Israels Botschafter Shimon Stein verabschiedete sich vom Berliner diplomatischen Parkett. aber nicht von Deutschland...
Ein Gespräch mit Lutz Lorenz und Moritz Reinighaus
Exzellenz, sieben Jahre als Botschafter in Deutschland, länger als im diplomatischen Dienst «üblich» - was wird aus Ihrer Sicht von der «Ära Stein» bleiben?
Man darf die Rolle eines Botschafters nicht überbewerten. Ein Botschafter ist, wie der Name schon sagt, jemand, der eine Botschaft übertragen muss, insofern gestalte ich die deutsch-israelischen Beziehungen nicht, sondern versuche, einen Beitrag dafür zu leisten, die Botschaften der israelischen Regierung zu erläutern. Daher scheint mir der Begriff einer «Ära Stein» zu bombastisch.
Welche Botschaften hat ein israelischer Diplomat gegenwärtig in Deutschland zu erläutern?
Das sind ganz vielfältige. Sie beginnen in der Politik, gehen durch die Wirtschaft und Wissenschaft, den Jugendaustausch und die Kultur - das sind die Botschaften eines Landes. Diese Multidimensionalität den Deutschen zu vermitteln, die deutsche Öffentlichkeit aufzuklären, das war hier meine Aufgabe.
Die deutsch-israelischen Beziehungen sind einzigartig, eingebettet in eine traumatische Geschichte, getragen von einer deutschen Politik, die diese Beziehungen im Laufe der Jahre als besondere anerkannt hat.
Die Beziehungen haben also eine Vergangenheit, sie haben eine zentrale Säule, die wichtig ist, um Dinge im richtigen Kontext zu sehen, um zu verstehen, warum unsere Beziehungen sind, wie sie eben sind, also nicht «normale» Beziehungen. Dabei sollte jedoch nichts überdramatisiert werden.
Wenn wir die historische Säule verlassen, ist es meine Aufgabe, die deutsche Öffentlichkeit über die Zwänge der israelischen Politik aufzuklären, die dazu führen können, auch solche Maßnahmen treffen zu müssen, die im Ausland nicht immer verstanden werden - eine durchaus anspruchsvolle und komplizierte Aufgabe für israelische Botschafter weltweit.
Gab es in Ihrer Amtszeit Botschaften, die Sie mit besonderer Sorge überbringen mussten, bei denen Sie auf deutscher Seite vielleicht sogar auf Konfliktpotential gestoßen sind?
Konfliktpotential entsteht durch Mangel an Information und der unzureichenden Fähigkeit von Menschen, sich in die Lage anderer Menschen und anderer Gesellschaften hineinzuversetzen. Es ist eine schwierige Mission, klar zu machen, was es 59 Jahre nach der Gründung der Staates Israel für uns bedeutet, in einer existentiellen Gefahr zu leben, nicht überall anerkannt zu werden, die Notwendigkeit zu haben, uns verteidigen zu müssen: Das sind Erfahrungen, die in Deutschland in diesem Ausmaß seit dem letzten Weltkrieg noch nie gemacht worden sind. Zu erklären, unter welchen Zwängen Israel zu agieren hat, ist also nicht immer leicht.
Welche Konfliktpotentiale sehen Sie aktuell im deutsch-israelischen Verhältnis?
Lassen Sie uns eher von den Potentialen sprechen! Ich sehe in den deutsch-israelischen Beziehungen im Rahmen der Globalisierung viel eher Chancen als Konflikte.
Die Globalisierung ist eine riesige Herausforderung für Israel, für Deutschland ebenso. Sie hat zwei Dimensionen: eine negative, entstanden mit der wachsenden Bedrohung durch den weltweiten Terrorismus und den radikalen Islam, durch das Streben von Staaten und Terrororganisationen nach nichtkonventionellen Waffen. Das ist eine Bedrohung für uns alle, die nur gemeinsam bekämpft werden kann. Die Zeiten, in denen Staaten mit Problemen alleine fertig werden konnten, sind weitgehend vorbei.
