Julius Morgenroth : Bakteriologe – Immunologe – Mitbegründer der Chemotherapie

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Mit der Serie „Charité“ ist einem deutschsprachigen Millionenpublikum das Wissen um die Person Paul Ehrlich nähergebracht worden, der seit der NS-Zeit von den Nationalsozialisten zugunsten Robert Kochs entnannt wurde. Denn: Er war Jude. Dasselbe trifft auf Julius Morgenroth zu, der noch weniger bekannt ist, obwohl er als Mitbegründer der Chemotherapie gilt. Benjamin Kuntz widmet ihm seine neueste „Jüdische Miniatur“.

Von Riccardo Altieri

Es ist die verdienstvolle Aufgabe der „neuen Biographik“, Lebensgeschichten von Menschen zu erzählen, die nicht an erster Stelle, an vorderster Front oder in höchsten Positionen agiert haben. Unter den Nobelpreisträgern, die zweifelsohne zu den bekanntesten Persönlichkeiten der Wissenschaftsgeschichte gehören, finden wir einen Durchschnitt von jüdischen Gelehrten, der den allgemeinen Bevölkerungsanteil um ein Hundertfaches überschreitet. Doch Julius Morgenroth gehört nicht zu ihnen, weshalb er heute auch weniger bekannt ist. Benjamin Kuntz vermutet, dass er mit nur 53 Jahren schlicht zu früh verstorben war, um den Preis zu erhalten. In seinen letzten beiden Lebensjahren wurde er mehrfach und jeweils unabhängig voneinander von Fachkollegen wie Hans Schlossberger (1887–1960), Max Neisser (1869–1938) und Hans Sachs (1877–1945) vorgeschlagen. Womöglich hätte er ihn eines Tages erhalten.

Doch was war sein Lebenswerk, das diesen Vorschlägen zugrunde lag? Das zu erforschen, hat sich Benjamin Kuntz zur Aufgabe gemacht. Dabei kam er sehr überraschend zu diesem Thema. In den Unterlagen zu Ulrich Friedemann (1877–1949), einem von zwölf Mitarbeitern, die 1933 das Robert-Koch-Institut (RKI) verlassen mussten, tauchte Julius Morgenroths Witwe Gertrud, geb. Bejach, auf, die Friedemann zum zweiten Mann nahm. Morgenroth selbst war bereits 1924 verstorben und deshalb nicht von der NS-Politik betroffen. Doch Benjamin Kuntz nahm sich seiner an und verfasste die vorgelegte Biographie. Als wichtigste Quellen liegen seiner Arbeit dabei Fotos und Dokumente aus familiärem Kontext sowie die „Julius Morgenroth Collection“ im New Yorker Leo-Baeck-Institute zugrunde.

Julius Morgenroth stammte aus Oberfranken. Während seine Großeltern noch aus Bischberg nach Bamberg gezogen waren, war er von Geburt an ein Kind der Stadt an Main und Regnitz. Durch den elterlichen Hopfenhandel war ihm und seinen jüngeren Brüdern Max (1873–1932) und Sigmund (1874–1963) eine weitgehend sorgenfreie Kindheit beschert worden. Entgegen dem Klischee war Morgenroth zunächst kein guter Schüler. Erst zum Abitur hin wurden seine Zensuren sehr viel besser. So entschied er sich für ein Studium der Medizin in Freiburg, wechselte nach drei Semestern zurück nach Franken – ins unterfränkische Würzburg – und beendete sein Studium schließlich an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

Immer wieder wird seine sympathische Persönlichkeit hervorgehoben. In der „Medizinischen Klinik“ fand sich anlässlich seines überraschenden Todes eine Traueranzeige mit folgendem Text: „Ebenso wie August v. Wassermann ist er ein Kind der schönen Frankenstadt Bamberg, und fränkische Eigenart drückte sich in vielen Zügen seines Wesens, in der Art seines Humors, in seiner Freundlichkeit und Gutmütigkeit aus.“ (S. 48). Ähnlich erinnerte sich auch sein Kollege Ludwik Hirzfeld (1884–1954) später an Morgenroth.

