Gehört Kafka nach Israel?

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Der "Brief an den Vater", © The literary estate of Max Brod, The National Library of Israel

Jahrelang beschäftigte die Frage, wo der Nachlass des vor einhundert Jahren verstorbenen Schriftstellers aufbewahrt werden soll, die israelischen Gerichte. Weil Kafka Jude war, so argumentierten die Anwälte der Nationalbibliothek, sollte das im jüdischen Staat geschehen. Doch der Fall ist etwas komplizierter.

Von Ralf Balke

Es dürfte zweifelsohne der berühmteste Koffer der Literaturgeschichte gewesen sein. Die Rede ist von dem Gepäckstück, dass Manuskripte, Notizen und Skizzen von Franz Kafka beinhaltete, kurzum das gesamte literarische Schaffen des am 3. Juni 1924 verstorbenen Schriftstellers. Gepackt hatte ihn in aller Eile sein Freund Max Brod, der damit 1939 aus der gerade von den Deutschen besetzten Tschechoslowakei flieht. Wie man sich das vorstellen kann, zeigt die erste Folge der neuen TV-Serie „Kafka“, konzipiert von dem Regisseur David Schalko sowie dem Autor Daniel Kehlmann. Zu sehen ist, wie ein verängstigter Max Brod gemeinsam mit seiner Frau in einem völlig überfüllten Zug voller Flüchtlinge das Land verlässt und dabei in einen bizarren Dialog mit den Grenzbeamten gerät, die wissen wollen, was sich in dem Koffer befindet. „Wertlose Papiere“, so lautet daraufhin die Antwort Max Brods, dem es letztendlich gelingen sollte, den Nazis zu entkommen und mitsamt dem Nachlass in das britische Mandatsgebiet Palästina einzureisen. Ein Freund hätte sie ihm anvertraut.

Gewollt hätte Franz Kafka das alles gewiss nicht. Denn eigentlich, so sein Wunsch, sollten alle Unterlagen nach seinem Ableben vernichtet werden. Doch Max Brod, der ebenfalls literarische Ambitionen hegte, jedoch immer im Schatten des schließlich weltberühmt gewordenen Kafkas verblieb, machte genau das Gegenteil. Er bewahrte sie auf, edierte die Texte, was ebenfalls Anlass für Kritik bieten sollte, und sorgte dafür, dass die Werke letztendlich veröffentlicht wurden. Max Brod, der kinderlos geblieben war, verstarb 1968 in Tel Aviv. Den Nachlass, darunter Kafkas Korrespondenz sowie Manuskripte von seines Buches „Der Prozess“ sowie Texte wie „Beschreibung eines Kampfes“ und „Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande“, aber hatte er seiner Sekretärin und späteren Lebensgefährtin Esther Hoffe – Max Brods Ehefrau war bereits 1942 verstorben – überlassen, und zwar formal in einer Schenkung im Jahr 1947, die fünf Jahre später noch einmal mit entsprechenden Mappen, auf denen mit Datum und Unterschrift zu lesen war: „Dies ist Eigentum von Ester Hoffe“, bestätigt wurde. Die so Beschenkte quittierte das Ganze mit dem Satz: „Ich nehme diese Schenkungen an.“