Die positive Seite der Globalisierung, die Potentiale, die sich dadurch auftun, vor allem in der Wirtschaft, gilt es nun auszuloten. In Ländern wie Deutschland und Israel, die über keine Rohstoffvorkommen verfügen und auf Forschung und Innovation angewiesen sind, ergeben sich vielfältige gemeinsame Möglichkeiten für Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung, einander zu ergänzen. Dabei gilt es, dafür zu sorgen, die Beziehungen dynamisch, immer wieder neu, zu definieren.
Nur wer sich ändert, bleibt sich treu. Unsere Vergangenheit ist eine zentrale Basis, aber sie reicht nicht aus und ist nicht alles, um unsere Beziehungen zu gestalten und weiter zu entwickeln.
In einem Interview vor zwei Jahren mit uns haben Sie gesagt, die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern seien von einer «gewissen Schizophrenie» geprägt. Hat sich das geändert, relativiert?
Ich habe damals im Gespräch mit Ihnen auch von Ambivalenz gesprochen, entstanden durch die Geschichte, die uns in tragischer Weise verbindet. Auch wenn nun zwei Jahre vergangen sind, sehe ich, dass diese Ambivalenz sich nicht verändert hat. Es gibt den Schatten der Vergangenheit, der Deutschland aus eigenem Antrieb dazu verpflichtet, unsere Beziehungen als moralisch-historische zu betrachten und dementsprechend diese Aussage auf sich zu beziehen - das ist keine israelische, sondern eine rein deutsche Entscheidung.
Und die andere Seite: Neben dem Schatten gibt es auch Licht und das sind die positiven Seiten unserer Beziehungen, vielfältiger als vor zwei Jahren. Wir können inzwischen auf mehr als vierzig Jahre diplomatischer Beziehungen zurückblicken, die im Laufe der Zeit gewachsen sind. Wenn man zurückblickt, sind wir einen großen Weg vorangekommen!
Bei diesem gemeinsamen Weg mussten Sie in unserem Gespräch vor zwei Jahren einen großen Unterschied machen: Gewachsene Beziehungen und positive Entwicklungen in den «alten» Bundesländern - hingegen Unkenntnis über Israel und sich verstärkender Antisemitismus in den «neuen». Wie haben sich die «neuen» Bundesländer in den Jahren Ihrer Amtszeit in Bezug auf Israel entwickelt?
Sehr positiv! Sehr viel haben wir dazu beitragen können, sehr viel haben die jeweiligen Landeszentralen für politische Bildung in den «neuen» Bundesländern selbst geleistet. Es hat sich ein reger Austausch mit Israel entwickelt, denken Sie an die politischen Kontakte im Rahmen der Besuche der Ministerpräsidenten von Sachsen, Thüringen und Brandenburg. In Wirtschaft und Forschung sehen wir viele positive Entwicklungen, darüber hinaus ist etwa der Schüleraustausch enorm angestiegen, ebenso die kulturellen Kontakte.
Das ist die positive Seite. Dagegen steht, dass in drei deutsche Landtage im «Osten» Neonazis eingezogen sind - dazu muss sich die deutsche Gesellschaft Gedanken machen: Eine anwachsende Akzeptanz einer antidemokratischen, antitoleranten und antisemitischen Weltanschauung.
Ihr Bild von Deutschland ist sicherlich sehr viel differenzierter geworden. Was werden Sie nach Ihrer Rückkehr Ihren Landsleuten sagen können?
Ich sehe mich nicht als Kommentator der deutschen Innenpolitik. Aber was man generell über Deutschland sagen kann, ist ebenso erfreulich, wie banal: Das Land befindet sich in ständiger Veränderung! Ich kann die heutige Situation des vereinigten gut mit der des geteilten Deutschlands zu Beginn der 1980er Jahre vergleichen [Anm. d. Red: Shimon Stein war von 1980-1985 Botschaftsrat für politische Angelegenheiten an der Botschaft des Staates Israel in Bonn]. Viel hat sich in der Selbstwahrnehmung der Deutschen geändert, ihr Bezug zur eigenen Geschichte, zur eigenen Identität, ebenso die Bereitschaft der deutschen Politiker, internationale Verantwortungen zu übernehmen. Schließlich fand auch ein Generationswechsel statt. In Zeiten rasanter Entwicklungen der Medienlandschaft haben sich ebenso interessante Beziehungen zwischen Politik und Medien vollzogen.
