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Tanz in ein neues Leben

Im Studio des israelischen Choreographen Ohad Naharin finden Opfer palästinensischer Selbstmordanschläge zurück zum Glück...

Von Thorsten Schmitz
Süddeutsche Zeitung v. 31. Dezember 2007


Ohad Naharin sitzt auf dem Boden seines Tanzstudios in Tel Aviv im Schneidersitz und redet wie ein Hypnotiseur. Um ihn herum lauschen zwanzig junge Frauen der dunklen Stimme des Choreographen. "Lasst die Augen geschlossen. Wedelt mit Euren Armen in der Luft, als wolltet Ihr Wolken vertreiben. Stellt Euch vor, die Erde würde jetzt beben. Ihr habt keine Kontrolle mehr über Eure Körper." Mit geschlossenen Augen ruckeln die Frauen, als würden sie tatsächlich von einem Beben durchgeschüttelt. Tali fällt zur Seite. Sie kann die Balance nicht halten, da sie nur noch das linke Bein besitzt. Die 24-jährige Michal muss den Anweisungen Naharins von ihrem Rollstuhl aus folgen. Vor vier Jahren hat sie beide Beine verloren.

Naharin will, dass die Mädchen sich noch mehr gehen lassen: "Ihr seid jetzt in einem Bus, auf einem holprigen Weg, und der Bus rast über Schlaglöcher." Die Mädchen schütteln ihre Arme und Oberkörper, als stünden sie unter Strom. Einige purzeln, ein paar lächeln, andere verziehen keine Mine, so sehr sind sie damit beschäftigt, sich gehen zu lassen. Plötzlich öffnet Naharin seine Augen: "Vielleicht war das Bild vom Bus keine so gute Idee." Er lacht. Dann lachen auch die Mädchen - was ungewöhnlich ist. Denn die meisten von ihnen schütteln sich im Tanzstudio des Susan Dellal Centers, weil sie zur falschen Zeit in Bussen in Tel Aviv oder Jerusalem saßen und Opfer wurden von palästinensischen Selbstmordattentätern.

Bei manchen Mädchen ist die Haut durch Verbrennungen und Bombensplitter vernarbt. Eine kann ihre linke Hand nicht bewegen, obwohl sie bereits 15 Operationen über sich hat ergehen lassen müssen. Anderen mussten Beine amputiert werden, eine hört auf einem Ohr nicht mehr, weil die Detonation ein Trommelfell zerstört hat. Alle Mädchen leiden zudem an den unsichtbaren Folgen der Anschläge: Sie werden nachts im Bett von Alpträumen und tagsüber in überfüllten Einkaufszentren von Panikattacken heimgesucht. Es fällt ihnen schwer zu akzeptieren, dass die Anschläge sie aus ihrem Alltag herausgerissen und in Operationssäle und Rehakliniken geschleudert haben.

Die Filmemacherinnen Alona Seroussi und Keren Jecheskeli-Goldstein hatten sich nach einer Welle von palästinensischen Selbstmordanschlägen in Israel vor vier Jahren die schlichte Frage gestellt: Was passiert eigentlich mit den Opfern, die die Anschläge überleben? In den israelischen Zeitungen liest man immer detaillierte Beschreibungen von den Todesopfern, wie sie hießen, was ihre Hobbies waren. Über die Opfer, die Anschläge überlebt haben, weiß man nicht mehr als eine Zahl. Besonderes Interesse hatten die beiden Frauen an weiblichen Opfern: "Die israelische Gesellschaft tut sich schwer mit den weiblichen Opfern. Frauen müssen schön sein. Wenn Männer verletzt werden, verleiht ihnen das Überleben noch etwas Heldenhaftes", sagt Seroussi. Sie nennt das Beispiel eines berühmten Fernsehmoderators in Israel, dessen Gesichtshaut im Libanonkrieg nach einem Feuergefecht verbrannt war. Er ist fast täglich auf Sendung. "Eine Frau mit sichtbaren Verletzungen werden wir so schnell nicht als Moderatorin im israelischen Fernsehen sehen", glaubt Seroussi.

