Keine systematische Vernichtungsintention

Kreienbaum belegt dabei, dass es keine systematische Vernichtungsintention in den Lagern gegeben hat. So schreibt er für DSWA: „Die Vernichtung der Lagerinsassen war, anders als in der Forschung häufig behauptet, kein intendiertes Ziel der Konzentrationslager. Ihr Zweck – aus der Sicht der Kolonialmacht – bestand vielmehr in der ‚Pazifizierung‘ der Kolonie, der Bestrafung der Internierten und der Beschaffung von Arbeitskräften beziehungsweise der ‚Erziehung‘ der Insassen zur Arbeit.“ (145) Die hohen Sterberaten seien nicht auf eine Vernichtungsabsicht zurückzuführen, die im krassen Widerspruch zu den wesentlichen Lagerfunktionen gestanden hätte.

Den vielfältigen (und je nach Kolonialkrieg variierenden) Faktoren für die (selbst wiederum zeitlich und örtlich stark variierenden) Sterblichkeitsraten in den Lagern, widmet Kreienbaum denn auch ein ausführliches Kapitel seines Buches. Genannt werden unter anderem die schlechten Transportbedingungen bei Deportationen, die Ressourcenknappheit und mangelhafte allgemeine Versorgungslage, lückenhaftes Wissen der Kolonialbeamten über Krankheitsursachen, der Primat der Versorgung der eigenen Truppen, Zwangsarbeit, die fehlende Infrastruktur zum Transport von Gütern, die schlechte Abstimmung zwischen militärischem und Lagerpersonal hinsichtlich der Einweisung von Neuankömmlingen, der zunächst provisorische Charakter der Lager und die schlichte Überfüllung in kürzester Zeit, auf die die Kolonialbehörden nicht vorbereitet gewesen seien. Auch der Vergeltungsaspekt sei ein Faktor sowie die sich in der unterschiedlichen Behandlung von weißen (Buren in Südafrika) und schwarzen Internierten zeigenden rassistischen Haltungen. In DSWA seien vor allem auf der sog. Haifischinsel viele Lagerinsassen gestorben, wobei die exakten Sterbe- und Internierungsraten in der Forschung umstritten seien (84f., 123ff.). Doch auch der Verlegung der Herero und Nama an die lebensfeindliche Lüderitzbucht lag keine Vernichtungsintention zugrunde, meint Kreienbaum. An der Küste seien die meisten Arbeitskräfte gebraucht worden und sie habe „als sicherer Aufenthaltsort für die Kriegsgefangenen“ gegolten, „da der Wüstengürtel der Namib sie vom Zentrum der Kolonie abschnitt und somit eine erfolgreiche […] Rückkehr zu den ‚Aufständischen‘ verhinderte.“ (271)

Kreienbaum zeigt, dass die deutsche Kolonialverwaltung in DSWA das Vorbild der britischen Lager in Südafrika ‚kreativ adaptierte‘. ‚Kreativ‘, weil die Formen des (Guerilla-) Krieges in beiden Kontexten sich signifikant unterschieden. So fehlten Kreienbaum zufolge in DSWA die zentrale Funktion der Trennung von Zivilbevölkerung und Guerillas sowie die Politik der verbrannten Erde, weil Herero und Nama einen anderen Krieg führten als die Buren. „In Südwest kam es im Hereroland zu keinem Kleinkrieg, der ein solches Vorgehen nötig gemacht hätte. Im Süden hatte es die ‚Schutztruppe‘ zwar mit mobilen Guerillaeinheiten zu tun. Diese wurden jedoch nicht von einer sesshaften Zivilbevölkerung unterstützt. Die Nama-Nichtkombattanten begleiteten die Guerillakämpfer im Feld oder begaben sich über die Grenzen im Süden oder Osten auf britisches Gebiet.“ (136) In DSWA standen demnach Pazifizierungs-, Sanktionierungs- und Ausbeutungsfunktionen der Lager im Mittelpunkt. 

