Von Evelyn Adunka
Die Geschichte der kleinen jüdischen Gemeinde von Zürich ist in
vielen Aspekten noch unerforscht. Karin Huser Bugmann beschrieb in ihren
Buch, das auf eine Dissertation zurückgeht, erstmals die Geschichte der
ostjüdischen Einwanderer nach Zürich, also jene rund 1000 Personen, die bis
1939 die Einbürgerung erhielten.
Im Gegensatz zu Deutschland oder Österreich gibt es in Zürich keine
Einheitsgemeinde. Die jüdische Bevölkerung der Stadt ist in vier
Einzelgemeinden gespalten, die moderat orthodoxe Israelitische
Cultusgemeinde, zwei streng orthodoxe Gemeinden, von denen eine auf die
ostjüdischen Zuwanderer zurückgeht, und die liberale Gemeinde Or
Chadasch. Zwischen den Mitgliedern der einzelnen Gemeinden, also auch
zwischen den Ostjuden und den "Schweizerjuden", gab es in der Regel nur
wenige Kontakte.
Einige ostjüdische Einwanderer wurden sehr bekannte Persönlichkeiten,
wie der Maler Wladimir Sagal und sein Bruder, der Journalist Benjamin
Sagalowitz oder der Flimproduzent Lazar Wechsler. Einige gingen sogar in
die Politik. Der in Warschau geborene Rechtsanwalt David Farbstein war
als führender Zionist einer der Organisatoren des ersten
Zionistenkongresses in Basel. Als sozialdemokratischer Nationalrat stand
er den Zuwanderern auch als Rechtsberater zur Verfügung und protestierte
gegen die vielen Ausweisungen. Der zweite Ostjude, der ein prominenter
Politiker wurde, war der aus der Ukraine stammende Historiker Valentin
Gitermann, der eine Geschichte der Schweiz und eine Geschichte Rußlands
verfaßte und gleichfalls sozialdemokratischer Nationalrat wurde.
Die Geschichte der vielen ostjüdischen Studentinnen in Zürich - auch
die erste Schweizer Universitätsprofessorin war die ostjüdische Ärztin
Lina Stern - wird in dem Buch leider nur gestreift. Sie wäre das Thema
einer eigenen Arbeit, die hoffentlich noch geschrieben oder
veröffentlicht werden wird.
In einem eigenen Kapitel beschreibt die Autorin die Vereinsgründungen
der ostjüdischen Zuwanderer. Erstaunlich ist allerdings die überaus
schlechte Quellenlage in einer Stadt, die nie von Krieg oder äußeren
Katastrophen heimgesucht war. Bugmann stützte sich in ihrer Arbeit vor
allem auf die systematische Auswertung der Stadtratsprotokolle. Die
Frage bleibt daher, ob es auch eigene jüdische Archive gibt, und wieweit
diese benutzt wurden oder einsehbar sind. An einer Stelle schreibt sie
folgenden Satz: "Was die erwähnten Schriftsteller geschrieben und wo sie
publiziert haben, geht aus den Akten zu den Stadtratsprotokollen nicht
hervor." Es ist bedauerlich, daß die Autorin es verabsäumte. wie es den
Anschein hat, in diesen Fällen auch in der hervorragenden Biblithek der
Cultusgemeinde oder der Zentralbibliothek zu recherchieren.
Ein weiteres Kapitel widmet Bugmann dem Antisemitismus. Ein Schweizer
Kuriosum ist es in diesem Zusammenhang, daß das 1893 erlassene
Schächtverbot bis heute, mit der Ausnahme einer kurzen Zeit nach dem
Ersten Weltkrieg, in Kraft ist, wobei allerdings das Schächten von
Hühnern zugelassen ist.
Karin Huser Bugmann:
Schtetl an der Sihl.
Einwanderung, Leben und Alltag der Ostjuden in Zürich 1880-1939
Chronos Verlag, Zürich 1988, 303 S.