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Abbas ruft zu Neuwahlen auf
Im großen Saal der Mukata, dem ehemaligen Hauptquartier Arafats in Ramallah, hatten sich führende Palästinenser versammelt, Fatah-Politiker wie Hanan Aschrawi und Geistliche mit Turbanen, lila Käppchen und schwarzen Zylindern. Vertreter der Regierung fehlten, denn die Hamas hatte zu einem Boykott der "wichtigsten Rede von Präsident Abbas" aufgerufen. In der ersten Reihe saß Muhammad Dahlan, ehemaliger Sicherheitschef im Gazastreifen...
Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem, 16. Dezember 2006
Am Freitag hatte die Hamas Dahlan vorgeworfen, das "Komplott zur Ermordung von Premierminister Ismail Hanija geplant zu haben". Als Hanija von einer Tour nach Teheran und Sudan mit dutzenden Millionen Dollar Spendengeldern nach Gaza zurückkehren wollte, hatte Israel rechtzeitig Wind vom Inhalt seines schweren Koffers erhalten. Kurzerhand schickten sie die europäischen Beobachter vom Grenzübergang Rafah zwischen Gaza und Ägypten nach Hause und alarmierten Kairo über den geplanten Schmuggel von Bargeld.
Die Ägypter spielten mit und verlangten von Hanija, ihnen das Geld zu übergeben, um es in eine Bank einzuzahlen. Derweil stürmten Hamaskämpfer den Grenzübergang, zertrümmerten die Computer und plünderten die Möbel. Es gab mehrere Verletzte bei Schießereien mit den Fatah-treuen Wächtern des Übergangs und mit ägyptischen Soldaten.
Nachdem er das eingesammelte Geld abgegeben hatte, durfte Hanija heimkehren. Doch knapp hinter der Grenze fielen Schüsse. Ein Leibwächter Hanijas, der neben dem Premierminister im Auto saß, wurde tödlich getroffen. Der Sohn Hanijas erhielt eine Kugel in die Schulter. Für die Hamas stand fest: das war Rache. Denn zwei Tage zuvor waren drei kleine Kinder eines hohen Beamten der Fatah auf offener Straße, in ihrem Auto, auf dem Weg zur Schule erschossen worden. Über 90 Kugeln trafen das Auto. In Gaza gab es keine Zweifel: Das war eine Tat der Hamas.
Mahmoud Abbas eröffnete seine Rede mit einer ausführlichen Beschreibung dieses "abscheulichen Verbrechens" und bezeichnete den Mord an drei unschuldigen Kindern, "die heute im Himmel beten", als ein "ungeheuerliches Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Die mutmaßlichen Täter, also die Hamas, nannte er nicht beim Namen. Die nächste Kritik an der Hamas folgte sogleich. "Anstatt den Premierminister mit Blumen zu empfangen, kamen seine Anhänger mit Gewehren und plünderten den Grenzübergang." Mit allen Details beschrieb Abbas, wie selbstlos und sich aufopfernd er selber und vor allem Mahmoud Dahlan den Ägyptern und Israelis darum bemüht hätten, den Weg des ausgesperrten Premierministers zurück nach Gaza zu ebnen. "Und dann wird behauptet, dass Dahlan eine Verschwörung, einen Komplott, gegen Hanija geplant hätte?" Ohne viel Applaus zu erhalten fuhr Abbas mit seinen direkten und indirekten Vorwürfen gegen die Hamas fort: "Die Entführung nur eines einzigen israelischen Soldaten hat inzwischen fünfhundert Palästinensern das Leben gekostet, zu tausenden Verletzten und tausenden zerstörten Häusern geführt."
Das brachte Sprecher der Hamas zur Weißglut. "Da will uns dieser Lügner Abbas doch tatsächlich die Verbrechen der Israelis in die Schuhe schieben", erboste sich Außenminister Mahmoud Asahar bei Al Dschesira. Und während Abbas argumentierte, dass alle Macht vom Volk ausgehe und deshalb Neuwahlen für das Amt des Präsidenten und für das Parlament notwendig seien, fragte Asahar: "Das Volk hat sich doch im Januar mit zwei Dritteln Mehrheit für die Hamas entschieden. Falls Abbas müde ist, soll er gefälligst zurücktreten und seinen Posten zur Verfügung stellen." Auch die nicht ganz verfassungstreue Behauptung des Präsidenten, dass er im Rahmen der Osloer Verträge die Berufung der Hamasregierung unterzeichnet habe und sie deshalb auch wieder entlassen könne, wollten Sprecher der Hamas nicht akzeptieren. "Das ist ein Putsch. Das widerspricht den Grundsätzen der Demokratie."
Niemand weiß, wie es weitergeht. Denn Abbas hat kein Datum für die Neuwahlen genannt. Schon bald, in drei Monaten, sagt einer seiner Berater, erst Mitte nächsten Jahres, sagt ein Anderer. Unklar ist auch, ob und wie Abbas sich durchsetzen kann. Und falls es zu Neuwahlen kommen sollte, ist ungewiss, ob sich die Hamas daran beteiligt und bereit zu der von Abbas entworfenen "nationalen Einheit" wäre.
"In der arabischen Welt kann keine gewählte Mehrheit mehr regieren. Nur ein nationaler Konsens kann noch Bürgerkriege im Libanon oder in Palästina verhindern", kommentierte ein Experte bei Al Dschesira.
© Ulrich W. Sahm / haGalil.com