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Lasst die Welt besorgt sein
Am 2. April 1963 lief Shimon Peres, damals Generaldirektor des israelischen Verteidigungsministeriums, durch die Korridore des Weißen Hauses. Er wurde von Meyer Feldman, Präsident John F. Kennedy’s Berater für jüdische Angelegenheiten, begleitet. Peres war in Washington zu Verhandlungen über den Erwerb von Hawk-Flugabwehrraketen. Dies war der erste bedeutende Waffenhandel zwischen den USA und Israel...
Von Yossi Melman, Ha’aretz, 13.12.2006
Übersetzung von Daniela Marcus
Per Zufall kam Kennedy vorbei und schlug vor, dass Feldman ein Treffen zwischen ihm und Peres arrangieren solle. Dieses Treffen dauerte 20 Minuten. Und es widmete sich beinahe ausschließlich Israels Atomplänen. Kennedy war sehr besorgt über die weltweit starke Zunahme von Atomwaffen. Sein Verteidigungsminister, Robert McNamara, hatte die Befürchtung geäußert, dass bis zu den 1970er Jahren sechzehn Länder im Besitz nuklearer Waffen sein würden. Seit dem Beginn seiner Amtszeit im Jahr 1961 hatten Kennedy und seine Mitarbeiter Israel bezüglich Details über die Aktivitäten des Atomreaktors in Dimona unter Druck gesetzt. Amerikanische Geheimdienste hatten Luftaufnahmen des Reaktorgebäudes gemacht. Daraufhin war Israels damaliger Premierminister David Ben Gurion im Dezember 1960 gezwungen, zuzugeben, dass Israel bei Dimona einen Reaktor und nicht, wie von israelischen Sprechern zuvor behauptet, eine "Textilfabrik" baute.
Als der Bau des Reaktors bekannt wurde, versuchten die USA, Israel an der Entwicklung einer Anlage zu hindern, die Plutonium spalten kann und an der Konstruktion weiterer Anlagen, die zum Bau einer Atombombe führen könnten. Ben Gurion war gezwungen, Besuchen von offiziellen Vertretern der US-amerikanischen Kommission für atomare Energie zuzustimmen. Der erste Besuch fand im Jahr 1961 statt und ein weiterer im Jahr 1962.
Gemäß Dokumenten in der Kennedy-Bücherei in Boston, sagte Kennedy gegenüber Peres während des Treffens im Weißen Haus im Jahr 1963, dass die USA die Entwicklung von Israels atomarem Potential aufmerksam verfolgten und er fragte Peres, was er dazu zu sagen habe. Der überraschte Peres erwiderte: "Ich kann Ihnen klar sagen, dass wir nicht diejenigen sein werden, die Atomwaffen in die Region einführen. Wir werden nicht die ersten sein, die das tun." Es war ein vorübergehender Geistesblitz, der dazu bestimmt war, Kennedys Druck und die Verschlechterung der bilateralen Beziehungen abzuwehren. Denn Israel suchte nach einem neuen Verbündeten, nachdem die besonderen Beziehungen zu Frankreich, dem Lieferanten des Reaktors, beendet waren.
Später rügte Levy Eshkol, der Nachfolger von Ben Gurion, Peres auf Grund der Worte, die dieser geäußert hatte. Er war der Meinung, Peres sei zu weit gegangen. Doch rückblickend betrachtet übernahmen Eshkol und alle folgenden Premierminister diese Äußerung und machten sie zu Israels offizieller Politik.
In einen Ballon stechen
Diese mittlerweile bekannte Politik der Zweideutigkeit steht nach den Äußerungen des israelischen Premierministers Ehud Olmert am vergangenen Montag gegenüber einem deutschen Fernsehsender wieder einmal im Mittelpunkt. Peres hatte in einem 1991 stattgefundenen Interview mit Avner Cohen, dem Autor des Buches "Israel und die Bombe", zugegeben, dass er seine Äußerung spontan hervorgezaubert hatte. "Ich wollte gegenüber dem Präsidenten nicht lügen", sagte er. "Doch ich konnte ihm auch keine direkte Antwort auf seine Frage geben. Um aus dieser schwierigen Lage herauszukommen, versuchte ich ihm irgendetwas zu sagen. Und dies wurde über Jahre hinweg zu Israels Politik." Mit anderen Worten: die öffentliche Äußerung bezüglich Israels Atompolitik, die vielleicht die wichtigste Substanz von Israels Sicherheitsstrategie ist, wurde auch durch eine Art Versprecher geboren.