Doch Esther Hoffe behielt nicht alles aus dem Nachlass. Einen Teil davon, darunter das Manuskript von „Der Prozess“ verkaufte sie an Interessenten, die dieses dann 1988 bei einer Auktion für 3,5 Millionen DM an das Deutsche Literaturarchiv in Marbach weitergaben. Alles andere bewahrte sie in Safes in der Schweiz auf oder in ihrer Privatwohnung in Tel Aviv. Möglich machte dies das Testament von Max Brod, das dieser im Jahr 1961 aufgesetzt hatte. Darin war bestimmt worden, dass Esther Hoffe sein Vermögen und seinen „gesamten literarischen Nachlass“ erhalten sollte, was sie quasi zur Alleinerbin machen sollte. Und weil Max Brod wusste, dass Esther Hoffe ebenfalls nicht ewig leben wird, hatte er in seinem Testament festgelegt, dass ihre Töchter nach dem Tod der Mutter materielle Rechte sowie Ansprüche auf Honorare und Ähnlichem haben sollen. Die Manuskripte, Briefe und sonstigen Papiere und Urkunden sollten aber, so war im Testament von Max Brod weiter zu lesen, „der Bibliothek der Hebräischen Universität Jerusalem oder der Städtischen Bibliothek Tel Aviv oder einem anderen öffentlichen Archiv im Inland oder Ausland zur Aufbewahrung übergeben werden [. . .], falls Frau Ilse Ester Hoffe zu ihren Lebzeiten nicht anderweitig über sie verfügt hat.“ Genau diese letzten Zeilen haben es in sich. Denn rein formaljuristisch hatte Esther Hoffe damit das Recht, über den Nachlass zu verfügen, wie sie es wollte. Und das tat sie dann ja auch, weshalb die Bibliotheken in Israel das Nachsehen hatten.

Als Esther Hoffe 2007 im gesegneten Alter von 101 Jahren verstarb, kam es schließlich zum Streit, der vor den Gerichten ausgetragen wurde. Israels Nationalbibliothek erhob mit Verweis auf das Testament von Max Brod Anspruch auf den den schriftlichen Nachlass von Franz Kafka, Esther Hoffes Töchter Eva Hoffe und Ruth Wiesler ebenfalls. Sie wollten sich die Option, die noch in ihrem Besitz befindlichen Manuskripte ebenso wie ihre Mutter gegebenenfalls veräußern zu können, nicht nehmen lassen. Über zwei Instanzen hinweg sahen die israelischen Gerichte die Nationalbibliothek im Recht – die Hoffe-Töchter wollten das Urteil jedoch nicht akzeptieren, weshalb der Fall vor dem Obersten Gerichtshof landete, der 2016 letztendlich gegen sie entschied, wodurch der Streit ein Ende fand. Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach, das sich auch Hoffnungen gemacht hatte, den Nachlass zu erhalten, indem man diesen den Hoffe-Töchtern abkauft, ging so gleichfalls leer aus. Und nach dem Schiedsspruch der Obersten Richter in Israel sollte es noch drei Jahre dauern, bis man Zugriff auf die in der Schweiz in Schließfächer von Esther Hoffe hinterlegten Manuskripte hatte. Doch damit war der Nachlass noch lange nicht wieder vollständig. Mehrere tausend Seiten waren irgendwann gestohlen worden, tauchten in Deutschland wieder auf und wurden ebenfalls 2019 vom Bundeskriminalamt an den Staat Israel übergeben.

Die Tatsache, dass der Oberste Gerichtshof sich damit beschäftigen sollte, wem der Nachlass von Franz Kafka letztendlich zusteht, verweist auf mehr als nur einen Streit zwischen Privatpersonen, die auf Verwertungsrechte pochen, auf der einen Seite und der israelischen Nationalbibliothek, die die Manuskripte in ihrem Fundus wissen will, auf der anderen. Denn zugleich geht es um konkurrierende Ansprüche auf das kulturelle jüdische Erbe, für das die Person Franz Kafka als Schriftsteller fast schon symbolisch steht. Nur existiert das europäische Judentum, das ihn und viele andere Autoren hervorgebracht hatte, nicht mehr. Oder anders formuliert: Hat das Europa, das seine Juden nicht haben wollte, das Recht auf die literarischen oder sonstigen künstlerischen Hinterlassenschaften dieser Menschen? Und wenn nicht, wem gehören diese Zeugnisse einer vergangenen Welt dann? Deshalb sind die Auseinandersetzungen um den Besitz von Franz Kafkas Originalmanuskripten nicht wirklich nur eine um die Texte selbst. Vielmehr dreht sich alles um die Möglichkeit, einen Anspruch auf das Erbe und damit auf die Person anzumelden.