Eine der größten Veränderungen im Rahmen Ihrer Amtszeit war der Wechsel von einer sozialdemokratisch geführten Regierung zu einer christdemokratisch dominierten. Welche Auswirkungen hat das auf das deutsch-israelische Verhältnis gehabt?
Ich sehe das etwas anders: Ich denke nicht, dass es eine weitgehend CDU-dominierte Politik geworden ist. Sie leben hier in einer «Großen Koalition», die von beiden großen Parteien getragen wird. Insofern glaube ich nicht, dass man von einem Paradigmenwechsel oder einer tektonischen Verschiebung sprechen muss.
Die deutsch-israelischen Beziehungen stehen im Großen und Ganzen im Zeichen der Kontinuität: Wenn Sie sich die verschiedenen deutschen Regierungen der letzten Jahrzehnte vor Augen halten, haben sich alle zum Existenzrecht Israels und zur Notwendigkeit der Verteidigung des Staates Israels bekannt. Ebenso haben sie als verlässliche Partner innerhalb der Europäischen Union immer versucht, israelische Positionen hervorzuheben, heute mehr denn je. Das hat schon die rot-grüne Koalition gekennzeichnet, das setzt sich jetzt auch in der «Großen Koalition» fort. Insofern sehe ich, was die Politik anbelangt, eine Konstante, eine Kontinuität.
Wie beurteilen Sie den Umstand, dass sich im Vergleich zum Vorjahr im Jahre 2006 etwa 50 Prozent mehr Israelis in Deutschland haben einbürgern lassen, also ungefähr 4.000 Menschen, was etwa dem 5. Platz an Einbürgerungen entspricht?
Israel ist ein Teil der globalen Welt. Menschen gehen, wohin Menschen gehen wollen. Wenn sie eine Arbeit als Analyst oder Computerfachmann haben, nehmen diese Menschen ihren Laptop und machen eben ein Büro in Berlin auf. Wir müssen dieses «Phänomen» etwas gelassener betrachten, man sollte es nicht zu einem Politikum stilisieren! Auch aus Deutschland wandern heute viel mehr Menschen aus, etwa in die Schweiz oder nach Australien.
Heimat bleibt, was Heimat ist. Auch für alle, die sich jetzt einen Pass besorgt haben, bleibt Israel weiterhin die Heimat. Für mich kommt es darauf an, welchen Ort Menschen als ihre Heimat betrachten. Den Ort, an dem sie leben, müssen sie nicht als Heimat ansehen! Auch das ist ein Teil der Globalisierung, reduzieren wir das nicht nur auf den Warenaustausch.
Begriffe, mit denen ich noch aufgewachsen bin - wo man geboren ist, wird man arbeiten, ein Leben lang bleiben und schließlich auch beigesetzt werden - sind heute eher temporär und in ständiger Veränderung zu verstehen. Genau so verstehe ich auch die Frage, dass diese Israelis sich entschieden haben, nicht mehr in Israel leben zu wollen. Es gibt Menschen, die sehr mikroskopisch auf uns schauen und meinen, hier bahne sich eine Entwicklung an. Ich sehe das nicht so!
Vor wenigen Jahren hätte jemand, der aus Israel ausgerechnet nach Deutschland auswandert, noch riskiert, dass sein Nachbar nicht mehr mit ihm spricht...
Heute sehen wir das entspannter und gelassener! Das ist doch auch ein gutes Zeichen: In ein anderes Land gehen zu können, ohne das man verbannt oder kritisiert wird.
In den letzten Tagen ist die Arbeitsaufnahme der Organisation «Nativ» in Deutschland durch die Medien gegangen, die sich mit der gezielten Werbung zur Auswanderung nach Israel gegenüber Juden aus den ehemaligen Staaten der GUS befasst.
Die offiziellen Vertreter der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland fühlen sich in diese Entscheidung nicht einbezogen.
Nichts wird hier geschehen, ohne dass die jüdische Gemeinschaft voll einbezogen und bereit ist, Entscheidungen mitzutragen. Ich bin entschieden gegen Entwicklungen, die die jüdische Gemeinschaft in Deutschland betreffen, ohne Einbeziehung der Gemeinden. Das war hier nicht der Fall - die jüdische Gemeinschaft war über die Entscheidung der israelischen Regierung informiert und hat auch ihren Beitrag zur Ausgestaltung dieser Entscheidung geleistet.
