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Die anderen Opfer einer Leugnung
"Herr Präsident, ich schreibe Ihnen im Anschluss an die Bekanntgabe Ihrer Absicht, in Teheran vom 11. bis 12. Dezember eine Konferenz über den Holocaust zu organisieren und ich hoffe sehr, dass dieser Brief Ihre Beachtung finden wird"...
Von Mahmoud Al-Safadi
"Zuallererst bitte ich Sie, mich vorstellen zu dürfen: Mahmoud Al-Safadi, ehemaliger Häftling aus dem besetzten Jerusalem. Ich wurde vor weniger als drei Monaten aus dem israelischen Gefängnis freigelassen, wo ich 18 Jahre lang eingesperrt gewesen bin aufgrund meiner damaligen Zugehörigkeit zur Popular Front for the Liberation of Palestine [Volksfront für die Befreiung Palästinas] und meiner aktiven Rolle während der ersten Intifada im Widerstand gegen die Besatzung. Seitdem Sie zum Präsidenten gewählt worden sind, bin ich mit großem Interesse ihren Erklärungen gefolgt – insbesondere denen, die sich auf den Holocaust beziehen. Ich respektiere Ihre Opposition gegen amerikanische und westliche Vorschriften, die das iranische Nuklearprogramm betreffen, und ich finde es legitim, dass Sie sich über die Doppelmoral der Welt in Bezug auf die nukleare Entwicklung bestimmter Regime beschweren.
Aber ich bin zornig über Ihre Beharrlichkeit, mit der sie behaupten, der Holocaust wäre nie geschehen und über Ihre Zweifel an der Zahl der Juden, die in den Konzentrations- und Vernichtungslagern ermordet worden sind, an organisierten Massakern, an Gaskammern - damit leugnen Sie die universelle historische Bedeutung der Nazizeit.
Erlauben Sie mir, Herr Präsident, mit allem Ihnen gebührenden Respekt zu sagen, dass Sie alle diese Erklärungen abgegeben haben, ohne wirklich über die Industrie des Tod der Nazis Bescheid zu wissen.
Ihnen scheint es zu genügen, die Werke einiger Leugner gelesen zu haben – ein bisschen so wie ein Mann, der in einen Brunnen hineinruft und nur das Echo seiner eigenen Stimme hört. Ich glaube, dass ein Mann in Ihrer Position einen solch enormen Fehler nicht machen darf, dieser könnte gegen ihn gerichtet werden und, schlimmer noch, gegen sein eigenes Volk.
Wie Sie und Millionen von Menschen in aller Welt – unter ihnen leider unzählige Palästinenser und Araber – bin auch ich davon überzeugt gewesen, dass die Juden in Bezug auf den Holocaust übertrieben, dass sie logen, dies auch noch abgesehen von der Tatsache, dass die zionistische Bewegung und Israel den Holocaust benutzen, um ihre politische Linie zu rechtfertigen, vor allem gegen mein eigenes Volk.
Meine lange Gefangenschaft gab mir die Gelegenheit, Bücher und Artikel zu lesen, die aufgrund unserer Ideologie und unserer sozialen Normen für uns außerhalb des Gefängnisses unzugänglich sind. Diese Dokumente vermittelten mir ein umfassendes Wissen über die Geschichte des Naziregimes und den Völkermord, den es begangen hatte. Anfang der 1990er Jahre, als ich Artikel las, die von den palästinensischen Intellektuellen Edward Said und Azmi Bishara verfasst waren, entdeckte ich Fakten und Standpunkte, die zu meinen und denen vieler Palästinenser im Widerspruch standen. Als ihre Werke einmal meine Neugier geweckt hatten und das Bedürfnis, mehr wissen zu wollen, begann ich Berichte von Überlebenden des Holocaust und der Nazibebesatzung zu lesen. Diese Augenzeugenberichte waren von Menschen unterschiedlicher Nationalität geschrieben, von Juden und Nichtjuden.
Je mehr ich erfuhr, um so mehr begriff ich, dass der Holocaust wirklich eine historische Tatsache ist, und um so mehr wurde mir die gewaltige Dimension des von Nazideutschland verübten Verbrechens gegen die Juden, gegen andere soziale und nationale Gruppen - und gegen die Menschlichkeit im Allgemeinen bewusst. Ich fand heraus, dass Nazideutschland eine "neue Weltordnung" angestrebt hat, dominiert von der "reinen arischen Rasse" durch die physische Vernichtung "unreiner Rassen" und der Versklavung anderer Völker. Ich entdeckte, dass verschiedene "normale" offizielle Institutionen – Beamtenapparate, Gerichtswesen, medizinische und erzieherische Instanzen, Stadtverwaltungen, Bahngesellschaften und andere – an der Umsetzung dieser neuen Weltordnung teilgenommen und mitgearbeitet haben. Von einem
theoretischen Standpunkt aus bedrohten diese Zielvorstellung und die zu jener Zeit errungenen Siege der Besatzungsarmeen der Nazis auch die Existenz der Araber und Muslime.
