Das Projekt der integrativen Gesellschaft:
Lehren aus dem 19. Jahrhundert
Der im Frühjahr 2005 ausgeschriebene 'Exzellenzwettbewerb' der
Landesregierung NRW unter dem Titel Geisteswissenschaften gestalten
Zukunftsperspektiven artikuliert nicht nur "ein starkes
öffentlich-politisches Interesse an der geistes- und
kulturwissenschaftlichen Forschung in Nordrhein-Westfalen", sondern
verbindet auch "die Chance zur Finanzierung anspruchvoller Projekte mit
einem Wettbewerb um Ideen und Konzepte, der zur Verbesserung von
Präsentation und Position der geistes- und kulturwissenschaftlichen
Forschung anregt".
Die gemeinsame Bewerbung des Salomon Ludwig
Steinheim-Instituts für Jüdische Studien (Duisburg) und des
Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS) war
erfolgreich. Eine vom Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) in Essen
eingesetzte internationale Jury wählte unter 161 eingereichten Anträgen 28
Projekte der Geistes- und Kulturwissenschaften aus den
nordrhein-westfälischen Hochschulen aus, von denen wiederum 16 Projekten
eine Vollförderung zuerkannt wurde. Unter letzteren ist auch das von DISS
und Steinheim-Institut gemeinsam konzipierte, diskurshistorische Vorhaben
mit dem Titel Staat, Nation, Gesellschaft: Das jüdische Projekt der
integrativen Gesellschaft im 19. Jahrhundert und seine Bedeutung für
Gegenwart und Zukunft.
Bis Dezember 2006 wird sich das beim DISS angesiedelte
Forschungsteam mit der Aufgabe beschäftigen, einen bisher in dieser Weise
noch nicht beachteten Strang der deutschen Diskursgeschichte aufzuarbeiten.
Denn insbesondere deutsch-jüdische Autoren haben sich in den Debatten des
19. Jahrhunderts um die nationale und gesellschaftliche Zukunft Deutschlands
für eine zivile und weltoffene deutsche Gesellschaft eingesetzt. Gegen
ein oft erbittertes Klima aus Judenfeindschaft, völkischem Nationalismus und
reaktionärem Obrigkeitsstaat entwickelten sie nicht nur Vorstellungen einer
modernen integrativen Gesellschaft, sondern erhofften sich deren
Verwirklichung trotz aller Rückschläge insbesondere von der deutschen
Kultur. Gradmesser sollte dabei das Verhältnis zu Minderheiten und dabei vor
allem zur jüdischen Minderheit sein.
Das Projekt führt, gerade weil es sich der optimistischen,
konstruktiv-visionären Perspektive der Autoren stellt, zugleich heran an den
Zustand der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die auf diesen Optimismus oft
mit Desinteresse, spätestens seit der Reichsgründung aber mit beispiellosen
antisemitischen Kampagnen antwortete: Das Jahr 1933 war nicht das plötzliche
Ende eines zuvor intakten jüdisch-nichtjüdischen Verhältnisses in
Deutschland. Das Projekt versteht sich insofern auch als Beitrag zu einer
fälligen, umfassenderen geschichtlichen Aufarbeitung des Unrechts, indem es
zumindest heute den Beitrag annimmt, den deutsche Juden zur anderen, zur
zivilgesellschaftlichen deutschen Identität beisteuerten.
Die Fragen, die im 19. Jahrhundert aus jüdischer
Perspektive an die Mehrheitsgesellschaft gerichtet wurden, lenken aber auch
in anderer Hinsicht den Blick in die Gegenwart und in die Zukunft – das
heutige Verhältnis der Mehrheitsgesellschaft zu Judentum und jüdischer
Identität in Deutschland erfährt vor dem Hintergrund der Shoah ein ganz
besonderes Gewicht, als Indikator für einen gesellschaftlichen
Lernprozesses, der nicht mehr hintergehbar ist.
Als Grundlage der Projektarbeiten ist exemplarisch der
Zeitraum zwischen 1848 und 1871 ausgewählt worden. Über 300
Druckschriften werden diskurshistorisch unter der Fragestellung
untersucht, welche Entwürfe zu Staat, Nation und Gesellschaft
deutsch-jüdische Autoren in die öffentliche Diskussion einbrachten. Neben
vielfältigen, bisher unbekannten geschichtlichen Details werden Umrisse
eines Konzepts von "integrativer Gesellschaft" erwartet, in dessen Mitte
nicht zuletzt das christlich-jüdische Verhältnis steht.
Technische Basis ist die Digitalisierung im OCR-Verfahren
(optical character recognition): Das meist in gebrochenen Schrifttypen (in
Fraktur) vorliegende Textmaterial wird elektronisch in Antiqua eingelesen.
Dies ist nicht nur Voraussetzung für die diskursanalytische
Textuntersuchung, sondern eröffnet zugleich auch die Perspektive einer
gedruckten oder online veröffentlichten Quellenedition der Texte. Da viele
der Druckschriften in nationalen und internationalen Bibliotheken nur noch
in Einzelexemplaren und in oft sehr prekären Zustand erhalten sind, ist dies
auch ein Beitrag zum Erhalt eines wichtigen kulturellen Erbes.
Das Projekt wird unter dem Dach der Universität
Duisburg-Essen von Prof. Michael Brocke (Salomon Ludwig Steinheim-Institut
für Jüdische Studien, Duisburg) und Prof. Siegfried Jäger (DISS) geleitet.
Die Projektkoordination liegt bei Dr. Jobst Paul (DISS). Dem Forschungsteam
gehören darüber hinaus Dr. Margarete Jäger, Iris Tonks, Hacer Ucar und
Daniela Hellbach an.
Kirche und Synagoge:
Die Dresdner Frauenkirche sollte ein Mahnmal bleiben
Das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung erinnert aus
Anlass der Einweihung der Dresdner Frauenkirche an die Entstehung der
jüdischen Gemeinde in Dresden und an die Jahre der Erbauung der
Semper-Synagoge zwischen 1838 und 1840, eines Kleinods, das in der
Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 in Flammen aufging...
Weitere Informationen:
http://www.hagalil.com/archiv/diss/index.htm
http://www.diss-duisburg.de/
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