Jump to navigation
Olympiade: Wer braucht eigentlich Medaillen?
Der Schriftsteller Saul Bellow hat einmal über uns Israelis gesagt, dass wir immer danach streben, weltweit in jedem Bereich die Besten zu sein. Ehrgeiz ist etwas Löbliches, aber manchmal ist er wirklichkeitsfremd...
Von Jerrold Kessel
Manche sagen, dass wir nicht zu siegen wissen. Besorgniserregender ist jedoch, dass wir nicht zu verlieren wissen.
Auch ich wollte, dass Arik Zeevi uns eine Medaille bringt. Ich war davon überzeugt, dass er gewinnen wird. Als er jedoch verlor, war der Judokämpfer noch mehr ein Vorbild für den israelischen Sport, als er es mit seiner Medaille in Athen gewesen war. Als wahrer Sportler sagte Zeevi: „Der holländische Judoka, der mich besiegt hat, hat die Medaille verdient, und ich nicht.“ Ein deutlicher Kontrast zu den Sportkommentatoren, die nur „eine weitere Enttäuschung für den israelischen Sport“ verdammten.
„Mal gewinnt man, mal verliert man“ ist eine Weltanschauung, auf die sich viele nicht wettkampforientierte Sportler zurückziehen. Den Sportlern selbst bringt diese Einstellung nicht viel. Sie brauchen die Einstellung von Michael Phelps, der glaubt, dass „nichts im bereich des Unmöglichen liegt“ und man alles bekommen kann, wenn man es nur will. auch wenn es nicht jeder kann. Wir, deren Aufgabe es ist, unsere Champions zu ermutigen (im Sieg und in der Niederlage), müssen uns an diese Einstellung halten und die Sportler nicht verdammen, wenn sie nicht gegen Phelps oder einen begabten Holländer bestehen.
Unser nationales Ethos schreibt uns wohl vor, dass wir uns keine Niederlage leisten können. Insofern ist es vielleicht kein Wunder, dass sich unsere Sportsendungen in der ersten Woche der Olympiade auf Judo konzentriert haben. Diese Sportart hat uns in der Vergangenheit Medaillen eingebracht, und außerdem trägt sie den Zauber unmittelbarer Befriedigung bzw. unmittelbarer Verzweiflung in sich.
Das Streben nach einem Sieg ist ein edles Streben. Der Sport bewegt sich auf der Achse zwischen Sieg und Niederlage; er ist ein trügerischer kompetitiver Prozess, voll von Wendungen. Wenn Sportler nicht gewinnen, verlieren sie stets; nie ‚werden sie besiegt’. Eine wahre Sportkultur verlangt den Willen zum Siegen, aber gleichzeitig auch den Edelmut, die Niederlage gegen einen würdigeren Wettbewerber einzukalkulieren.
Der Schriftsteller Saul Bellow hat einmal über uns Israelis gesagt, dass wir immer danach streben, weltweit in jedem Bereich die Besten zu sein. Ehrgeiz ist etwas Löbliches, aber manchmal ist er wirklichkeitsfremd. Unter bestimmten Bedingungen ist er gar gefährlich. Die Linie, die zwischen Selbstbewusstsein und Eitelkeit verläuft, zwischen „Ich muss gewinnen“ und „Ich bin sicher, dass ich gewinne“, ohne auf die Mitbewerber zu achten, ist sehr dünn. Sich auf dieser Linie zu bewegen, kann der Schlüssel zu sportlichem Erfolg sein.
Das Diktum Bellows ist an sich positiv, wenn es sich umsetzen lässt. Aber wie viele kleine Länder gewinnen mehr als eine olympische Medaille? Wäre es, statt „noch eine Niederlage“ zu verfluchen und „noch ein verlorene Medaille“ zu beklagen, nicht vorzuziehen, stolz darauf zu sein, wenn ein israelischer Schütze oder Schwimmer weltweit auf den zwölften Platz kommt? Wir hätten nicht auf den Eurosport-Kommentatoren warten müssen, der mehrmals unsere Schwimmer dafür lobte, dass sie so viele nationale Rekorde gebrochen haben, um Freude zu verspüren.
Selbstverständlich können wir es auch so handhaben wie Katar, die Türkei oder Holland, die Champions importieren. Wir müssten einfach nicht nur die Falashmura hierher bringen, sondern auch Tausende von Äthiopiern, unter denen sich gewiss ausgezeichnete Langstreckenläufer befinden, die ein Füllhorn von Medaillen über uns ausschütten können.
(Haaretz, 19.08.08)