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Zum Thema:
Entschädigung für NS-Zwangsarbeiter
Veranstaltung am 30. November 1999 um 19.00 Uhr
in der Marktkirche Hannover

Entschädigung für NS-Zwangsarbeiter - ist Versöhnung käuflich? Darüber stritten in der Talkshow "Tacheles - Talk am roten Tisch" die Bischöfin der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, Margot Käßmann, mit Wolfgang Gibowski, Sprecher der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft, und Felix Kolmer, der als einziger früherer Zwangsarbeiter an den internationalen Verhandlungen über Entschädigung beteiligt ist.

Mit am roten Tisch in der dichtgefüllten Marktkirche von Hannover saßen die FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher, der Chefhistoriker der Deutschen Bank, Manfred Pohl, und der Auschwitz-Überlebende Hans Frankenthal (Portait).

Die Debatte am roten Tisch

Herr Frankenthal, Sie waren KZ-Häftling in Auschwitz und haben die Zwangsarbeit bei der IG Farben überlebt. Jetzt sollen die NS-Zwangsarbeiter entschädigt werden, ist das für Sie ein gutes Zeichen?

Hans Frankenthal:
Nein, es ist beschämend für Deutschland, dass man erst jetzt darüber spricht. Die deutsche Industrie ist doch mit schuldig am Zweiten Weltkrieg, sie hat Hitler finanziell geholfen, zum Beispiel die IG Farben mit einer Milliarde Mark. Ohne diese Unterstützung wäre Hitler nie an die Macht gekommen.

1943 kamen Sie nach Auschwitz, wurden von dort abkommandiert in die Buna-Werke und mussten Zwangsarbeit leisten nach dem SS-Motto "Vernichtung durch Arbeit". Wie ist es Ihnen da ergangen?

Frankenthal:
Wir kamen auf der Rampe an und verloren sofort unsere Eltern. Mir gelang es, zum Arbeitseinsatz bei den Buna-Werken zu kommen. Dort baute der IG-Farben-Konzern ein eigenes Konzentrationslager. 30 000 Menschen sind hier durch Arbeit umgekommen. Ich habe erlebt, wie SS-Führer Heinrich Himmler und ein leitender Ingenieur der IG Farben zusammenstanden. Sie zeigten auf einen jüdischen Arbeiter, der ihnen zu langsam arbeitete, und befahlen, ihn anzutreiben. Das Antreiben endete nach drei Stunden mit seinem Tod.

Wie können Sie mit diesen Erinnerungen weiterleben?

Frankenthal:
Wir mussten weiterleben. Deshalb haben wir genauso wie die Täter verdrängt. Aber nach einer gewissen Zeit kann man nicht mehr verdrängen. Dann kommt einem die Geschichte nachgelaufen. Ich habe erst sehr spät angefangen, über diese Zeit zu reden. Nur durch Reden kann ich leben.

Herr Gibowski, glauben Sie als Sprecher der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft, dass die Betroffenen noch in diesem Jahr eine späte Entschädigung erhalten?

Wolfgang Gibowski:
Mit Sicherheit nicht, das ist rein technisch unmöglich. Das Geld ist noch gar nicht da, die Verteilungswege sind kompliziert. Es könnte in diesem Jahr allenfalls eine Übereinkunft geben.

In der Präambel der Stiftungsinitiative heißt es, Verfolgung und Zwangsarbeit seien vom NS-Staat ausgegangen. Wo bleibt da die Verantwortung der einzelnen Unternehmer?

Gibowski:
Wir wissen heute, dass Unternehmer mitgemacht haben, dass ihnen Zwangsarbeiter nicht aufgedrängt wurden. Aber in Präambeln deutscher Stiftungen schreibt man immer würdevolle Sätze, da passt ein Satz, wie Sie ihn erwarten, nicht hinein.

Weiter heißt es, Rechtsansprüche von Zwangsarbeitern gegen deutscher Unternehmer bestünden nicht. Entschädigungen seien eine rein humanitäre Geste.