So argumentierte das Deutsche Literaturarchiv in Marbach, dass Franz Kafkas Werk der ganzen Menschheit gehören würde und seine Texte keine explizit jüdischen, sondern universelle Sichtweisen enthielten – eine Deutung, über die sich gewiss trefflich streiten ließe. Doch die Diskussion, wie jüdisch Franz Kafka nun wirklich war oder nicht, ignoriert das eigentliche Thema, glaubt Benjamin Balint, und das sei die Frage, ob Israel einfach nur der Staat seiner Bürger ist oder ein Land für alle Juden, egal ob lebend oder bereits verstorben. „Während des gesamten Prozesses hat Israel sich so verhalten, als ob es einen Anspruch auf jedes vorstaatliche jüdische Kulturgut erheben kann, als ob alles Jüdische seine Erfüllung nur im jüdischen Staat findet und als ob die jüdische Kultur von einem teleologischen Drang nach Jerusalem getrieben wird“, so der Literaturwissenschaftler, der über die gerichtliche Auseinandersetzung, wohin der Nachlass Franz Kafkas gehört, ein Buch verfasst hat, im „Jewish Review of Books“.

Das Absurde dabei sei, dass Israel an Kafka nie ein sonderliches Interesse gezeigt habe. „Während des Prozesses stellte das Marbach-Archiv Israel auf subtile Weise als einen Nachzügler in Sachen Kafka-Industrie dar“, berichtet Benjamin Balint weiter. So ließe sich in keiner israelischen Stadt eine nach Franz Kafka benannte Straße finden. Ferner gibt es keine hebräische Ausgabe seines Gesamtwerks, während selbst eine serbokroatische schon 1978 erschienen ist. Seine drei wichtigsten Bücher wurden in den 1920er Jahren ins Englische übersetzt, ins Hebräische dagegen erst deutlich später, „Das Schloss“ sogar erst 1967. Auch die kritische Gesamtausgabe von Franz Kafkas Gesamtwerk, die 2004 von einem internationalen Wissenschaftlerteam abgeschlossen und veröffentlicht wurde, würde man in der israelischen Nationalbibliothek in Jerusalem vergeblich suchen – zumindest im Jahr 2018, als der Literaturwissenschaftler sich gegenüber dem „Jewish Review of Books“ dazu äußert.

Benjamin Balint erklärt das mit einer tiefen kulturellen und psychischen Kluft zwischen allem Israelischen und Kafkas literarischer Vision. „Ein Hypochonder, der während des Ersten Weltkriegs >wegen körperlicher Schwäche< für militärdienstuntauglich erklärt wurde, dessen literarische Figuren (wie in „Das Schloss“) >bei jedem Klopfen an der Tür zittern<, können nur schwer auf ein Echo bei Armeeangehörigen stoßen, die ihr Leben für die Verteidigung des jüdischen Staates riskierten“, glaubt Balint. „Bei Kafka unterwerfen sich die unzulänglichen, geschwächten Söhne dem Urteil ihrer Väter…. Im jungen Staat [Israel] verdrängten selbstbewusste, individualistische Söhne ihre unfähigen Väter, ließen die Passivität und den Pessimismus des Exils hinter sich und begannen neu.“ Und dann ist da noch die Frage nach Kafkas eigener Ambivalenz gegenüber seinem Judentum, die nicht nur für ihn, sondern stellvertretend für eine ganze Generation von Autoren wie ihn von Relevanz sein sollte und genau die Werke hervorbrachte, die den Reichtum und die Bedeutung dieser Literatur ausmachen.

Doch etwas Gutes hat die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes mit sich gebracht. Wie versprochen nahm die israelische Nationalbibliothek die Digitalisierung des Nachlasses von Franz Kafka in Angriff, so dass vieles der weltweiten Öffentlichkeit und der Forschung ganz einfach zugänglich gemacht wurde, was jahrzehntelang in Safes und Privatwohnung versteckt blieb.

–> Kafka Sammlung an der Nationalbibliothek Israels geht online