Weibliche Anschlagsopfer seien "zweimal verletzt, physisch und psychisch". Nach Gesprächen mit verletzten Mädchen hatten sie die Idee für eine alternative Dokumentation. Sie wollten keinen Film über das bloße Leid drehen, sondern einen, wie sich innere und äußere Verletzungen überwinden und in den Alltag integrieren lassen. Tanz sei eine vorzügliche Therapie, um mit einem veränderten Körper zurechtzukommen, hatten sie von Trauma-Experten erfahren. So nahmen sie Kontakt auf zu Israels bekanntestem Choreographen Ohad Naharin, dem Chef der renommierten "Batsheva Dance Company". Sein Studio steht abends jedem offen, der sich bewegen, aus der Haut fahren will. Naharin war von der Idee der Frauen begeistert, einen Workshop für die verwundeten Mädchen auszurichten. "Ich übe immer nur mit gesunden Tänzern, die perfekte Körper haben. Der Workshop hat geholfen, meinen Schönheitsbegriff zu korrigieren", sagt er.

Vier Monate lang trafen sich die Mädchen einmal in der Woche im Studio. Es dauerte lange, bis sie überredet werden konnten, auch vor der Kamera zu tanzen. Irgendwann tanzten sie einfach los. Zeigten sich in den Pausen ihre Tattoos, redeten ohne Scham über ihre Verletzungen, über das Dickwerden im Rollstuhl, über die Sehnsucht nach einem Freund - oder danach, im Bikini an den Strand zu gehen, ohne sich für die Narben zu schämen.

Ilana sagt, das Tanzen habe sie "zum glücklichsten Menschen gemacht". Ilana, 25, ist eine der Opfer, deren Verletzungen man bis heute sieht. Sie hatte einen Bus verpasst, einen späteren "gerade noch so" erwischt und hinten Platz genommen. Sie kann sich noch an das Geräusch der Bombe erinnern. Sie macht ein langes Zischgeräusch und streichelt dabei ihren schwarzweißen Kater Gabi. Drei Jahre lang war sie ständig in Krankenhäusern. "Die fröhliche und die traurige Ilana hatten sich dabei entfremdet", sagt sie. Der Tanzkurs habe die beiden "wieder miteinander versöhnt", sagt Ilana. Sie spielt wieder Klarinette und studiert Betriebswirtschaft, zieht im Sommer Miniröcke an. Wenn sie einer anstarrt, klärt sie ihn über die Wunden auf. Und wenn sie schlechte Laune hat, sagt sie, "schminke ich mich und gehe tanzen".

Eine neue Leichtigkeit

Auch Aviv Ronen, 25, hat der Tanzkurs geholfen, wieder selbstbewusst zu sein. In einer Vorlesungspause sitzt die Jurastudentin auf einer Wiese, blättert in ihren Uni-Büchern. Anfangs sei es ihr sehr schwergefallen, die Vorlesungen zu besuchen. Die vielen Menschen hätten sie abgeschreckt. Aviv hört auch nur noch auf dem linken Ohr, manchmal versteht sie nicht, was gesagt wird. Nachfragen mochte sie oft nicht, aus Angst vor Fragen nach dem Grund dafür. Auch Aviv saß in einem Bus, zusammen mit ihrem damaligen Freund Omri, als ein Palästinenser sich ein paar Reihen hinter ihr in die Luft sprengte. Irgendwann ist sie im Krankenhaus wieder aufgewacht. Omri hat den Anschlag nicht überlebt. Es habe sie unendlich viel Kraft gekostet, sich morgens aus dem Bett zu erheben. Der Kurs habe ihr geholfen, wieder Lust am Leben zu spüren: "Plötzlich hatte ich wieder an etwas Spaß. Ich habe mich schon Tage vorher auf die Improvisationsabende gefreut." Die Stunden im Studio hätten ihrem Leben "eine Leichtigkeit ins Leben zurückgebracht". Und eine Idee für die Zukunft: Neben ihrem Jurastudium will sich Aviv nun in Abendkursen als Tanztherapeutin ausbilden lassen.

Mit freundlicher Genehmigung der Süddeutschen Zeitung und der DIZ München GmbH

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Category: Gesellschaft
Posted 01/02/08 by: admin



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