In Folge von Olmerts Versprecher wurde eine weitere Nadel in den Ballon der Zweideutigkeit gestochen. Dies war eine Woche von "nuklearen" Versprechern. Es begann mit dem designierten US-Verteidigungsminister Robert Gates. Als dieser während einer Kongress-Anhörung gefragt wurde, warum der Iran Atomwaffen haben wolle, erklärte er, der Iran sei umgeben von Ländern, die bereits nuklearisiert seien, unter ihnen Israel. Olmert wiederholte diesen Versprecher. Er kritisierte Versuche, Irans Atompläne zu rechtfertigen, indem man sage, Israel sei bereits Atommacht. Dabei erwähnte er Israel in einem Atemzug mit Frankreich, Russland und den USA als Länder, die bereits Atomwaffen besitzen. Diese Bemerkung (sein Büro beeilte sich zu verkünden, dass Olmert nicht gesagt habe, dass Israel Atomwaffen besitzt) verursachte einen heftigen Sturm. Doch es scheint, dass dieser Sturm nicht gerechtfertigt war.
Es stimmt, dass Israel das einzige Land mit Atomwaffen ist, das nicht bestätigt, diese zu besitzen bzw. es bis zu dieser Woche nicht getan hat. Die ganze Welt nimmt jedoch an, dass Israel diese Waffen tatsächlich hat. Gemäß dem Atomwaffensperrvertrag von 1968 erkannte die Welt das Recht der USA, der früheren Sowjetunion (ersetzt durch Russland), Chinas, Großbritanniens und Frankreichs an, Atommächte zu sein. Indien und Pakistan sind im Grunde auch Atommächte. Und während die Welt deren Recht, Atommächte zu sein, nicht anerkennt, akzeptiert sie zumindest die Tatsache, dass sie es sind. Vor nicht allzu langer Zeit trat Nordkorea anscheinend diesem Club bei.
Über die Jahre hinweg hielt Israel diese Zweideutigkeit aufrecht. Dies bot Raum für einen gewissen Mangel an Gewissheit und war dazu bestimmt, die Feinde Israels abzuschrecken. Doch es gab viele, die eine andere Politik vorschlugen. Einer dieser Vorschläge war, über "eine Bombe im Keller" zu sprechen. Das bedeutet, Israel sollte sagen, es habe eine atomare Option. Moshe Dayan z. B. favorisierte diese Aussage. Andere wiederum waren der Meinung, Israel solle einfach sagen, es besäße Atomwaffen.
Die Politik zahlte sich aus
Alle Regierungen, ob sie nun vom rechten oder vom linken politischen Spektrum kamen, entschieden sich, der Politik der Zweideutigkeit zu folgen. Sie besaß einen zweifachen Vorteil: Der US-amerikanische Druck auf Israel wurde gemindert und führte im Grunde zu Amerikas implizitem Einverständnis mit der israelischen Nuklearisierung. Darüber hinaus wirkte sie als Abschreckung auf die arabischen Staaten.
Die Zustimmung der USA wurde vom damaligen US-Präsident Richard Nixon und seinem nationalen Sicherheitsberater Henry Kissinger während eines Gesprächs mit der damaligen israelischen Premierministerin Golda Meir im Jahr 1969 ausgearbeitet. Die Besuche der amerikanischen Inspektoren im Reaktor in Dimona wurden damals gestoppt. (Diese Besuche waren aus zwei Gründen nicht sehr effektiv: Wie Abba Eban dem Autor dieses Artikels gegenüber einst zugab, hatte Israel in der Umgebung des Reaktors alle möglichen Attrappen gebaut, so dass die Inspektoren die echte Anlage übersehen würden. Zum zweiten war es nicht die Absicht der Inspektoren zu entdecken, was es dort wirklich gab, weil sie bereits wussten, was der eigentliche Zweck des Reaktors war.) Somit erklärten die Amerikaner, sie würden keinen weiteren Druck auf Israel ausüben während Israel sich dazu verpflichtete, keine Tests durchzuführen, keine Erklärungen abzugeben und insbesondere keine Drohungen zu äußern, die den Gebrauch dieser Waffen suggerieren könnten.