Kein Weg von Windhuk nach Auschwitz

Schließlich weist Kreienbaum auch die Behauptung Jürgen Zimmerers zurück, in DSWA habe es „‘bereits Anfänge einer bürokratischen Form der Vernichtung im Lager‘“ gegeben und damit einen Vorläufer der „‘Form des Massenmordes, wie sie für den Holocaust als kennzeichnend betrachtet wird‘“. (Zimmerer, zit. nach Kreienbaum, 293) Solche Holocaustrelativierungen seien „einem falschen Verständnis der kolonialen Lager“ (294) ebenso geschuldet, wie einer verzerrten Wahrnehmung der Nazi-KZ. In DSWA und Südafrika habe es entgegen der These Zimmerers keine mit den NS-Vernichtungslagern vergleichbaren Konzentrationslager gegeben, in denen das Ziel „die sofortige Ermordung aller, die dorthin geschickt wurden“ (294), gewesen sei. Es habe im kolonialen Kontext des südlichen Afrika auch keine Vernichtung durch gezielte Unterversorgung und kein Programm der „Vernichtung durch Arbeit“ gegeben. Zwar, so Kreienbaum, „führte die extreme Arbeitsbelastung der Gefangenen häufig zum Tode. Doch war Arbeit hier kein gezieltes Mittel zur Ermordung“, wie im Fall der Juden im NS. „Herero und Nama“, so das Resümee, „sollten vielmehr auch in der Nachkriegsgesellschaft als Arbeitskräfte zur Verfügung stehen.“ (295)

Selbst der Vergleich zwischen kolonialen Konzentrationslagern und NS-Lagern wie Buchenwald oder Dachau ist Kreienbaum zufolge nur bedingt sinnvoll. Neben dem permanenten Funktionswandel der NS-Lager seien vor allem deren Funktionen als „innenpolitisches Instrument zur Zerschlagung der politischen Opposition“ und als Mittel zur „‚rassischen Generalprävention‘“ im kolonialen Kontext nicht nachweisbar. Während die Partisanenbekämpfung und Pazifizierungsfunktion im südlichen Afrika primär gewesen sei, habe eine solche Idee in den NS-KZ „keine große Rolle“ gespielt (300). Eine wesentliche Gemeinsamkeit sei vielmehr die Ausbeutung der internierten Arbeitskräfte gewesen, während der Aspekt der ‚Erziehung‘ zur Arbeit im NS vor allem eine vorgeschobene Legitimation für „Terror, […] Erniedrigung und Bestrafung“ (302) der Insassen gewesen sei. Auch die Infrastruktur der Lager (provisorisch und transitorisch in Afrika, dauerhaft im NS) müsse unterschieden werden. 

Während es zwischen den Kolonialregimen (Spanien auf Kuba, USA auf den Philippinen, England in Süd- und Deutschland in Südwestafrika) kulturelle Gemeinsamkeiten und zum Teil auch begrenzten Wissenstransfer gegeben habe, sei ein solcher zwischen der kolonialen Lagertradition und dem NS nicht nachweisbar. Die von Zimmerer und anderen diffus beschworenen ‚Kontinuitäten zwischen Windhuk und Auschwitz‘ sind Kreienbaum zufolge weder in relevanter personeller und institutioneller Hinsicht, noch auf der Ebene des Wissenstransfers zu finden (306f.), was auch von der neueren Forschung bestätigt wird (vgl. den instruktiven Überblick bei Jakob Zollmann: From Windhuk to Auschwitz – old wine in new bottles? Review article. In: W. Hartmann (ed.): Nuanced Considerations. Recent Voices in Namibian-German Colonial History, Windhoek 2019). Keineswegs hätten die Nazis also, wie gelegentlich von Hitler in propagandistischer Absicht verkündet, die britischen Lager ‚kopiert‘. Es „fehlen die empirischen Anhaltspunkte dafür, dass sich die […] NS-Akteure vom kolonialen Beispiel hätten inspirieren lassen […]. Es ist allein die Terminologie, die den kolonialen Ursprung nationalsozialistischer Konzentrationslager suggeriert“ (318) – eine These, die auch von der Historikerin Birthe Kundrus bestätigt wird: Im NS, schreibt sie, „wurden Kolonialtraditionen vor allem behauptet, d.h. koloniale Termini wurden zitiert, ihrem ursprünglichen Kontext aber entfremdet“. Koloniale Begriffe hätten im NS „eine[…] Bedeutungsverschiebung, wenn nicht gar -umgestaltung“ erfahren (Birthe Kundrus: Kontinuitäten, Parallelen, Rezeptionen. Überlegungen zur „Kolonialisierung“ des Nationalsozialismus. WerkstattGeschichte 43).

Kreienbaums Buch ist ein nüchtern geschriebenes und hochgradig informatives Werk, das einen wichtigen Beitrag zur Versachlichung der Debatte um die Vergleichbarkeit von kolonialen und nationalsozialistischen Konzentrationslagern leisten könnte.

Jonas Kreienbaum: „Ein trauriges Fiasko“. Koloniale Konzentrationslager im südlichen Afrika 1900–1908. Hamburger Edition. Hamburg 2015, 300 S., Euro 28,00 Bestellen?