Gibowski:
Dies ist die Auffassung der deutschen Wirtschaft, gestützt durch das Völkerrecht und durch die Gerichte. Die Ansprüche der Zwangsarbeiter, so gerechtfertig sie sind, so schlimm ihr Schicksal war, gelten völkerrechtlich als Reparationsforderungen. Die sind 1953 im Londoner Schuldenabkommen ausgeschlossen worden, mit Zustimmung der Westalliierten und mit breiter Zustimmung des Bundestages.

Felix Kolmer:
Das ist falsch. Das Londoner Schuldenabkommen von 1953 hat die Entschädigungen auf eine Zeit verschoben, in der Deutschland wirtschaftlich wieder auf der Höhe wäre. Mit dem Abschluss eines Friedensvertrages gilt dieses Abkommen nicht mehr, und als Friedensvertrag gilt der Vertrag zur deutschen Einheit von 1990. Seitdem kommen immer mehr Klagen. Wir wollen keine milde Gabe, sondern wir haben das Recht auf unserer Seite.

Margot Käßmann:
Freiwillig hört sich so gönnerhaft an, als ob etwas zugestanden würde, worauf gar kein Anspruch besteht. Aber keiner dieser jungen Menschen hat dort freiwillig gearbeitet, sondern sie sind gezwungen worden. Mir flößt jede Firma, die sich öffentlich dieser Geschichte stellt, mehr Respekt ein als eine Firma, die sich vor dieser Verantwortung drückt.

Manfred Pohl:
Aus der Forschung wissen wir heute genau, dass fast alle Firmen im Dritten Reich Zwangsarbeiter hatten. Wenn man die Unternehmen bis in den Mittelstand zählt, dürfte die Zahl bei 5000 liegen. Man muss jetzt schnell zahlen an die Menschen, die heute noch leben, damit sie das Geld noch bekommen. Auch dieses öffentliche Gefeilsche muss aufhören.

Kolmer:
Nur zu sagen, macht Schluss mit den Forderungen, weil die Leute sterben, ist ein Druckmittel der Industrie, damit wir das annehmen, was sie uns anbietet. Das lehne ich als Vertreter der tschechischen Regierung an den internationalen Verhandlungen ab.
Es gibt ja die biblisch überlieferte Tradition, dass religiös begabte Männer und Frauen den Mächtigen Druck gemacht haben, die an moralischen Fragen scheiterten. Warum hat sich die Kirche bislang so zögerlich verhalten, in dieser Frage auf Unternehmer zuzugehen?

Käßmann:
Wir haben uns in der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland dazu geäußert, und vor Ort haben sich viele engagiert. Aber vielleicht haben wir an manchen Punkten zu spät gesehen, was vor sich geht. Das prophetische Mahnen gehört dazu. Darum diskutieren wir jetzt auch dieses Thema.

Hildegard Hamm-Brücher:
Seit Ende des Krieges ist jede Diskussion um Wiedergutmachung so mühsam und kleinkariert gewesen. Die ersten Wiedergutmachungsgesetze waren so diffamierend für die Betroffenen, dass sie schon in der zweiten Legislaturperiode des Bundestages überarbeitet werden mussten. Es war ein Skandal von Anfang an.

Welche Bedeutung hat Geld für die Wiedergutmachung?

Frankenthal:
Wiedergutmachung ist ein schreckliches Wort, denn das, was geschehen ist, kann man nicht wiedergutmachen. Und ganz bestimmt nicht mit Geld.

Kolmer:
Aber Menschen können nicht würdig leben, wenn sie kein Geld für den Arzt haben oder am täglichen Brot sparen müssen. Jeder kleine Wirt macht eine Rechnung. Um die Zukunft zu gewinnen, müssen wir uns der Vergangenheit stellen. Dazu gehört, die Rechnung für die Zwangsarbeit zu begleichen, damit es in der Zukunft ein gutes Zusammenleben mit Deutschland geben kann.