Diese Prinzipien, die das Nebenprodukt der Politik der Zweideutigkeit sind, wurden nicht verletzt, selbst wenn israelische Staatsführer Versprecher von sich gaben, die über die offizielle Politik hinausgingen. Der frühere Staatspräsident Ephraim Katzir sagte im Dezember 1974, Israel habe "atomares Potential". Als er von einem Journalisten gefragt wurde, ob seine Worte mit der Absicht geäußert worden seien, Angst zu erzeugen, antwortete er: "Lasst die Welt besorgt sein." Katzir wusste, worüber er sprach. Als Forscher am wissenschaftlichen Weizmann-Institut hatte er Zugang zu atomaren Angelegenheiten. Und im Jahr 1962 war er Mitglied der offiziellen israelischen Eskorte für die Atominspektoren während deren Besuch im Dimona-Reaktor.
Kurz nachdem Professor Yuval Ne’eman, ein Mitglied der Atomenergie-Kommission und Träger des nuklearen Geheimnisses, im Jahr 1990 Wissenschaftsminister geworden war, gab er Erklärungen von sich, die suggerierten, dass jeder Angriff auf Israel eine extrem ernsthafte Reaktion hervorrufen würde. Diese Bemerkung wurde vor dem Hintergrund von Saddam Husseins Drohungen im April 1990 geäußert. Dieser hatte gesagt, dass der Irak "halb Israel verbrennen" könnte. Doch neun Monate später griff Hussein Israel mit Scud-Raketen an, die konventionelle Sprengköpfe –und nicht die chemischen aus seinem Arsenal- hatten. Viele der Analysten glauben, Hussein benutzte deshalb keine chemischen oder biologischen Sprengköpfe, weil er dachte, Israel würde mit nuklearen Waffen reagieren. Wenn das so ist, hat sich die Politik der Zweideutigkeit in diesem Fall ausgezahlt.
Einige Analysten glauben auch, dass Israels Politik der Grund dafür war, dass der damalige ägyptische Präsident Anwar Sadat entschied, begrenzte Ziele im Krieg gegen Israel im Jahr 1973 zu setzen, woraufhin der politische Prozess begann. Diese Annahme basiert auf einer späteren Äußerung Sadats, nach der er geschlussfolgert habe, dass die arabischen Staaten Israel auf Grund dessen nuklearen Arsenals nicht auslöschen könnten. Zu jeder Diskussion über die Politik der Zweideutigkeit muss die so genannte "Begin-Doktrin" hinzugefügt werden. Der damaligen Ministerpräsident Menachem Begin machte klar, dass Israel keinen Atomstaat in der Region erlauben könnte, der Israels Existenz bedrohe. Aus diesem Grund befahl Begin der israelischen Luftwaffe im Jahr 1981 einen Angriff auf den Atomreaktor im Irak. In welchem Ausmaß israelische Staatsführer an dieser Doktrin festhalten, wird sich nun, da der Iran droht, Atomwaffen zu entwickeln, zeigen.
Wegen der Sensibilität der Frage, ob Israel die Möglichkeit besitzt, den Iran anzugreifen und ob es sich entscheidet, dies zu tun falls die internationale Gemeinschaft keinen Erfolg damit hat, den Iran vom Erhalt atomarer Waffen abzuhalten, ist die Politik der Zweideutigkeit von noch größerer Bedeutung. Jede Änderung wird einerseits dem Iran die Ausrede geben, Atomwaffen zu bauen und wird es andererseits für Israel schwerer machen, seinen Standpunkt zu erklären. Nukleare Zweideutigkeit ist seit der Staatsgründung eine der erfolgreichsten Säulen der israelischen Politik. Anscheinend hat die Regierung Olmerts nicht die Absicht, diese zu ändern. Und richtig so.