Wie hoch auch immer die Zahl der Opfer gewesen ist – jüdische oder nichtjüdische –, das Verbrechen gewaltig. Jeder Versuch, es zu leugnen, entzieht dem Leugner seine eigene Menschlichkeit und setzt ihn umgehend mit auf die Seite der Folterknechte. Wer auch immer die Tatsache leugnet, dass diese menschliche Katastrophe wirklich geschehen ist, sollte nicht darüber überrascht sein, dass andere die Leiden und Verfolgungen leugnen, denen das eigene Volk durch tyrannische Führer oder ausländische Besatzer ausgesetzt ist. Ich bitte Sie, stellen Sie sich folgende Frage: Sind Hunderttausende aufgeschriebene Zeugenaussagen über Todeslager, Gaskammern, Ghettos und Massenmorde, verübt von der deutschen Armee, Zehntausende Forschungsarbeiten, auf deutsche Dokumente beruhend, zahlreiche gefilmte Szenen, einige von deutschen Soldaten aufgenommen – ist diese gesamte Menge an Beweismaterial nur fabriziert?
Kann all dies einfach als imperialistisch-zionistisches Komplott aufsummiert werden? Sind die Geständnisse hochrangiger nationalsozialistischer Amtspersonen über ihre persönliche Rolle im Vernichtungsprojekt gegen ganze Völker nur Hirngespinste einiger gestörter Geister?
Und all diese heroischen Taten der Menschen, die der deutschen Besatzung unterworfen waren – in erster Linie Russen, Polen und Jugoslawen – nur Lügen und krasse Übertreibungen? Könnte der Kampf der Sowjets gegen Nazideutschland nur eine Phantasievorstellung sein? Die Russen feiern weiterhin ihren Sieg über Nazideutschland und gedenken Millionen ihrer zivilen und militärischen Landsleute, die in diesem Kampf ihr Leben verloren haben. Lügen sie ebenfalls?
Ich fordere Sie auf, historische Studien und seriöse Zeugenaussagen zu lesen, bevor Sie ihre öffentlichen Erklärungen abgeben. Sie teilen die Welt in zwei Lager: die imperialistischen Zionisten, die den Mythos des Holocaust fabriziert haben und die Gegner des Imperialismus, die die Wahrheit kennen und das Komplott enthüllen. Sie glauben vielleicht, dass das Leugnen des Holocaust Sie an die Spitze der muslimischen Welt setzt, dass diese Verweigerung ein nützliches Werkzeug ausmacht im Kampf gegen den amerikanischen Imperialismus und die westliche Hegemonie. Indem Sie dies tun, fügen Sie jedoch in Wirklichkeit den Volkskämpfen weltweit Schaden zu.
Im günstigsten Fall machen Sie Ihr Volk und sich selbst zum Gespött der politischen Kräfte, die zwar den Imperialismus ablehnen, aber Ihre Konzeptionen und Argumente nicht ernst nehmen können aufgrund Ihres obsessiven Leugnens der Existenz einer reichlich dokumentierten und erforschten Periode, deren Folgen immer noch spürbar sind und bis heute noch diskutiert werden.
Im schlimmsten Fall entmutigen und schwächen Sie die politischen, sozialen und intellektuellen Kräfte, die in Europa und den Vereinigten Staaten zwar die von George Bush vorgenommene Politik der Konfrontation und des Krieges ablehnen, aber gezwungen sind davon auszugehen, dass Sie ebenfalls die Welt gefährden durch Ihre Erklärungen, die den Völkermord leugnen und durch Ihr Nuklearprogramm.
Was den Kampf meines Volkes für seine Unabhängigkeit und Freiheit anbelangt: Vielleicht betrachten Sie die Leugnung des Holocaust als einen Ausdruck der Unterstützung der Palästinenser? Auch da irren Sie sich.
Wir kämpfen für unsere Existenz und unsere Rechte und gegen die historische Ungerechtigkeit, die uns 1948 zugefügt worden ist. Wir werden unseren Sieg nicht erlangen und unsere Unabhängigkeit, indem wir den Völkermord, der gegen das das jüdische Volk begangen worden ist, leugnen, auch wenn die Kräfte, die heute unser Land besetzen und uns enteignen, Teil dieses Volkes sind.
Mahmoud Samadi ist ehemaliger palästinensischer Militant. Er war 18 Jahre lang in Israel im Gefängnis und wurde 2006 freigelassen. Der französische Text, eine Übersetzung aus dem Englischen von Gilles Berton, wurde am 4. Dezember 2006 in "Le Monde" veröffentlicht. Das englische Original war im Internet nicht verfügbar, deswegen ist der englische Text eine Übersetzung des französischen Textes. Englische Übersetzung von Yoshie Furuhashi. Übersetzung ins Deutsche K. Badr