Juden aus der ehemaligen Sowjetunion gilt es zu integrieren, deren jüdische Identität aufzubauen oder aufrechtzuerhalten und dadurch auch Israel für sich zu entdecken. Durch das Bewusstsein über die eigenen Wurzeln kommt man auch zur Rolle, die der Staat Israel in der heutigen Welt einnimmt. So ist die Entscheidung der israelischen Regierung begründet, zusätzliche Anstrengungen in diesem Sinne zu unternehmen. Wir, als Staat der Juden, der großes Interesse an der Bewahrung jüdischen Lebens hat, wollen bei dieser anspruchsvollen und schwierigen Aufgabe mithelfen. Aber nichts wird - weder in Deutschland noch anderswo auf der Welt - ohne die jüdischen Gemeinschaften getan, denn wir arbeiten nicht gegen, sondern für eine gemeinsame Sache.
Die jüdische Zuwanderung aus den ehemaligen Sowjetrepubliken verläuft ja nicht ganz problemlos. Stichwort: Mangelnde Anerkennung von Berufsabschlüssen. Wenn wir das in einen Zusammenhang mit der Aufgabe von «Nativ» bringen, könnte der Eindruck entstehen, dass Israel auf jene hochqualifizierten Zuwanderer aus ist, die in der deutschen jüdischen Gemeinschaft kein Zuhause gefunden haben. Ist das so eine Art «Rettungsaktion»?
Wir verstehen uns als zionistischer Staat und als solcher bleibt es ein Primat, Juden, wo immer sie sind, zum Nachdenken darüber anzuregen, sich in Israel niederzulassen. Das war, ist und bleibt unsere Aufgabe. «Nativ» betreibt keine eigenständige Politik, sie ist ein Instrument unserer Regierung mit langjährigen Erfahrungen im Umgang mit Juden aus der ehemaligen Sowjetunion. Wir hoffen durch diese Erfahrungen, auch die Sprachkenntnisse der Mitarbeiter, ein besseres Verständnis dieser Menschen, insbesondere der ersten Generation, für jüdische Belange entwickeln zu können. Als Botschaft, übrigens gemeinsam mit der Jewish Agency, die über ähnlich positive Erfahrungen verfügt, hoffen wir, diese Menschen ansprechen zu können, die längst nicht alle in den jüdischen Gemeinden integriert sind. Es soll also auch unser Ziel sein, jenen Juden, die nicht integriert sind, auf dem Weg zur eigenen Identität zu helfen. Das alles ist im Einklang mit unserer zionistischen Aufgabe zu sehen. Selbst diejenigen, die entschieden haben, sich nicht in Israel niederzulassen, wollen wir darin unterstützen, ihr Judentum beizubehalten und für sich selbst und ihre Kinder den Kontakt zu Israel zu halten.
Warum funktioniert die Integration von Juden aus den GUS-Staaten in Israel wesentlich besser, als hierzulande?
Deutschland ist kein typisches Einwanderungsland und hat noch immer Schwierigkeiten bei der Integration von Nichtdeutschen. Das wird Deutschland auch wohl noch eine Weile so begleiten. Es empfinden nicht nur Juden Schwierigkeiten bei der Aufnahme in diese Gesellschaft.
Israel ähnelt da mehr den Vereinigten Staaten und ist ein Einwanderungsland mit fast 60-jähriger Erfahrung. In einem Land ohne Antisemitismus, wo man sich zu Hause fühlt, wo die Gesellschaft darauf eingestellt ist, Menschen zu integrieren, kann man besser ankommen.
Wir wollen aber nicht den Eindruck erwecken, dass Integration in Israel immer völlig konfliktfrei verläuft. Integration ist eine dauerhafte Aufgabe, deren Erfolg sich nicht in Monaten oder Jahren messen lässt. Aber die Voraussetzungen, das Grundverständnis, unterscheiden sich wesentlich von Deutschland.
Wie hat sich die jüdische Gemeinschaft in Deutschland entwickelt, auch im Vergleich zu Ihrer Tätigkeit in den 1980er Jahren in Bonn? Kann man von einem deutschen Judentum sprechen - oder muss man sich den zuweilen geäußerten Vorwurf gefallen lassen, ein postsowjetisch definierter Kulturverein zu sein?
