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USA, Europa, Nahost: In aller Interesse
Die absehbare Niederlage von Hillary Clinton gegen Barack Obama verweist nicht nur auf einen tiefsitzenden Änderungswillen, sondern auch auf tektonische Verschiebungen innerhalb der US-amerikanischen Wählerschaft: Mittelfristig geraten die weißen, angelsächsischen, protestantischen Wähler in die Situation einer – wenn auch der größten – Minderheit. Damit verliert der Nahe und Mittlere Osten ideologisch ebenso sehr an Bedeutung, wie sich die Interessen der Schwarzen, der lateinamerikanischen und vor allem asiatischen Immigranten und ihrer Nachfahren dem südlichen Teil des Kontinents bzw. Amerikas Rivalen in Ostasien zuwenden werden...
Von Micha Brumlik
Gastkolumne in der sozialistischen Tageszeitung "Neues Deutschland" erschien am Samstag, 17. Mai 2008
Sowohl des Debakels in Irak, der wachsenden Bedeutung Chinas und des Lernprozesses über die Unverträglichkeit der Ölwirtschaft wegen wird sich das nationale Interesse der USA auf den pazifischen Raum richten und vom Nahen Osten abkehren. Damit fällt die Krisenregion der EU gleichsam auf die Füße, und die ist gut beraten, diesen Zeitpunkt nicht passiv abzuwarten, sondern aktiv zu gestalten.
Der französische Präsident, un-stet wie eh und je, produziert am laufenden Bande meist untaugliche Ideen; gleichwohl findet sich unter der Überschussproduktion das eine oder andere brauchbare Stück. Dazu gehört der in Deutschland bisher ungeliebte Gedanke einer »Mittelmeerunion«. In der Tat ist nicht einzusehen, warum, was den Deutschen und Amerikanern recht ist – nämlich die Integration der Türkei in die EU – den Franzosen im Hinblick auf die Maghrebstaaten nicht billig sein soll. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch eine neue Perspektive für die wegen des Holocaust unabweisbare und unaufgebbare deutsche Verantwortung gegenüber dem jüdischen Volk, zumal im Staat Israel, skizzieren.
Anstatt immer wieder aufflackernder Gedanken an Sanktionen, mehr oder minder wirkungslos bleibender Hintergrundgespräche oder moralischer Empörung über die Besatzungsherrschaft im Westjordanland wäre den Israelis die Prämie einer Mitgliedschaft in der EU für den Fall anzubieten, dass die seit Jahren debattierte Zweistaatenlösung durch einen Rückzug aus der Westbank endlich Wirklichkeit wird. Mehr noch als die Türkei mit ihren osmanischen Wurzeln ist der Staat Israel »von Europa« kulturell geprägt, und zwar in doppelter Hinsicht: des Nationalstaatsgedankens und des von europäischen Juden erlittenen Antisemitismus wegen. Dabei käme Deutschland im gleichen Sinne eine federführende Rolle zu wie Frankreich im Falle Maghrebs.
Sorgen darüber, ob man sich über eine solche Perspektive nicht die Konflikte oder den Terrorismus der islamisch-arabischen Welt ins Haus holt, sind unbegründet: Wäre doch eine Mitgliedschaft Israels das Siegel auf einen erfolgreich beeendeten Friedensprozess. Im übrigen wird der dann gegründete Palästinastaat westlich der Türkei liegen und nichts spricht dagegen, auch Palästina Assoziationsverhandlungen anzubieten, sobald das politische System jenes Minimum an Demokratie aufweist, das die Beitrittskandidatin Türkei heute schon erreicht hat.
Von deutscher Verantwortung ist leicht reden, wenn es lediglich um das Entsenden einiger Schiffe der Bundesmarine vor die libanesische Küste oder um treuherzige Versicherungen geht. Wahre Verantwortung zeigt sich dort, wo wirklich folgenschwere Konsequenzen und damit auch innen- und außenpolitische Konflikte ins Haus stehen. Diese auszutragen ist aber allemal besser, als passiv den Zeitpunkt abzuwarten, da den Europäern der Nahost-Konflikt auf die Füße fällt.