Die Hamas und ihr Kalkül

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Demonstration am 9.10.2023 in München, Foto: Henning Schlottmann (User:H-stt) / CC BY-SA 4.0

Blickt man auf das Agieren der Hamas in den letzten Monaten, so lässt sich ein bestimmtes Kalkül hinter ihrem Massaker vermuten. Eine Deutung aus der Perspektive der Terrorismusforschung veranschaulicht: Möglicherweise stellte man bewusst eine strategische Falle, gegenwärtig tappen viele öffentliche Kommentatoren dort hinein.

Von Armin Pfahl-Traughber

Was motivierte die Hamas zu den Massakern vom 7. Oktober 2023? Gesicherte Antworten auf diese konkrete Frage gibt es nicht, lassen sich dazu doch nur bestimmte Hypothesen und einige Vermutungen vortragen. Die folgenden Ausführungen können der erstgenannten Kategorie zugeordnet werden, geht es doch um die Perspektive der Terrorismusforschung. Dabei unterstellt sie eine besondere Absicht bei den Gewalthandlungen, hier bezogen auf ein Kalkül für eine konkrete Wirkung. Es kann durchaus eine bewusste Planung für eine solche Strategie gegeben haben, es kann aber auch um das Ergebnis intuitiven Handelns gegangen sein. Ausgangspunkt für die Betrachtungen ist eine Definition von Terrorismus: Danach handelt es sich um von nicht-staatlichen, politisch eher schwachen Akteuren ausgehende kontinuierliche und systematische Gewalthandlungen höherer Intensität, welche aus einer latent oder manifest bestehenden entwickelten Strategie abgeleitet wurden und eine politische und psychische Wirkung auf eine oder mehrere Zielgruppen auslösen wollen.

Gerade der letztgenannte Aspekt soll fortan für die Erörterung von besonderer Relevanz sein, denn dabei geht es um das den terroristischen Akteuren eigene konkrete Kalkül bezogen auf die beabsichtigte Wirkung. Ihm ist durchaus die Einsicht bei den Handlungen bewusst, dass seine Gewalttaten nicht allein die erhofften Veränderungen bewirken. Nicht die Gewalt selbst, sondern deren Wirkung ist wichtig. Damit können terroristische Akteure auch eine politische Falle stellen, welche etwa einen Staat zu problematischen Verhaltensweisen nötigen soll. Zur Erläuterung sei hier auf die „Rote Armee Fraktion“ (RAF) verwiesen: Sie war sich als politischer Akteur bezogen auf ihre Handlungen bewusst, dass die Gewalttaten allein keinen Systemsturz einleiten könnten. Das Kalkül war vielmehr auf die Reaktionen des Staates bezogen, sollte er doch zu einer Überreaktionen mit fataler Wirkung gezwungen werden. Durchaus lösten intensive Fahndungsmaßnahmen dann gesellschaftlichen Unmut aus, gleichwohl positionierte sich die Bevölkerung eben nicht auf der terroristischen Seite.

Überträgt man die vorgenannten Einsichten auf die Hamas und dessen Massaker, so ergeben sich daraus hypothetische Einsichten für die strategischen Motive hinter den mörderischen Verbrechen. Bekanntlich starben nach dem Holocaust nie so viele Juden an einem Tag wie am 7. Oktober 2023. Die auf Filmen bewusst dokumentierten Grausamkeiten wirkten nicht nur in Israel wie ein gewaltiger Schock. Genau diese Dimension nötigte dann auch die Netanjahu-Regierung dazu, hierauf gegen die Hamas mit massiven Schlägen zu reagieren. Die einzige Alternative wäre ein duldendes und passives Warten gewesen. Es konnte aber keinen isolierten Angriff auf die Hamas als Verantwortliche geben, da diese die Bevölkerung in Gaza als Schutzschild nutzte. Gerade Krankenhäuser oder Schulen dienten als Unterkunft und Waffenlager. Man nahm die eigene Bevölkerung letztendlich in Geiselhaft. Ein Angriff auf die Hamas bedeutete demnach auch viele Tode in der Zivilbevölkerung. Alternativen bestanden in diesem Dilemma nicht, die Falle der Hamas war zugeschnappt.

Nicht im Interesse der israelischen Politik sind die Toten der palästinensischen Zivilgesellschaft, sie dienten aber der Hamas mit einer längerfristigen Strategie zur späteren Wirkung. Denn mittlerweile hat sich die Aufmerksamkeit für die Ereignisse bekanntlich komplett gedreht, die Erinnerung an die erwähnten Massaker schwindet, beachtet wird nur noch das Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung. Man kann mit guten Gründen hier die israelische Regierung kritisieren, hat sie doch durch voreilige Entscheidungen die Situation noch verschärft. Gleichwohl sollten bei Einwänden nicht Kausalitäten und Kontexte ignoriert werden. Genau ein solcher Effekt ist indessen in der westlichen Öffentlichkeit eingetreten, wo die Hamas nur noch selten ein Thema ist. Ein mögliches Kalkül ist nach Monaten voll aufgegangen, denn dauerhaft steht nur Israel am Pranger. Wenn demnach aktuell europäische Länder einen palästinensischen Staat fordern, dann ist dies gegenwärtig eine objektive Belohnung der Hamas, eben in der Folge ihres grausamen Massakers.