Verglichen mit den 1980er Jahren hat sich die jüdische Gemeinschaft in Deutschland durch den gewaltigen Zuzug von Juden aus den GUS-Staaten total verändert. Wenn man sagen kann, dass die deutsch-israelischen Beziehungen im Zeichen der Kontinuität stehen, muss man feststellen, dass die Gemeinden mehr von Wandel als von Kontinuität gezeichnet sind. Die Zuwanderer bringen ganz selbstverständlich ein Stück Lebenserfahrung mit, das nicht zwangsläufig mit der Biographie jener Juden deckungsgleich ist, die unmittelbar nach dem Krieg in Deutschland die Gemeinden aufgebaut haben, erst recht nicht in der 2. Generation. Was sich aus dieser Zeit des Umbruchs entwickeln wird, auch erst in zehn oder zwanzig Jahren, bleibt abzuwarten. In keinem Fall wird es das sein, was es unmittelbar nach dem letzten Weltkrieg war, erst recht nicht das, was es noch davor gewesen ist.
Wenn Sie in Tel Aviv oder Jerusalem über die Straße gehen, hören Sie sehr viel Russisch. Gibt es aktuelle Überlegungen in der Politik Ihres Landes, ähnlich den gegenwärtigen in Deutschland, die Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion zu kontingentieren oder mit neuen Bedingungen zu versehen?
Nein, in keiner Weise, warum sollten wir so etwas tun!
Wie bewerten Sie dann die neuen Zuwanderungsregelungen in Deutschland, beispielsweise den Zwang, sich über die Zentralwohlfahrtsstelle einer Gemeinde anschließen zu müssen?
Das ist kein Zwang! In Deutschland leben informell schätzungsweise zehntausende Emigranten, deren Abstammung zwar jüdisch ist, die sich aber keiner jüdischen Religionsgemeinschaft angeschlossen haben. Das muss man nur dann, wenn man Anspruch auf soziale Hilfeleistungen stellt. Wenn jemand nach Deutschland kommt, die Sprache beherrscht, einen Beruf hat, eine Arbeit findet, dann stellt sich zusätzlich noch die Frage: Will ich eingebunden sein in eine Gemeinde oder habe ich entschieden, dass jüdisches Leben für mich zweitrangig ist und tue ich so, als habe ich keine jüdische Identität. Es ist die Entscheidung eines jeden Einzelnen, inwieweit sich die Bewahrung der jüdischen Identität nur in einem größeren Rahmen gestalten lässt oder mit einer Identität zurechtzukommen, ohne Mitglied in einer Gemeinde zu sein. Die Gemeindemitgliedschaft ist auch ein Bekenntnis, das hat Privilegien, das ist ebenso mit Pflichten verbunden. Diejenigen, die außerhalb der Gemeinden leben, haben vorläufig eine Entscheidung für sich getroffen, die ich persönlich bedauere.
Der Privatmann Shimon Stein: Gibt es einen Ort in Deutschland, von dem oder an dem Sie Abschied von Deutschland nehmen werden?
Es gibt keinen privaten Abschied. Ich nehme Abschied als Funktionsträger. Das 19. Jahrhundert liegt hinter uns - ich habe vorhin von Globalisierung gesprochen: Wenn man so stark einer Kultur verbunden ist, wie ich der deutschen, so wird der Privatmann Shimon Stein oft den Weg nach Deutschland finden, um weiterhin die Kultur zu genießen oder frei von offiziellen und Sicherheitszwängen zum Beispiel die Landschaft noch besser kennenzulernen.
Vor zwei Jahren haben Sie im Interview mit uns gesagt: «Ich gehe mit Genugtuung nach Hause. Deutschland war für mich zweifellos der Höhepunkt meiner diplomatischen Laufbahn»...
... und ich bleibe bei meiner Aussage! Deutschland war die Krönung meiner beruflichen Laufbahn. Ich habe meine persönliche «Wunschliste» erfüllt, über alles andere denke ich in diesen Tagen intensiv nach. Ich weiß noch nicht, wohin mich mein Weg nach Ende meiner Dienstzeit in Berlin Ende September dieses Jahres führen wird.
«
Jüdische Zeitung», September 2007