Das Studium beendete Morgenroth 1895, ein Jahr später auch die Promotion und zog im selben Jahr nach Frankfurt am Main. Dort wollte er sich beim Pathologen Carl Weigert (1845–1904) weiterbilden lassen. Nicht einmal ein Jahr später zog er nach Berlin-Steglitz, um auf Empfehlung Weigerts bei dessen Cousin Paul Ehrlich (1854–1915) zu forschen. 1899 zog das Institut nach Frankfurt am Main um und mit ihm Paul Ehrlich, der sich als neuer Lehrer Morgenroths herausstellte. Morgenroth wurde sein engster Mitarbeiter.

Im Jahr 1904 bekam Morgenroth schließlich einen ersten Professorentitel verliehen. Doch erst 1907 erhielt er durch Habilitation die Lehrberechtigung (Venia legendi) und gar erst 1913 wurde er zum außerordentlichen Professor der Medizinischen Fakultät an der Friedrich-Wilhelms-Universität, der heutigen Humboldt-Universität. Einen ordentlichen Lehrstuhl erhielt er nie, wie es auch nahezu allen anderen jüdischen Professoren in der Zeit des Kaiserreiches erging. Er hätte zum Christentum konvertieren müssen. Seine Tochter Eva Landé (1909–2005) hielt in ihren Memoiren fest: „Mein Vater, der kein praktizierender Jude war, weigerte sich, und so wurde ihm diese wichtige Position verwehrt.“ (S. 60).

Dennoch gelang er durch seine Forschungsleistung, die Benjamin Kuntz sowohl prosaisch innerhalb der Biographie als auch in Form eines Schriftenverzeichnisses im Anhang skizziert, zu großem Erfolg und Bekanntheit. Er entwickelte mehrere Chemotherapeutika zur Bekämpfung bakterieller Infektionen, darunter Rivanol und Optochin. Von 1906 bis 1919 war er Leiter der Bakteriologischen Abteilung des Pathologischen Instituts der Charité. Zudem war er in zahlreichen medizinischen Fachgesellschaften aktiv, hielt unentwegt Vorträge und publizierte eine Vielzahl von Studien. 1932/33 fand sich ein Eintrag zu seiner Person im „Biographischen Lexikon der hervorragenden Ärzte der letzten fünfzig Jahre“ des Wiener Medizinhistorikers Isidor Fischer (1868–1943). Die Nationalsozialisten hatten jenen 1938 nicht nur nach England vertrieben, sondern auch dafür gesorgt, dass Morgenroth in Vergessenheit geriet. Und dieses Vergessen hält stellenweise noch bis heute an.

Das Glück, das Julius mit seiner Ehefrau Gertrud Morgenroth und den beiden Kindern gefunden hatte, geht aus vielen persönlichen Briefen hervor, die Kuntz gelegentlich zitiert. Auch zu Kolleginnen wie Lilly Abraham pflegte er eine innige Freundschaft. Persönlich setzte er sich intensiv für den Auf- und Ausbau der Hebräischen Universität in Jerusalem ein. Wie geschätzt Morgenroth unter seinen Zeitgenossen war, zeigt schlaglichtartig ein Abendessen am 23. Dezember 1921 in der Wohnung von Albert Einstein (1879–1955), bei dem Chaim Weizmann (1874–1952) eingeladen war und dem auch Morgenroth beiwohnte.

Julius Morgenroth starb am 20. Dezember 1924 an einer perniziösen Anämie. „Ein Jahr später“, heißt es bei Eva Landé, wobei 1926 gemeint ist, „entdeckten Minor und Murphy in Boston die Leberbehandlung für diesen B12-Vitaminmangel, der inzwischen durch Zugabe dieses Vitamins zur Ernährung vollständig kontrolliert werden kann.“ (S. 61). Es ist Benjamin Kuntz zu verdanken, dass dem „einzige[n] schöpferische[n] Forscher auf dem von ihm begründeten Gebiet der Chemotherapie bakterieller Infektionen“ (zit. n. S. 47) nun in Form einer „Jüdischen Miniatur“ gedacht wird.

Benjamin Kuntz, Julius Morgenroth: Bakteriologe – Immunologe – Mitbegründer der Chemotherapie, Berlin/Leipzig: Hentrich & Hentrich 2024, 101 S., 9,90 €, Bestellen?