Käßmann:
Jede Summe wird nur einen symbolischen Wert haben, weil es keine Wiedergutmachung gibt. Wenn ich aber höre, dass im Schnitt nur 3000 Mark für jeden Überlebenden zusammenkommen, finde ich das unwürdig.

Gibowski:
Schon mit dem Betrag von sechs Milliarden, den wir vorgesehen hatten, hätten wir allen KZ-Zwangsarbeitern mindestens zehntausend Mark geben können und den anderen um die dreitausend Mark. Wir dürfen das Geld nicht nach deutschen Maßstäben beurteilen. Ich würde niemandem raten, diesen Gedanken zu Ende zu denken, was es in Russland bedeutet, jemandem zehntausend Mark in die Hand zu geben.

Kolmer:
Es kann doch nicht sein, dass die Menschen, die im Osten leben, weniger bekommen als jene, die in Amerika leben. Himmler hat die Menschen in Kategorien eingeteilt. Sind wir jetzt wieder bei den Kategorien? Dass die Russen nur einen Bruchteil davon bekommen, was die Menschen im Westen erhalten?

Hamm-Brücher:
Die Wirtschaft blamiert Deutschland mit dieser Haltung in der ganzen Welt.

Nach den Protesten von Umweltschützern auf der Ölplattform Brent Spar kündigte Shell in ganzseitigen Anzeigen reumütig an, "wir werden uns ändern". Ähnlich entschuldigte sich die Telekom nach Pannen bei der Gebührenabrechnung. Warum sind Unternehmen heute nicht bereit, in ähnlicher Form ihre Schuld gegenüber den Zwangsarbeitern einzugestehen?

Gibowski:
Die Wirtschaft gesteht doch mit der Stiftungsinitiative ihre Schuld ein und erkennt ihre moralische Verpflichtung ein.

Pohl:
Einige Unternehmen haben sich bekannt, und die sind nicht gut behandelt worden, wenn ich an die Anzeigen in US-amerikanischen Blättern denke, zum Beispiel gegen Bayer. Aber mir wird einfach zu viel über Geld geredet. Ich habe große Angst, dass dieses öffentliche Gefeilsche den unterschwelligen Antisemitismus schürt.

Frankenthal:
Weil in der Öffentlichkeit immer gesagt wird, jetzt verlangten die Juden wieder Geld. Dabei sind nur etwa ein Neuntel der Betroffenen Juden. Ich rede in vielen Schulen, und ich appelliere an die Jugend, sorgt dafür, dass es nicht wieder passiert. Ich bin fest davon überzeugt, dass die heutige deutsche Jugend nicht wieder zulässt, was die Großväter für Verbrechen begangen haben.

Was muss geschehen, um Versöhnung über die Gräben hinweg zu erreichen?

Käßmann:
Versöhnung kann nur ein Angebot derer sein, die Opfer waren. Dazu aber ist nötig, dass die Opfer reden können und ihnen zugehört wird, und dass die Schuldigen ihre Schuld bekennen. Meine Generation hat die Väter und Mütter gefragt, wie konnte das passieren. Meine Kinder werden mich fragen, warum wurden die Zwangsarbeiter nicht entschädigt, noch nicht einmal Ende der neunziger Jahre. Das finde ich beschämend für uns alle.

Nachtrag: Kurz vor Jahresende 1999 einigten sich die Vertreter der Opfer, Bundesregierung und Wirtschaft auf eine Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter in Höhe von zehn Milliarden Mark. Für Hans Frankenthal, ehemals Sklavenarbeiter bei der I.G. Farben in Auschwitz, eine späte Genugtuung. Tacheles war sein letzter großer öffentlicher Auftritt.
Am 22. Dezember 1999 starb der 72-Jährige an Krebs.

Quelle: www.tacheles.net

haGalil 23-11-99

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